Il Potere - Augusto Tretti (1971)
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Il Potere - Augusto Tretti (1971)
Originaltitel: Il Potere
Produktionsland: Italien 1971
Regie: Augusto Tretti
Darsteller: Massimo Campostrini, Ferruccio Maliga, Giovani Moretto, Diego Peres, Paola Tosi, Augusto Tretti
Im Grunde handelt es sich bei Augusto Trettis IL POTERE um ein derart idiosynkratisches Werk nicht nur innerhalb der italienischen Filmgeschichte, dass man es paradoxerweise eigentlich nur über den Weg des Vergleichs ansatzweise zu fassen vermag. Würde ich allerdings schreiben, dass man IL POTERE durchaus mit so manchem Sketch Monty Pythons in einen Topf werfen könnte, würde das vielleicht die Erwartungshaltung schüren, IL POTERE sei ein Film, bei dem man sich pausenlos über absurde Gags totlachen könne – was teilweise stimmt, jedoch bleibt einem genauso oft auch das ausgelassene Gelächter quer im Halse stecken. Auch das Droppen von Namen wie Alejandro Jodorowsky, Fernando Arrabal oder Dusan Makavejev könnte auf eine falsche Fährte locken, denn obwohl manche symbolträchtige visuelle Metapher durchaus an der Bildgewalt dieser (und ähnlicher) etwa zur gleichen Zeit ihre ersten Langfilme realisierende Regisseure kratzt, ist IL POTERE doch ein dezidierter Low-Budget-Streifen, der auch gar nicht verhehlt, dass er mit einem Schnürsenkel-Budget größtenteils um die Villa von Trettis wohlhabender Familie am Gardasee gedreht wurde. Würde ich schließlich Bertolt Brechts episches Theater und seine filmenden Anhänger wie beispielweise Jean-Luc Godard ins Feld führen, würde ich damit zwar sowohl die politisch-gesellschaftskritische wie auch die ästhetisch-stilistische Ausrichtung von IL POTERE ganz gut fassen, aber möglicherweise den Eindruck vermitteln, es sei ein primär didaktisches Werk, zu dem man nur einen Zugang findet, wenn man mindestens drei Semester irgendein geisteswissenschaftliches Fach studiert hat, was aber angesichts von Trettis teilweise entwaffnend naiv-infantiler Provokationslust schon gar nicht zutrifft.
Obwohl Tretti mit Anfang 30 als Regieassistent beispielweise an Federico Fellinis IL BIDONE mitwirkt, ist dem Sprössling einer reichen venezianischen Familie schnell klar: Er will zwar Filme drehen, ja, aber nicht im kommerziellen Kinobetrieb – weswegen er sowohl mehrere (heute leider verschollene) Kurzfilme sowie sein Langdebut LA LEGGE DELLA TROMBA Ende der 50er, Anfang der 60er fernab Roms auf dem Grundbesitz seiner Familie inszeniert, besetzt mit Freunden und Verwandten, darunter die hauseigene Köchin, eigenhändig geskriptet, gefilmt, montiert, produziert, distribuiert. Es spricht für die Prosperität des italienischen Nachkriegskinos, dass selbst ein Außenseiter wie Tretti es tatsächlich schafft, für LA LEGGE DELLA TROMBA einen Verleih zu finden, der den Streifen im Jahre 1962 in zumindest kleinem Rahmen der Öffentlichkeit zugänglich macht. Zu dem Zeitpunkt, als Trettis Debut in die Lichtspielhäuser gelangt, ist der Autodidakt bereits mit seinem Nachfolgeprojekt beschäftigt. Größtenteils entstehen die Aufnahmen für IL POTERE bereits 1962; trotzdem wird der Film erst neun Jahre später in finaler Form freigegeben – und bricht damit den Rekord für den italienischen Film mit der bis dato längsten Produktionszeit.
