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Anna - Alberto Grifi, Massimo Sarchielli (1975)

Verfasst: So 24. Jan 2021, 22:08
von Salvatore Baccaro
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Originaltitel: Anna

Produktionsland: Italien 1975

Regie: Alberto Grifi, Massimo Sarchielli

Darsteller: Anna, Massimo Sarchielli, Alberto Grifi, Vincenzo Mazza, Pilar Castel, Raoul Calbarò, Stefano Cattarossi


Im Frühjahr 1972 lernt der Schauspieler Massimo Sarchielli auf der Piazza Navona die sechszehnjährige Anna kennen. Sie hat keinen Kontakt mehr zu ihren Eltern, ist aus einem katholischen Erziehungsheim weggelaufen, lebt seitdem auf den Straßen Roms in Gesellschaft weiterer junger Leute, die sich freiwillig oder unfreiwillig für eine Existenz außerhalb der bürgerlichen Norm entschieden haben, die trinken, rauchen, kiffen und heftigere Rauschmittel zu sich nehmen, sich mit Diebstählen oder Betteleien über Wasser halten, ständig den Konflikt mit der Polizei suchen. Da Anna im achten Monat schwanger ist, den Vater des Kindes nicht kennt, oder zumindest vorgibt, ihn nicht zu kennen, nimmt Sarchielli das Mädchen mit zu sich nach Hause, bietet ihr zunächst einen provisorischen Schlafplatz, lässt sie schließlich ganz bei sich wohnen. Da er es zudem für eine gute Idee hält, die vom Schicksal gebeutelte junge Frau auf Film festzuhalten, kontaktiert er seinen Freund Alberto Grifi, der zu den führenden Vertretern des italienischen Experimentalfilms gehört, und sich kürzlich eine der ersten auf dem Markt verfügbaren Videokameras besorgt hat. Endresultat des Projekts sind elf Stunden Videomaterial, in dem Sarchielli und Grifi Interviews mit Anna und ihren Freunden führen, das Mädchen in privaten Alltagssituationen dokumentieren, das Gespräch suchen mit Passanten auf der Piazza Navona, um mit diesen über die aktuelle politische Lage Italiens zu diskutieren. Zusammengestaucht auf dreieinhalb Stunden wird ANNA 1975 der Öffentlichkeit präsentiert und gilt heute als eins der wichtigsten Werke in der Filmographie Alberto Grifis. Mir wird das Epos allerdings vor allem als besonders unfokussiert, zäh und anstrengend in Erinnerung bleiben…

Überraschend unterrepräsentiert ist zumindest in der Handvoll im Netz auffindbaren zeitgenössischen Rezensionen der Fakt, wie sehr sich ANNA eines voyeuristischen Blicks bedient, um die seelischen (und körperlichen) Untiefen der Titelheldin auszuloten: Wir sehen, wie das minderjährige Mädchen eine Zigarette nach der andern raucht, wobei scheinbar weder sie selbst noch die ungleich älteren Filmemacher einen Gedanken an das werdende Leben in ihrem Bauch verschwenden; wir sehen, wie Massimo Sarchielli seine neue Mitbewohnerin dazu nötigt, sich unter die Dusche zu stellen, wie sich die splitterfasernackte junge Frau die schmutzigen Füße und verfilzten Haare wäscht, wie schließlich ein spezielles Shampoo dazu dienen soll, sie von den Läusen zu befreien, die sie sich während ihrer Zeit auf der Straße eingefangen hat; wir sehen in einer besonders unangenehmen Sequenz, wie Sarchielli sich an den milchprallen Brüsten Annas ergötzt, und sich ein paar Spritzer davon in seine Kaffeetasse abfüllt. Auch lässt man Anna lange und ausgiebig von ihrer Vergangenheit berichten: Angeblich sei sie bei den Nonnen schwerer körperlicher Misshandlungen ausgesetzt gewesen; man habe sie und ihre Leidensgenossinnen, um ihnen die Bettnässerei auszutreiben, im Intimbereich mit Senf eingeschmiert und mit Peitschen windelweich geschlagen – Episoden wie aus einem De-Sade-Roman, die wenigstens auf mich so wirken, als ob das Mädchen den Umstand, dass permanent eine Kamera auf sie gerichtet ist, als Chance zu Selbstdarstellung und Fabulierlust nutzt. Problematisiert wird dieses Ausstellen der jungen Frau, die offen mit ihrem Drogenkonsum und den selbstverschuldeten Schnittwunden an ihren Unterarmen prahlt, für die ihr Baby entweder gar nicht existent oder eine bloße Last ist, die sexuell mit Sarchielli kokettiert, nur um sich einen Moment später hysterische Streitereien mit ihm zu liefern, exakt an einer einzigen Stelle: Sarchielli fragt einen befreundeten Rechtsanwalt, der seine Nachmittage mit Wein und Weib auf der Piazza verbringt, ob er mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen müsse, da er eine Minderjährige bei sich aufgenommen habe. Auch hier geht es aber nicht um die Frage, inwieweit man denn eine Sechzehnjährige in prekären Lebensumständen zum Sujet eines experimentellen Dokumentarfilms machen darf, sondern einzig und allein um Sarchiellis eigenen Kopf.

