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Im Strahl der Sonne - Vitaly Mansky (2015)

Verfasst: Sa 13. Feb 2021, 11:19
von Salvatore Baccaro
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Originaltitel: V luchakh solntsa

Produktionsland: Deutschland / Nordkorea / Tschechische Republik / Russland 2015

Regie: Vitaly Mansky


Abt.: Salvatores kleine Nordkorea-Reise

Im Jahre 2014 verbringt ein internationales Filmteam unter Leitung des russisch-ukrainischen Regisseurs Vitaly Mansky insgesamt dreimal für mehrere Wochen Zeit in Nordkoreas Hauptstadt Pjöngjang, um den Alltag eines achtjährigen Mädchens namens Sin Mi zu dokumentieren. Gezeigt wird das Kind sowie seine Eltern bei der Morgengymnastik, beim gemeinsamen Frühstück, bei einer Schulaufführung; man begleitet Sin Mis Vater in die Textilfabrik, wo dieser als Ingenieur arbeitet, Sin Mis Mutter in die Sojamilchfabrik, wo sie eine der emsigsten Arbeiterinnen ist, schließlich Sin Mi selbst zu den Feierlichkeiten, bei der sie und hunderte andere Kinder in den Reihen der Jungpioniere willkommen geheißen wird. Ebenfalls auf dem Plan steht der Besuch eines Koreakriegsveterans in Si Mins Schulklasse, der den Kindern davon erzählt, wie er vor weit über einem halben Jahrhundert US-amerikanische Kampfjets vom Himmel holte oder eine Blumenausstellung, bei der zu Ehren von Nordkoreas zweitem Staatschef Kim Jong-il die schönsten Begonien gekürt werden, (und wo Sin Mi selbstverständlich einen der ersten Preise einheimst).

Aber all diese Stationen, die IM STRAHL DER SONNE abklappert, sind Teil eines Drehbuchs, das Mansky und seinem Team vor Drehbeginn vorgelegt wurde, und an das sich die Gäste sklavisch halten sollten, wenn sie nicht das gesamte Projekt in Gefahr bringen wollten. Aus dem Off heißt es, dass die Filmemacher mit Sin Mi und ihren Eltern niemals direkt kommunizieren durften, nicht mal mittels eines anwesenden Dolmetschers; ständig sind Mitglieder der Geheimpolizei anwesend, die Mansky während der Dreharbeiten über die Schulter blicken, Sin Mi und ihren Eltern Regieanweisungen geben, am Ende jedes Drehtags fordern, das Material in Augenschein nehmen zu dürfen. Ebenfalls erfahren wir von den eklatanten Ungereimtheiten, die dem Filmteam alsbald auffallen: So soll Sin Mis Vater im Vorgespräch ein Journalist gewesen sein, plötzlich aber bekleidet er das Amt eines Ingenieurs einer Textilfabrik, die wie zufällig auch auf dem Tagesplan der wenigen ausländischen Touristen als Attraktion steht; auch Sin Mis Mutter soll eigentlich eine einfache Kantinenfrau gewesen sein, wird nun aber als Mitarbeitern eines staatstragenden Sojamilchbetriebs präsentiert; überhaupt hätte die Familie vor Drehbeginn in einer eher schlichten Wohnung in einem durchschnittlichen Stadtviertel gelebt, jetzt jedoch verfügen sie über ein großräumiges 3-Zimmer-Appartement, in dem plakativ die Portraits von Staatsgründer Kim Il-sung und seinem Sohn Kim Jong-il prangen. Mehr noch erwecken viele Szenen den Eindruck, dass sie allein für das ausländische Filmteam inszeniert seien: Sin Mi besteigt ihren Schulbus an einem Platz, wo es offenbar sonst überhaupt gar keine Bushaltestelle gibt; viele Passanten wirken wie Statisten, instruiert, wie sie sich verhalten sollen, sobald irgendwo eine westliche Kameralinse auftaucht; natürlich besucht Sin Mi eine der besten Schulen der Hauptstadt, wo eine Klasse Vorzeigemädchen mit ihrer Lehrerin die Großtaten Kim Il-sungs durchkaut, der, wie endlos oft wiederholt wird, bereits als halbwüchsiger Knabe die "Fremden" und die "Gutsbesitzer" als Schurken beschimpft und mit Steinen beworfen haben soll, (sympathischer Junge auf jeden Fall).

