Sátántangó - Béla Tarr (1994)
Verfasst: Fr 22. Jan 2021, 13:38
Originaltitel: Sátántangó
Produktionsland: Ungarn/Deutschland/Schweiz 1994
Regie: Béla Tarr
Darsteller: Mihály Víg, Putyi Horváth, Peter Berling, László Fe Lugossy, Eva Almási Albert, Erika Bók, János Derzsi, Irén Szajki, Miklós B. Székely
Die komplette Laufzeit von SATANTANGO beträgt sieben Stunden und neunzehn Minuten. Für jemanden, der die 808 Minuten von Mariano Llinàs‘ LA FLOR sowie die 760 Minuten von Jacques Rivettes OUT 1: NOLI ME TANGERE durchgestanden hat, dürften die 450 Minuten, die Béla Tarr sein Opus Magnum dauern lässt, doch ein Kindergeburtstag sein, oder?
Bilder in tristem Schwarzweiß: Ein rurales Dorf irgendwo in Ungarn nach Fall des Eisernen Vorhangs. Menschen sind keine zu sehen. Fast scheint es, als ob die Apokalypse bereits stattgefunden und unsere Zivilisation mitgerissen hat. Dafür durften die Kühe überleben, die als herrenlose Herde durch die Kulisse eines heruntergewirtschafteten, schlammfeuchten, halbverfallenen Bauernhofs stapfen. Tänzerisch folgt ihnen die Kamera, immer nach links schwenkend, präzise, elegisch, wie ein Kreisel, der nur eine Richtung kennt. Fast zehn Minuten dauert dieser Schwenk, mit dem SATANTANGO eröffnet. Es ist eine von insgesamt lediglich einhundertfünfzig Einstellungen, aus denen der Film kompiliert ist. Wenn man seine Laufzeit durch die Zahl seiner Schnitte teilt, kann man zu dem berechtigten Eindruck gelangen, bei SATANTANGO würde es sich nicht unbedingt um ein Montagegewitter handeln.
Ein rurales Dorf irgendwo in Ungarn nach Fall des Eisernen Vorhangs. Vorbei sind die Zeiten, in denen man eine Kolchose gebildet hat. Der Sozialismus hat sich in eine Schlammlawine verwandelt. Es regieren Tristesse, Stumpfsinn, Alkohol, Armut. Man betrügt sich gegenseitig, indem man sich die Ehefrauen ausspannt – oder indem man plant, sich mit dem Geld aus dem Staub zu machen, das das Dorf einst im Kollektiv erwirtschaftet hat. Zeitgleich erwartet man die Ankunft des totgeglaubten Irimias wie die Wiederkehr eines Messias. Gerüchte wandern von Mund zu Mund: Irimias sei nicht nur noch am Leben, sondern befinden sich auf dem Weg in die Ortschaft. Grund genug für die Dorfgemeinschaft, sich vor dem pausenlos strömenden Regen in die Schenke zurückzuziehen, sich exzessiv zu betrinken, zu Akkordeonmusik zu tanzen – in der Hoffnung, sollte Irimias endlich im Türrahmen stehen, würde sich alles zum Besseren wenden.
