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North Korea from the Train Window (2007)

Verfasst: Sa 30. Jan 2021, 11:39
von Salvatore Baccaro
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Gestern habe ich ein jahrefressendes Langzeitprojekt endlich bei der zuständigen Stelle eingereicht, die beurteilen darf, soll, muss, ob mir irgendwelche Meriten daraus erwachsen, außer dass ich mir einmal in den Grabstein eingravieren lassen kann, knapp 800 Seiten Fließtext mit 1800 Fußnoten zu einem zugegebenermaßen wahlweise obskuren oder abstoßenden Thema produziert zu haben. Gerade die letzten Wochen sind eine Tortur gewesen: Ich hätte mir nie vorstellen können, dass ich jemals einen kleinen Affen auf meiner Schulter sitzen haben würde, der mich jedes Mal, wenn ich die Word-Datei endgültig schließen und in eine PDF umwandeln will, in die Wange beißt, und kreischt, ich solle doch nochmal einen nun wirklich allerletzten Blick draufwerfen, ich solle am besten noch einmal den kompletten Text korrekturlesen, ach was, ich solle alles löschen und ganz von vorne anfangen, fuckin' Tabula Rasa. Wenn dazu dann noch bürokratische Querelen kommen und Formulare verschwinden und man nachts aufwacht, weil einem plötzlich ein Geistesblitz gekommen ist, der eigentlich auch noch unbedingt erwähnt werden müsste, dann kann das durchaus an den Nerven zehren. Nun allerdings, wo ich die Last (nebst Äffchen) erstmal von den Schultern habe und es erstmal Zukunftsmusik ist, ob man mir das Geschriebene wie Polterabendgeschirr vor die Füße schmeißen oder ob man es sich wie Meißner Porzellan in die Ehrenvitrine stellen wird, fühlt es sich an, als ob ich dringend eine Weile Urlaub bräuchte. Nur, wohin reisen in Zeiten wie diesen? Im Ernst, sage ich mir, während ich mir die bereits verheilenden Affenbisse im Spiegel betrachte, wo wolltest Du schon immer mal hin? Island? Madeira? Da fällt mir ein: Gab es nicht diesen Typ, den ich vor Jahren in Berlin kennengelernt hatte, und der mir von seiner glorreichen Geschäftsidee vorschwärmte, Flugreisen nach Nordkorea anzubieten? "Ey, das ist eine richtige Marktlücke!" Genau, Nordkorea: Jener Staat, wo es keine Pandemie hinschafft, wo die Wirtschaft blüht wie im Garten Eden, und wo die glücklichsten Menschen aller Zeiten leben, glücklicher als alle Norweger, Schweden und Dänen zusammen. Eine Stunde später sitze ich in einer Dampflok und fahre durch Kim Jong-uns Märchenreich…

Scheinbar ist die halbstündige Dokumentation NORTH KOREA FROM THE TRAIN WINDOW im Jahre 2007 als Bonusmaterial für ein Buch namens THE DEAR LEADER’S RAILROAD: THE STATE OF NORTH KOREA’S RAILWAYS produziert worden – ein Buch, von dem ich im Netz weder eine physische Kopie noch ein Digitalisat gefunden habe, und deswegen nur darüber spekulieren kann, dass es sich wohl um einen salbungsvollen Bericht über das nordkoreanische Eisenbahnwesen handeln wird, der in englischer Sprache verfasst wurde, um gerade auch ein internationales Publikum von der Glorie des technischen Fortschritts innerhalb der demokratischen Volksrepublik zu überzeugen. Da zumindest in der mir vorliegenden Version rechts oben im Bild permanent das Logo des japanischen Verlags Shinchosha eingeblendet wird, dürfte es sich um eine Co-Produktion mit dem benachbarten Inselstaat handeln, wenn dieser denn nicht sogar hauptfederführend bei der Herstellung des Films gewesen ist. Dass man NORTH KOREA FROM THE TRAIN WINDOW im Verbund mit einem Büchlein auf den Markt bringt, macht allein schon deshalb Sinn, weil der Film zur Gänze auf einen Off-Kommentar verzichtet. Sein gesamter Inhalt besteht aus circa zwanzig Minuten Aufnahmen von durch die nordkoreanische Landschaft rollenden Zügen, worauf er in seinen letzten fünf Minuten dann noch einen Einblick in die U-Bahn-Stationen und Straßenbahnen der Hauptstadt Pjöngjang gewährt – und seine propagandistische Stoßrichtung freilich dadurch unterminiert, dass all die Lokomotiven, die uns mit einem Gestus präsentiert werden, als müsse man sie als das Nonplusultra moderner Fortbewegungstechnologie anhimmeln, in den meisten westlichen Ländern hauptsächlich noch in Technikmuseen oder in Freizeitparks zu finden sein dürften.