IL POTERE soll nichts weniger werden als Trettis Opus Magnum: Die Geschichte der Macht, verfolgt in vier Episoden und einem Prolog über die Jahrhunderte hinweg, von der Steinzeit zur Römischen Republik, weiter in den Wilden Westen und schließlich vom faschistischen Italien geradewegs hinein in die Gegenwart. Als eine Art Griechischer Chor fungieren in zwischen die einzelnen Segmente geschalteten Szenen drei Figuren mit Raubkatzenfratzen – Löwe, Tiger, Leopard –, die ihrerseits die Macht des Militärs, die Macht des Handels, die landwirtschaftliche Macht personifizieren, und jede zurückliegende Vignette auf zynische Weise kommentieren. Nachdem Tretti nach Querelen mit windigen Produzenten fast ein Jahrzehnt um die finanziellen Mittel rang, seinen Film endlich fertigstellen zu können, und obwohl IL POTERE Anfang der 70er auf einigen renommierten Festivals läuft und auch die Kritik nicht mit lobenden Worten spart, verhilft der Streifen seinem Schöpfer doch nicht dazu, weitere der sich in seiner Schreibtischschublade stapelnden Drehbücher zum Leben erwecken zu dürfen. Erst 1980 entsteht mit ALCOOL Trettis dritter Langfilm; nach der 1985er Fernseh-Featurette MEDITATORI E CARROZZE, die mitten in der Nacht unter Ausschluss der Öffentlichkeit versendet wird, verstummt Tretti kinematographisch zur Gänze. Er stirbt mit knapp neunzig Jahren 2013 auf seinem Landsitz unweit Veronas.
In prähistorischen Zeiten versucht ein Clan Steinzeitmenschen auf höchst tollpatschige und deshalb erfolglose Weise, einem wilden Hühnchen habhaft zu werden. Just in dem Moment, als einer unserer Vorfahren das Federvieh doch in die Hände bekommt, bricht auf einmal ein Sturm los, Donner grollt, Blitze schießen herab und entzünden ein Buschwerk in helle Flammen. Ein älterer Mann, der nicht an der Hühnerjagd teilgenommen hat, gibt sich den erschrocken fliehenden Urmenschen spontan als Herr des Feuers aus: Nur er könne über das heiße Element gebieten; gerne würde er es der Gemeinschaft an Höhlenbewohnern zugutekommen lassen, wenn diese ihm jeden Tag ein Hühnchen brächte, an manchen Tag bitte auch ein Schwein. Daraufhin beugen die Steinzeitmenschen ihre Knie in spontaner Anbetung des falschen Prometheus – worauf Tretti assoziativ von dieser Ur-Szene des Machtmissbrauchs zu welchen wechselt, in denen derselbe Schauspieler dabei zu sehen ist, wie er durch die Zeiten hinweg sein eigennütziges Spiel mit den blauäugigen Menschen treibt: Er ist Mohammed, der die Gebote des Korans verkündet; er ist Jesus, der Speisevorschriften beim Letzten Abendmahl aufstellt; er ist der Papst, der seinen Schäfchen den Gebrauch der Anti-Baby-Pille untersagt, (letzteres eine Szene, die mit satirischer Bissigkeit von Photos besonders kinderreicher Familien untermalt wird.) Es ist, als habe Tretti bereits im Jahre 1962 eine Parodie auf die Eröffnungssequenz von Kubricks 2001 drehen wollen, mit Troglodyten, die weniger an Affenmenschen, sondern mit ihren offensichtlichen Perücken und ihrer Fellbekleidung eher an die Familie Feuerstein erinnern.
In der Römischen Republik müht sich der Volkstribun Tiberius Gracchus um weitreichende Land- und Sozialreformen. Dem um seine Macht fürchtenden Senat schmeckt es aber freilich gar nicht, dass Gracchus sich mit der geplagten Landbevölkerung solidarisiert, und unter anderem plant, Grund und Boden aus dem Gemeindebesitz an die Proletarier zu verteilen. Wer derart mit Umverteilungsplänen und proto-kommunistischen Ideen liebäugelt, musss naturgemäß aus dem Weg geräumt werden, beschließen die feistgefressenen, geldgierigen Senatoren, deren Gelage und Diskussionen Tretti mit Vorliebe von Schweinegrunzen begleiten lässt. Auf Tiberius Gracchus wird ein Anschlag verübt, und damit die Möglichkeit, dem Dritten Stand zu einem erträglicheren Leben zu verhelfen, im Keim erstickt. Gewehrschussartig lässt Tretti nach dem feigen Mord die Photographien weiterer gewaltsam aus dem Leben geschiedener Menschen folgen, die, seiner Meinung nach, ein ähnliches Schicksal wie Gracchus ereilt hat, darunter: Malcolm X, Martin Luther King, Antonio Gramsci, Patrick Lumumba, Rosa Luxemburg.