Wahrscheinlich ist SATANTANGO gar nicht in der von Béla Tarr anvisierten Breite zu begreifen, wenn man sich bloß oberflächlich mit den tiefgreifenden Umwälzungen der sogenannten Ostblockstaaten Ende der 80er, Anfang der 90er auseinandergesetzt hat, wenn man nichts weiß darüber, wie der Alltag in solchen Kollektivfarmen vor und nach dem Tod des Sozialismus wirklich ausgesehen hat, wenn man keinen blassen Schimmer hat von den Umtrieben dessen, was von der kommunistischen Geheimpolizei zu diesem Zeitpunkt noch übriggeblieben ist. Wahrscheinlich ist SATANTANGO auch dann nicht zu begreifen, wenn man nicht versiert darin ist, nach mehr oder minder versteckten christlich-religiösen Bildern, Symbolen, Szenarien zu suchen, mit denen Béla Tarr seinen Film auf einer vagen metaphysischen Ebene platziert, die manchmal etwas von einem Marathon durch die Bücher des Alten und Neuen Testaments hat: Falsche Propheten; ein herbeigesehnter Erlöser; die Apokalyptischen Reiter; eine Märtyrerin mit reinem Herzen; ein Kätzchen, das gewissermaßen ans Kreuz geschlagen wird. Wahrscheinlich sollte man, um SATANTANGO begreifen zu können, den zugrundeliegenden Roman von László Krasznahorkai. gelesen haben, da Bela Tarr vieles bei bloßen Andeutungen belässt, manchen Szenen komplett eine Erklärung verweigert, die gesamte Geschichte sich in feinsten Nuancen entwickelt, sozusagen zwischen den Schnitten erzählt wird, auf eine asketische Art, auf die Robert Bresson stolz gewesen wäre – sofern denn der Roman überhaupt ein Mehr an Deutung liefert, und sich nicht ebenso in Worten erschöpft, die vieles sagen, ohne irgendetwas konkret zu benennen.
Was genau der Trickster Irimias im Schilde führt, kann ich nicht sagen. Dass er seine ehemaligen Nachbarn und Bekannten übers Ohr zu hauen beabsichtigt, ist jedoch schon von Anfang an klar, als er, mutmaßlich aus der Haft entlassen, von der Geheimpolizei angeworben wird, um irgendwelche niemals klar benannten Dinge mit den Dorfbewohnern anzustellen, oder aus ihnen hervorzukitzeln, oder sie zu ihnen zu verleiten. Feststeht, dass er sie fortschickt aus ihrem Dorf: In den Ruinen einer brachliegenden Farm soll ein neues kommunistisches Utopia errichtet werden. Später erteilt er jedem von ihnen eine bestimmte (seltsame) Aufgabe und lässt sie in alle Himmelsrichtungen davonschwärmen. Ganz am Ende befinden wir uns in einer Art Polizeiwache, wo zwei Beamte die Berichte Irimias, in denen er detailliert die Eigenheiten seiner Untergebenen schildert, um Kraftausdrücke und Grammatikfehler bereinigen, bevor sie Feierabend machen.
Man sollte keine Aversion gegen Sequenzen haben, in denen wir quasi in Echtzeit Menschen dabei zuschauen, wie sie sich ihre Schuhe anziehen, hinaus in den Nachtregen stapfen, sich Schnaps besorgen und zurück ins Eigenheim wanken, um SATANTANGO irgendeinen ästhetischen Reiz abgewinnen zu können. Man sollte es auch nicht als störend empfinden, dass manche Szene mindestens zweimal aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt werden, einmal aus den Augen des einen Charakters, dann mit den Augen einer beim ersten Durchlauf nicht sichtbaren Figur, die einen bestimmten Vorgang aus sicherer Entfernung beobachtet hat. Man sollte sich nicht abschrecken lassen von minutenlangen Fahrten, in denen die Kamera seelenruhig durch unwirtliches Gelände fährt, vorbei an Barracken, vernachlässigten Äckern, lichtlosen Wäldern, und man sollte definitiv eine Leidenschaft haben für karge Bildkompositionen, in denen kein einziges Detail den Anschein verrät, es sei dort, um die Szenerie zu schmücken, für zeitlose Bilder, in denen kahle Wände dominieren, und von Schatten überschwemmte Zimmer ohne Möbel, und Felder, so weit das Auge reicht, nur Schlamm, Morast, grauer Himmel darüber. Ebenfalls schadet es nicht, wenn es einem nichts ausmacht, dass die Figuren sich minutenlang anschweigen, dann nur wenige ausdruckslose, banale Sätze fallenlassen, nur um überhaupt irgendetwas zu sagen, oder dass die Figuren endlose Monologe halten, wobei wir entweder ihre Gesichter fortwährend in Großaufnahme sehen, oder sie sich nicht mal im Bild befinden, und die Kamera, als interessiere sie der Redefluss kein bisschen, lieber Kühe, Felder, Schemen unbeteiligt dabeistehender Personen fokussiert. Auf Schauwerte darf man nicht hoffen: Es sei denn, man erachtet die kompletten siebeneinhalb Stunden als einen einzigen ausufernden Schauwert. Manchmal hört man Musik: Das Akkordeon klingt für meine Ohren entweder zu schrill, um aufrichtig fröhlich zu sein, oder zu düster, um irgendeine ernstgemeinte sakrale Stimmung heraufzubeschwören.
