Systemsprenger - Nora Fingscheidt (2019)
Verfasst: Di 9. Mär 2021, 11:40
Originaltitel: Systemsprenger
Produktionsland: Deutschland 2019
Regie: Nora Fingscheidt
Darsteller: Helena Zengel, Albrecht Schuch, Gabriela Maria Schmeide, Lisa Hagmeister, Melanie Straub, Victoria Trauttmansdorff
Mindestens dreimal habe ich seinerzeit den Trailer von SYSTEMSPRENGER im Kino gesehen, und jedes Mal dachte ich mir: Bleibt mir doch hinfort mit solch einem problemwälzerischen Film, der das Kino als Alibi nutzt, um auf gesellschaftliche Missstände hinzuweisen, die Möglichkeiten seines Mediums jedoch kein bisschen ausschöpft, sondern eher wirkt wie ein in Sozialkitsch getränktes Pamphlet, das als Offener Brief wesentlich besser aufgehoben wäre, weil es die Anklagepunkte dann nicht in eine formalistische Spielfilmhandlung hieven müsste, sondern konkret auf die als angreifenswürdig erachteten Feindziele zusteuern könnte.
Der Trailer suggerierte mir nämlich: Da ist ein neunjähriges Mädchen, das unter Aggressionsschüben leidet, weil es aus miserablem Elternhaus stammt, sich die Mutter schwertut, ihre Liebe zu erwidern, der Stiefvater ein grobes Schwein ist, und das zunächst von niemandem gebändigt werden kann, bis dann eben ein Sozialpädagoge mit eigener schwieriger Vergangenheit auftaucht, sie für eine gewisse Zeit auf einen erlebnispädagogischen Trip in eine Waldhütte ohne Strom und ohne fließendes Waser mitnimmt, und sie dadurch auf wundersame Weise "heilt", selbst aber natürlich auch von dem intensiven zwischenmenschlichen Kontakt profitiert, worauf uns am Ende ein strahlendes Happy End winkt, die Kleine entweder zurück zur ebenfalls inzwischen geläuterten Rabenmutter entlassen wird oder aber gar als Adoptivtochter des besagten Sozialarbeiters mit konfliktreicher Vergangenheit endet.
Tatsächlich entwickelt sich SYSTEMSPRENGER in seiner ersten halben Stunde durchaus in diese Richtung, nur läuft der Film dann eben noch neunzig Minuten weiter, und entpuppt sich im Nachhinein eher als zeitgenössisches Update von LES QUATRE CENTS COUPS – (in der Schlusseinstellung scheint Regisseurin Nora Fingscheidt Truffaut sogar direkt zu zitieren) – denn als didaktisches, sentimentales, schablonenhaftes Fernsehspiel für die große Leinwand. Ästhetisch-technisch schwingt sich der Film natürlich niemals über die semi-dokumentarische Handkamera-Authentizität hinweg, die für dergleichen Projekte der derzeit vorherrschende Stil zu sein scheint. Aber einmal abgesehen davon, dass die seinerzeit selbst gerade mal elfjährige Helena Zengel um ihr Leben spielt, - (ernsthaft, das muss man gesehen haben, wie dieser junge Mensch die komplette Palette von zügelloser Wut bis hin zu zärtlicher Zerbrechlichkeit bedient!) - hat mir besonders die elliptische Struktur des Films gefallen: Manchmal versteckt Regisseurin Fingscheidt entscheidende Informationen zwischen zwei Schnitten, setzt bewusst Leerstellen, die ich als Zuschauer zu füllen selbst angehalten bin, kaut nun wirklich nicht jede einzelne Emotion, jede einzelne psychologische Motivation ihrer Figur vor. Das gewinnt zwar gewiss nicht den Robert-Bresson-Preis der Schauwerteverweigerung, aber hat mich mit seinem realitätsnahen, eben nicht einer klassischen Dramaturgie entsprechenden Gestus doch ziemlich überrascht und dadurch begeistert...