Im Wilden Westen erweisen sich die indianischen Ureinwohner für die europäischen Siedler als bloße Störfaktoren, die Prärien voller weidender Bisons allerdings als ein einzig großes Fleischlager und die unberührte Landschaft als idealer Platz für Eisenbahnschienen, die von einer Küste zur andern gezogen werden sollen. Um sich den Störfaktor vom Leibe zu halten, rekrutiert eine Gruppe protestantischer Siedler einen Haufen frisch aus der Haft entlassener Sträflinge: Für jede Muskete, die diese kaufen, erhalten sie vom örtlichen Priester eine Gratis-Bibel dazu. Ihre Aufgabe: Jeder Rothaut eine Kugel zu verpassen, die es wagt, in das großangelegte Abschlachten der Bisons oder den Bau der Eisenbahn eingreifen zu wollen. Erneut zieht Tretti Analogien zur eigenen Gegenwart: Als die ersten Schüsse auf die waffentechnisch gnadenlos unterlegenen Native Americans abgegeben werden, katapultiert uns die Montage geradewegs mitten hinein in den Vietnamkrieg.
Im Italien des Jahres 1919 befindet sich der Faschismus auf dem Vormarsch – und Tretti hat sich, was wahrscheinlich das ikonischste Bild von IL POTERE liefert, (das immerhin auch auf dem offiziellen Poster Verwendung gefunden hat), eine groteske Gummimaske mit den Zügen Mussolinis übergestülpt, um eine schmerz- und schambefreite Parodie auf den Duce abzugeben, die sich gar nicht zu entscheiden braucht, ob sie nun Kinderfasching oder geniale Performancekunst sein möchte: Die Schwarzhemden drücken bildungsfernen Bauern Waffen in die Hände und erklären sie zu militärischen Anführern; der Marsch gen Rom wird zu einer Trauerzeremonie, an der nicht etwa kampfesfreudige, kraftstrotzende junge Männer teilnehmen, sondern rheumatische Greise, die zufällige Passanten fragen müssen, in welcher Himmelsrichtung eigentlich die Ewige Stadt liege; kaum an der Macht inszeniert Mussolini sich für die Presse unermüdlich selbst: Der Mann mit der Gummimaske posiert als moderner Herkules in Badehose oder erklärt den Pontinischen Sümpfen den Krieg, die er um jeden Preis trockenlegen möchte; eine Militärparade besteht aus der immergleichen Handvoll Soldaten, die an jubelnden Mengen vorbeidefilieren, und sich immer wieder hinter die Kulissen zurückziehen müssen, um ihre Kostüme zu wechseln, je nachdem, welche Einheit sie gerade repräsentieren sollen; zuletzt geht die Geschichte für den Duce aber doch übel aus und wie im richtigen Leben baumelt die Gummimaske alsbald kopfüber vom Dach einer Esso-Tankstelle.
In der Gegenwart sieht es nicht weniger düster aus: Ein Kardinal besucht eine Hühnerfarm, die sich – (tatsächlich Giulio Questis LA MORTE HA FATTO L’UOVO vorwegenehmend) – der größtmöglichen Effektivität verschrieben hat, sprich, winzige Käfige, Glasscheiben zwischen den einzelnen Legebatteriezellen, damit die unter Stress stehenden Tiere sich nicht gegenseitig die Augen aushacken, Eier, die durch gezielt genmanipuliertes Futter bereits ein Drittel an Größe zugelegt haben. Der Kardinal ist begeistert – und Tretti wirft uns Photographien verhungernder Kinder in Dritte-Welt-Staaten vor die Füße. Verkaufsclou des modernen Kapitalismus ist indes ein Objekt namens Moblon, das aussieht wie ein kubistisches Kunstwerk, über keinerlei Sinn und Zweck verfügt, jedoch aufgrund ausgeklügelter Werbestrategien und dem Dauerbombardement der Medien, jeder Haushalt müsse unbedingt ein Moblon besitzen, zum Verkaufsrenner der Saison wird. In der Schlussszene, die Tretti gerade im linkspolitischen Lager einiges an Kritik beigebracht hat, kommen Löwe, Tiger, Leopard zum Ergebnis, dass sie sich angesichts solcher Ereignisse wie der 68er Proteste und einem generellen Zuwachs liberaler Strömungen, um weiterhin ihre Macht zu bewahren, am besten Tarnkappen überziehen sollten: Fortan wollen sie ihr böses Handwerk unter dem Banner des Sozialismus verrichten; die Internationale ertönt; Lenin wird zitiert: Heutzutage trägt jeder Bösewicht zur Camouflage ein rotes Kleidchen.