Bei IM STRAHL DER SONNE handelt es sich dementsprechend um eine Meta-Dokumentation: Ein Großteil dessen, was wir sehen, sehen wir nur, weil die agierenden Personen wissen, dass wir sie sehen – ein Propagandafilm, der sich ausschweigt über die "Realität" der Volksrepublik, und sie einzig und allein von ihrer Schokoladenseite vorführen möchte, auch wenn – oder gerade weil – diese Schokoladenseite wenig mit der Wirklichkeit zu tun hat. Zugleich dekonstruieren der Off-Kommentar und einzelne Szenen, in denen wir dann doch einen Blick hinter den glattgebügelten Schleier werfen dürfen, diese Propagandasegmente fortwährend: Heimlich filmen Manskys Kameraleute aus ihren Hotelzimmern, die sie ohne Erlaubnis nicht verlassen dürfen; mehrfach hat man es, indem zwischen den Takes die Kamera einfach laufen ließ, auch geschafft, den Mann von der Regierung, der sich aufführt wie der eigentliche Regisseur des Films, dabei aufzunehmen, wie er Sin Mi und ihre Eltern ein und dieselbe Szene immer wieder spielen lässt, was stellenweise zu wirklich absurden Momenten führt: So sitzt die kleine Familie am Frühstückstisch; ein völlig banaler Dialog soll ausgetauscht werden, in dem man die Vorzüge des nordkoreanischen Nationalgerichts Kimchi hervorstreicht, das angeblich dem Altern vorbeugt und das beste Mittel gegen Krebs sei. Ein Take folgt auf den nächsten, zwischenzeitlich gruppiert der „Regisseur“ die Familienmitglieder anders um den Tisch herum, ermahnt Sin Mi fortwährend, sie solle ganz natürlich sprechen, so, als ob sie gar nicht wisse, dass eine Kamera auf sie gerichtet sei: Mit mehr Freude, mit viel mehr Freude! Wie genau man es fertiggebracht hat, diese enthüllenden Aufnahmen am Argusauge der Partei vorbei zu schleusen, darüber schweigt sich der Kommentar aus. (In späteren Statements allerdings erklärt Mansky, dass die Kamerafrau anscheinend Magenbeschwerden vorgetäuscht habe, weshalb sie mehrmals während der Dreharbeiten auf die Toilette hätte verschwinden müssen, wo sie die gemachten Aufnahmen heimlich auf eine zweite SD-Karte überspielt haben soll.) Kein Zweifel jedoch besteht daran, dass nicht sogleich das komplette Equipment des Kamerateams konfisziert und die Gäste stante pede des Landes verwiesen worden wären, hätten die Wachhunde Kim Jong-uns Szenen zu Gesicht bekommen wie die, die während des bereits erwähnten Veteranenauftritts gefilmt worden sind: Da steht also dieser hochbetagte, hochdekorierte Greis und ergeht sich in seinen klapprigen Kriegsanekdoten und manches Kind hat Mühe, angesichts des eintönigen Sermons überhaupt die Augen offenzuhalten oder vor lauter Langeweile auch nur eine Sekunde lang stillsitzen zu bleiben.

Dabei verzichtet IM STRAHL DER SONNE aber darauf, seine Bilder allzu sehr nachträglich zu „erklären“: Über weite Strecke sprechen die gewonnenen Aufnahmen ganz für sich, und wenn sich der Off-Sprecher einschaltet, dann größtenteils, um nüchterne Fakten preiszugeben. Eine generelle Verteufelung der Volksrepublik findet ebenso wenig statt, wie dass der Film versuchen würde, sich über seine Protagonisten zu erheben und mit Gesten der Überlegenheit oder des Spotts auf sie herabzublicken. Schön sieht man das in einer Reihe von Portraitaufnahmen der Gewinnerfamilien des Blumenwettbewerbs: Obwohl auch diese Szenen natürlich voll und ganz dem abgesegneten Drehbuch entsprechen, bewahren die Menschen vor dem Objekt ihre Würde und sind möglicherweise niemals derart ehrlich und unverstellt bebildert worden wie in diesen Minuten, in denen sie für einen falschen, verstellenden Film posieren. Überhaupt erzählt IM STRAHL DER SONNE ja vor allem vom Zusammenprall zweier Welten, zweier Systeme, zweier Auffassungen von Realität, ohne dass er diesen Widerspruch irgendwie auflösen wollen würde: Der Film versucht gar nicht erst, eine vermeintliche Wirklichkeit unter einem Gespinst aus Lügen freizuschaufeln, indem er sie konkret benennt, und damit der Gefahr aussetzt, ebenfalls zum Falsifikat zu gerinnen, sondern mutet uns zu, auch nach dem Abspann mit den aufgeworfenen Ambivalenzen leben zu müssen. In dieser Hinsicht besonders ergreifend ist die allerletzte Einstellung: Nur einmal, heißt es, sei es gelungen, Sin Mi eine direkte Frage zu stellen. Wir sehen das Gesicht des Kindes in Großaufnahme. Eine Frauenstimme, (wohl die Dolmetscherin), fragt sie nach ihren Träumen. Völlig unerwartet bricht Sin Mi in Tränen aus. Um sie zu beruhigen, sagt die Frau im Off, sie solle an etwas Schönes denken: Ob sie denn nicht ein Gedicht aufsagen wolle. Und was dann Sin Mis Mund verlässt, ist der Eid der Jungpioniere, den sie in- und auswendig kennt, und bei dessen Rezitation sich ihre Miene langsam wieder aufhellt.

Re: Im Strahl der Sonne - Vitaly Mansky (2015)

Verfasst: So 14. Feb 2021, 18:34
von buxtebrawler
Den hatte ich bei seiner Free-TV-Premiere hierzulande zumindest zum Teil gesehen und war fasziniert und abgestoßen zugleich.

Re: Im Strahl der Sonne - Vitaly Mansky (2015)

Verfasst: So 14. Feb 2021, 21:22
von Salvatore Baccaro
Die Bundeszentrale für politische Bildung empfiehlt:

https://www.bpb.de/mediathek/245969/im-strahl-der-sonne