Etwa in der Mitte des Films findet sich eine wundervolle Vignette – (sofern dieser Begriff denn anwendbar ist für ein Segment, das etwa eineinhalb Stunden umschließt) –, die wirkt, als habe Tarr sowohl Bressons MOUCHETTE wie seinem Eselsfilm AU HASARD BALTHAZAR die Reverenz erweisen wollen: Im Mittelpunkt der Handlung – (sofern denn dieser Begriff bei den gedehnten Fragmenten, die der Film uns hinwirft, anwendbar ist) – für geraume Zeit ein kleines Mädchen, das, (ganz wie Bressons Mouchette), ein leidvolles Außenseiterdasein innerhalb der Dorfgemeinschaft führt: Ihre Mutter versäuft den halben Tag, schläft bis mittags; ihr älterer Bruder macht ihr weis, sie solle ihr gespartes Kleingeld im Wald verbuddeln, dann würde bald ein Geldbaum wachsen, tut das jedoch nur, um den Schatz, sobald die Kleine weg ist, selbst auszugraben und seinem eigenen Portemonnaie einzuverleiben; ihr Alltag ist monoton, eintönig, geprägt von Ablehnung, schweigsam-grummeligen Erwachsenen, beschwerlichen Hoftätigkeiten. Nur eine Freundin hat sie, die Familienkatze, - und an der lässt sie schließlich ihre angestaute Wut und Verzweiflung aus, indem sie das Tier zunächst eine Weile physisch quält, sodann aus der örtlichen Apotheke ein bisschen Gift holt, um sie ihm unters Fressen zu mischen. Eine weitere endlose Einstellung zeigt uns auf dem Dachboden des elterlichen Hofs im Bildvordergrund die ihre Mahlzeit verzehrende Mieze, im Bildhintergrund die auf den eintretenden Sterbeprozess wartende Kleine. Auch wenn Tarr in späteren Interviews beteuert, die Katze sei natürlich nicht on-screen einem Giftmord erlegen, sondern lediglich mit Schlafmittel verköstigt worden, und auch wenn er ebenfalls schwört, das Tier nach Drehschluss selbst adoptiert und ihm ein schönes Leben ermöglicht zu haben – gerade die Szenen, in denen das Mädchen die Katze fest an sich presst, und sich mit ihr auf dem Speicherboden herumwälzt, während sie es wissen lässt, dass sie die Stärkere von den beiden sei, diejenige, die über ihr Leben und ihren Tod bestimmen könne, sind nur schwer erträglich. Sicherlich hat Tarr bei diesen Momenten in der Post-Production nachgebessert, und beispielweise das klägliche Katzengeschrei nachträglich hinzugefügt, dennoch: Besondere Freude wird die Mieze nicht an ihrer Schauspielrolle in SATANTANGO gehabt haben. Während die Katze also wie eine Schwester von Bressons Esel Balthazar wirkt, ereilt ihre Mörderin in der Folge dasselbe Schicksal wie Bressons Mouchette: Während die Dorfbewohner sich im Schankhaus betrinken und Tango tanzen, steht sie draußen im Regen und guckt durch die nassen Scheiben der Feierei zu, so, als bestünde nicht die geringste Möglichkeit, sie könne Kontakt zur Welt der Erwachsenen aufbauen. Mit ihrem toten Kätzchen unterm Arm stapft sie anschließend in einigen der ergreifendsten Szenen des Films durch die wolkenschaurige Nacht. Am Ende nimmt sie selbst das Gift, entschläft. Wir begegnen ihr aufgebahrt wieder, als die Dörfler Totenwache bei ihr halten, unter ihnen der inzwischen zurückgekehrte Irimias, der den Tod des Mädchens ausbeutet, um die Gemeinschaft bei ihrem schlechten Gewissen zu packen und auf seine eigenen ränkereichen Pläne einzuschwören.