Mit Monty Python teilt IL POTERE einen anarchischen Humor, der nicht vorrangig auf plumpe Pointen schielt, sondern eine ganzeinheitliche Atmosphäre der Absurdität entstehen lässt, von der quasi jede einzelne Szene des Films bis zum Bersten erfüllt ist; mit Ikonoklasten wie Jodorowsky, Arrabal oder Makavejev hat IL POTERE ein Gespür für surreale Bilder gemeinsam, die wenig enigmatisch daherkommen, sondern in deren symbolischem Überschwang sich eine oftmals simple, manchmal auch gar nicht allzu originelle Botschaft versteckt – (Trettis Kritik an Massentierhaltung beispielweise könnte exakt so auch aus Arrabals J’IRAI COMME UN CHEVAL FOU stammen; dass Machtträger vom Leitmotiv hausschweinischen Grunzens verfolgt werden, kennt man beispielweise auch aus Jodorowskys EL TOPO) –, wobei rein stimmungstechnisch Makavejevs SWEET MOVIE vielleicht noch am nächsten in der Nachbarschaft von IL POTERE siedelt, nicht zuletzt, weil auch Tretti nicht darauf verzichtet, so manche komisch-satirische Szenen durch die Integration von mondoesquen Dokumentaraufnahmen innerhalb von Sekunden in ihr Gegenteil umschlagen zu lassen; den politischen Anstrich verdankt IL POTERE wiederum in weiten Stücken den Theatertheorien Brechts, wobei er sich von Brecht-Anhänger Godard darin unterscheidet, dass Tretti uns nicht pausenlos mit Zitaten, Anspielungen, philosophischen Denkanstößen beschießt, sondern bei der Artikulation seiner Machtanalysen wechselweise als schelmischer Hofnarr, der nur durch die Blume zu uns spricht, oder als naives Kind auftritt, das gar nicht anders kann als das auszusprechen, was ihm auf dem Herzen liegt: Wenn Tretti der Entstehung der Macht auf den Grund geht, wenn er die Veränderung von Machtstrukturen in ausgewählten historischen Konstellationen analysiert, wenn er die Machtzentren seiner Gegenwart seziert, dann hat das tatsächlich weniger von Foucault, sondern mehr von Till Eulenspiegel – einem Eulenspiegel wohlgemerkt, der auch vor dem eigenen Metier nicht haltmacht, denn zumindest ich komme nicht umhin, in der Weise, wie Tretti in Episode Eins und Zwei die römische Republik beziehungsweise den Wilden Westen in norditalienischen Steinbrüchen und Wäldchen zu rekreieren versucht, (und dabei genauso sehr auf Authentizität pfeift wie Monty Python, wenn sie Hufgetrappel von zwei zusammenschlagenden Kokosnüssen erzeugen lassen), eine ziemlich witzige Parodie auf die tatsächlichen Produktionsbedingungen etlicher Peplums und Italo-Western auszumachen. Der Umstand, dass es offenkundig nur eine Handvoll Laiendarsteller sind, mit denen Tretti die meisten seiner Hauptrollen besetzt, wird schließlich in der zum Brüllen komischen Szene aufs Korn genommen, wo den Volksmassen vorgegaukelt werden soll, sie hätten es wirklich mit mehreren Regimentern tapferer Kriegshelden zu tun, wo es doch nur dieselben vielleicht zwanzig armen Schlucker sind, die atemlos von einer Uniform in die nächste schlüpfen.
Interessantes schreibt der Kritiker Ennio Flaiano in der 1971er Novemberausgabe von „L’Espresso“ zu IL POTERE: Trettis Filmkunst irgendwo innerhalb der zeitgenössischen italienischen Kinolandschaft zu verorten, sei nahezu ein Ding der Unmöglichkeit, denn Tretti besitze eine seltene Gabe – die überlegene Unschuld und Simplizität des Einsiedlers – und mit dieser würde er dem photographischen Bild sozusagen automatisch ebenfalls seine Unschuld zurückgeben, es in der Zeit rückwärts katapultierten, in die Epoche von Nadar oder Daguerre. Ich füge hinzu: Wenn jemals Außerirdische auf die Ruinen unserer Zivilisation stoßen, zufällig sowohl primitives Filmequipment wie ein Geschichtsbuch finden und auf die Idee kommen würden, die wenig glorreiche Historie unserer verloschenen Menschheit in einem Amateurfilm nachzuerzählen, könnte das Ergebnis tatsächlich so ähnlich aussehen wie IL POTERE, diesem kleinen Meisterwerk eines Menschen, der für die Kinematographie vielleicht das darstellt, was Daniel Johnston für die Popmusik ist oder Antonio Ligabue für die Malerei…