Allerdings nehmen Annas Monloge, Sarchiellis mindestens fragwürdiges Verhalten dem Mädchen gegenüber, und Alltagsszenen, in denen die beiden kochen oder kuscheln, nur etwa die Hälfte der Laufzeit ein. Den Rest verwenden Sarchielli und Grifi darauf, so etwas wie eine Momentaufnahme der italienischen Jugend Anfang der 70er präsentieren zu wollen. Ihre Videokamera im Gepäck begeben sich die Filmemacher immer wieder auf die Piazza Navona und suchen das Gespräch mit dort herumlungernden Jugendlichen, mit einem aus Kuba stammenden illegalen Migranten, mit Repräsentanten des gehobenen Bürgertums wie dem bereits erwähnten Anwalt. Wirklich ergiebig sind die Inhalte, die bei diesen sich stellenweise über zwanzig Minuten lang hinziehenden Sequenz aufs Tableau gehievt werden, jedoch nicht: Alle reden wild durcheinander; es wird gestritten, es werden revolutionäre Phrasen gedroschen; ein offenkundig unter Drogeneinfluss stehender Freund Annas verliert sich in einer uferlosen Litanei über Gott und Welt; ein anderer selbsternannter Revoluzzer vermutet überall Zivilstreifen, die ihn beschatten; zwischendurch dokumentieren Grifi und Sarchielli eine Demonstration von Feministinnen, die skandieren, dass innerhalb der traditionellen Familie der Mann die Bourgeoisie bilde und die Frau das Proletariat sei, weshalb ein Umsturz der bestehenden Verhältnisse das Gebot der Stunde werden müsse. Gefilmt ist das Ganze, wie angedeutet, mit einer primitiven Videokamera, was den Bildern einen körnig-authentischen, von Artefakten überhäuften, verwackelten und klassischen Ästhetiken durchaus bewusst zuwiderlaufenden Anstrich verleiht, was aber wiederum dem etwaigen Genuss, sich über Stunden hinweg solcherlei für Historiker und Soziologen möglicherweise interessanten, mich aber relativ kaltlassenden Bildern auszusetzen, nicht unbedingt förderlich ist.

Wesentlich spannender finde ich, dass Grifi und Sarchielli zumindest teilweise die Frage aufwerfen, ob vieles in ANNA nicht auch inszeniert sein könnte. Zwar tritt der Film als Dokument auf, doch werden regelmäßig Zwischentitel gestreut, die diesen Eindruck unterwandern. Manche Aufnahmen seien, heißt es beispielweise, Rekonstruktionen tatsächlicher Ereignisse, audiovisuelle Gedächtnisprotokolle, weil zum Zeitpunkt, als sie geschehen sind, eben keine Kamera lief – darunter beispielweise das Kennenlernen zwischen Sarchielli und Anna sowie ihr erster Besuch bei ihm in der Wohnung. Andere Segmente werden als Flashbacks und Replays ausgewiesen: Tatsächlich sehen wir bei letzteren ein und dieselbe Szene zweimal, so, als ob es sich um verschiedene Takes handeln würde. Einmal schauspielern Sarchielli und Anna sogar ganz offen für Grifis Kameralinse: Sie soll die Küche betreten, fragen, was es zu essen gebe, worauf Sarchielli ihr antwortet, es seien nur noch Hamburger da. Ihre Frage, was das denn sei, Hamburger, muss Anna mehrmals wiederholen bis der sich im Off befindliche Grifi mit der Szene zufrieden ist – ein gezielt platziertes Indiz dafür, dass es sich bei ANNA von Anfang bis Ende um ein sehr freimütig mit der Realität umgehendes Kunstprodukt handelt?

Am Ende des Films hat Anna sich jedenfalls von Grifi und Sarchielli losgesagt. Sie ist eine Beziehung mit einem der Filmtechniker, Vincenzo, eingegangen, der fortan als Sprachrohr zwischen ihr und den Filmemachern fungiert: Nur er darf sie im Krankenhaus besuchen, wo sie inzwischen ihr Kind bekommen hat, und berichtet vor Grifis Kamera, dass Anna ihr Baby fortgenommen worden sei, dass sie daraufhin in der Klink randaliert habe, dass sie keinen Kontakt mit ihren früheren Freunden wünsche. In einem erneuten ellenlangen Monolog, in dem Vincenzo völlig orientierungslos über sein eigenes Leben, über seine Sicht auf die Welt, über die Probleme redet, mit denen Anna nun konfrontiert sein wird, bricht der Film unvermittelt. Nein, ich bereue zwar nicht, ihn in seiner dreieinhalbstündigen Glorie gesehen zu haben, muss mich aber doch fragen, welchen Mehrwert es denn besitzt, wenn man beispielweise geschlagene fünf Minuten lang in einer krisseligen schwarzweißen Video-Optik der Titelheldin dabei zusehen darf, wie sie jemanden anzurufen versucht, sich am andern Ende der Leitung jedoch nur das Besetztzeichen meldet…