Zu den restlichen Figuren fiel es mir indes ungleich schwerer, eine Beziehung aufzubauen. Tarrs Kamera bleibt auf Distanz, umschwärmt die Schauspieler wie ein sediertes Raubtier, das nicht weiß, ob es gleich zubeißen oder einschlummern soll; die strengen Bildkompositionen erdrücken die Protagonisten mehr, als dass sie ihnen Raum zur Entfaltung lassen; viele Szenen werden zudem in einer Weise gedehnt, dass ich tatsächlich oft genug das Interesse verliere, mein Hirn abschweift, ich mich sattgesehen habe an dem, was mir der Bildkader offeriert. Das soll nicht heißen, dass SATANTANGO nicht auch jenseits seiner Katzenquälereien und Mädchensuizide großartige Momente aufbietet: Ich hätte niemals gedacht, dass mich ein schneckentempogleicher Zoom auf eine Eule, die nahezu reglos inmitten eines finsteren Gemäuers sitzt, einmal derart entzücken würde; ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich einmal in den Genuss einer Pferdeherde komme, (angeblich ausgebüxt aus dem örtlichen Schlachthof), die über einen verwaisten historischen Marktplatz galoppiert, gefilmt in einer Totalen, bei der die Kamera sich unmerklich immer höher gen Himmel schwingt; auf die Idee, die Mitglieder der Dorfgemeinschaft, nachdem sie sich in der neuen Farm halbwegs häuslich eingerichtet haben, beim Schlafen von einer über ihren Körpern umherzirkulierenden Kamera filmen zu lassen, während der Off-Erzähler minutiös ihre Träume beschreibt, muss man ebenfalls erst einmal kommen. Doch demgegenüber stehen auch genauso viele Szenen, die mich recht kaltließen, die mich, mehr noch, von sich stießen, bei denen ich mich frage, weshalb sie sich ziehen wie Kaugummi (und weshalb dieses Kaugummiziehen nichts in mir bewirkt außer eine Eindruckslosigkeit, die sich spätestens anstellt nach zwei, drei Minuten Dauer): Den von Peter Berling verkörperten feisten, alkoholschwangeren Arzt minutenlang dabei zu beobachten, wie er sich schwerfällig durch seine Stube bewegt; oder mindestens ebenso lange die größtenteils wortkargen Dörfler beim Herumsitzen in der Kneipe zu betrachten, während einer von ihnen wie von Sinnen volltrunken einen sich wiederholenden Kauderwelsch brabbelt; oder diese nicht aufhören wollende Kamerafahrt auf die neue Farm zu, die gar nicht näher zu kommen scheint, über Minuten hinweg, so lange dauert das. Es ist ein Widerstreit in mir: Soll ich SATANTANGO nun unglaublich prätentiös finden, ein Monstrum, bei dem der Stil endgültig die Substanz verschlungen hat, ein Film, dessen Stoff vielleicht eine Laufzeit von zwei Stunden hätte rechtfertigen können, der dann aber künstlich aufgebläht wurde auf siebeneinhalb Stunden, ohne Grund, aus reiner Möglichkeit, es tun zu können? Oder soll ich SATANTANGO, wie es offenbar das Gros der Cineasten tut, zu einem der besten Filme aller Zeiten erklären, ihm auf Knien dafür danken, dass er den Inhalt beiseiteschiebt, um Form und Ästhetik zu seinen eigentlichen Hauptfiguren zu machen, dafür, dass er Kino zu einem kontemplativen Raum werden lässt, in dem man mit Haut und Haaren versinken kann, endlich einmal unbetrogen von zu vielen Schnitten, zu falschen Erzählungen, verschlungen von den wunderschönen Schwarzweißbildern, der elegischen Kamera, den apokalytisch anmutenden Landschaften?