Aber ich möchte eigentlich gar keine Häme über NORTH KOREA FROM THE TRAIN WINDOW ausgießen, weil der Film mich nach qualvollen Tagen, an denen mein Zeigefinger minutenlang über der Enter-Taste kreiste, deren Drücken bedeutete, dass meine Daten so wie sie nun mal sind an die Druckerei meines Vertrauens übermittelt werden, genau dort abgeholt hatte, wo ich gestanden habe: Schon seit Anbeginn der Kinematographie gehören Züge zum Schönsten, auf was man seine Filmkamera richten kann. All die Züge, die direkt auf die Leinwand zurasen, (und angeblich das Publikum in die Flucht geschlagen haben sollen); all die Aufnahmen, bei denen die Kamera auf Zugdächer montiert worden ist, um uns mitzunehmen durch Metropolen wie New York oder Berlin; all die kurzen Filme, in denen Züge parallel vor der Kameralinse vorbeirasen und beinahe schon so etwas wie einen abstrakten Bewegungseffekt erzielen – das Jahrmarktskino ist randvoll von Loks, Eisenbahnen, Trams, und, ob nun bewusst oder unbewusst, - (wohl eher letzteres) – verbündet sich NORTH KOREA FROM THE TRAIN WINDOW auf faszinierende Weise mit all diesen filmhistorischen Vorläufern.

Der Film verzichtet auf ein Narrativ, auf extradiegetische Musik, darauf, die völlig kontingent wirkenden Szenen auch nur montagetechnisch interessant miteinander zu verbinden – und wenn er es tut, indem er (japanische?) Schriftzeichen einblendet, die mutmaßlich gerade irgendwelche Spezifika der gezeigten Züge erläutern oder sie geographisch irgendwo verorten, kann ich sie nicht lesen, und werde daher auch nicht abgelenkt von der meditativen Stimmung, in die die eintönigen Bilder von Zügen mich versetzen, die über primitive Stahlbrücken rauschen, die knatternd in Stationen einfahren, die aneinander andocken, um zum Doppelten ihrer Länge anzuwachsen. Meditativ ist das beständige Räderrattern, meditativ ist der weiße Rauch, der die Landschaft einlullt, meditativ ist der völlig unaufgeregte Schnitt, der nicht mal versucht, durch die Kollision der Einzelaufnahmen so etwas wie eine Dramaturgie entstehen zu lassen. Ganz am Ende wendet dann eine froschgrüne Straßenbahn der Kamera den Rücken zu, fährt gemächlich davon, und der Film endet so unspektakulär wie er begonnen hat.

NORTH KOREA FROM THE TRAIN WINDOW wirkt wie eine kleine Zeitreise: So hat auch der westliche Bahnverkehr irgendwann vor hundert Jahren einmal ausgesehen. NORTH KOREA FROM THE TRAIN WINDOW ist aber auch ein faszinierender Einblick hinter die Grenzen eines Landes, in das einen Blick zu werfen einem sonst selten erlaubt ist: Mir fällt die Weite der Landschaft auf, und wie wenige Autos zu sehen sind, und wie geordnet alles wirkt, so, als ob sofort ein Kehrbesen (oder ein Erschießungskommando?) kommen würde, wenn sich nur ein Störfaktor in die glattgeschleckten Arrangements einschliche. NORTH KOREA FROM THE TRAIN WINDOW dürfte Fans von historischen Eisenbahnen wohl noch mehr euphorisieren als mich – oder Aficionados der Sendung EISENBAHNROMANTIK im SWR, falls sich an die noch irgendwer erinnert. Hach, aber solange ich immer noch seltsam schillernde Perlen wie diese finden, bin ich mit dem Kino noch lange nicht am Ende...

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