Königin von Niendorf - Joya Thome (2017)
Verfasst: Di 16. Mär 2021, 11:20
Originaltitel: Königin von Niendorf
Produktionsland: Deutschland 2017
Regie: Joya Thome
Darsteller: Lisa Moell, Denny Sonnenschein, Salim Fazzani, Moritz Riek, Cornelius Schwalm, Tino Mewes
Wo genau Niendorf liegt, das musste ich erst einmal recherchieren: Der Ort gehört zur Gemeinde Ihlow im südlichen Brandenburg, der er 2001 zugeschlagen wurde, zählt im Jahre 2016 knapp 100 Einwohner, und scheint dementsprechend ein verschlafenes Dorf zu sein, in dem man aufgeschmissen ist, wenn man über keinen fahrbaren Untersatz verfügt, wo sich die Kühe und Schafe Guten Morgen und Gute Nacht sagen, und wo das sonntägliche Kirchgang zum berichtenswerten kulturellen Event gerät.
Niendorf hat aber auch eine Königin, und von der erzählt die Nachwuchsregisseurin Joya Thoma in ihrem 2017er Debut-Film KÖNIGIN VON NIENDORF: Die Sommerferien stehen an und alle coolen Kids zieht es in ein nicht näher definiertes Jugendfreizeitcamp. Auch die zehnjährige Lea hätte dort eigentlich ein paar Wochen verbringen sollen, so wie jedes Jahr, nur verhält sich ihre beste Freundin ihr gegenüber auf einmal reserviert, meidet sie, schließt sich lieber einer hochnäsigen Clique an, behauptet, als Lea sie fragt, ob sie dieses Mal auch bei ihnen im Auto mit ins Camp fahren könne, dass sie diesen Sommer in Niendorf bleiben würde – was sich bald als glatte Lüge herausstellt: Sie will von ihren neuen Freunden nur nicht länger an Seite der introvertierten, stillen, empfindsamen Lea gesehen werden. Also bleibt Lea eben in ihrem Heimatdorf, fährt stundenlang mit dem Fahrrad durch die Landschaft, auf sich alleingestellt, da ihre Eltern größtenteils durch berufsbedingte Abwesenheit glänzen und sie sowieso über keinen besonders großen Freundeskreis zu verfügen scheint – abgesehen von einem weiteren Outsider, einem verschrobenen Musiker, der einen heruntergekommenen Hof bewohnt und den halben Tag Bier trinkend in einer Badewanne unter freiem Himmel liegt. Eines Tages beobachtet Lea eine Gruppe Buben, die sich ein eigenes Boot gezimmert haben. Gerne würde sie Teil dieser Abenteuerbande sein, doch die Jungs reagieren natürlich allergisch auf die Idee, ein Mädchen in ihre Reihe aufnehmen zu sollen. Nur eine Mutprobe könne Lea die Pforten der elitären Truppe öffnen – und auf einmal verwandeln sich die tristen Sommertage in ein Gespinst aus Alltagsabenteuern…
Obwohl Thome ihren Film dezidiert für ein jüngeres Publikum konzipiert hat und er somit, was das anvisierte Publikum betrifft, durchaus in die Altersklasse der Fans von WENDY oder BIBI UND TINA fällt, könnte KÖNIGIN VON NIENDORF nicht weiter von derartigen Streifen entfernt sein. Als ein Freund von mir vor ein paar Jahren auf einem Pferdehof lebte und arbeitete, haben wir, wenn ich ihn besuchen kam, tatsächlich viele dieser Filme gesehen: WENDY Teil 1 und WENDY Teil 2, BIBI UND TINA: MÄDCHEN GEGEN JUNGS, irgendeinen Teil aus der OSTWIND-Reihe. Ohne diese Filme nun über Gebühr kritisieren zu wollen, haben mich doch ihre oftmals eindimensionalen Figurenzeichnungen, ihre turbulente, überdrehte Komik, ihre durchschaubare Dramaturgie, die unweigerlich auf ein zuckriges Happy End zulaufen muss, ihre gesamte Machart, die darauf schielt, die Emotionen ihres Publikums in festgelegten Bahnen zu steuern statt einem auch nur ein bisschen Luft für eigene Gedanken, eigene Gefühle zu lassen, dann doch eher abgeschreckt. Joya Thomes Film ist nun das exakte Gegenteil – und das, obwohl er sich mit den oben genannten Werken durchaus ein ähnliches Setting, ähnliche Figurenkonstellationen, ähnliche Plot-Volten teilt.
Hauptdarstellerin Lisa Moell, die während der gesamten Laufzeit von etwa siebzig Minuten kaum einmal ein Lächeln über die Lippen bringt, wirkt mit ihrer fast schon apathischen Art wie die Heldin aus einem Robert-Bresson-Film; wenn die episodisch angelegte Handlung sich über weite Strecken einfach nur an ihre Fersen heftet, um sie die kleinen magischen Momente des Alltags entdecken zu lassen, dann erinnert mich das durchaus an Meisterwerke des Italienischen Neorealismus, die – wie beispielweise De Sicas LADRI DI BICICLETTE – ebenfalls den Eindruck erwecken, kein raffiniert ausgeklügeltes Drehbuch stünde ihnen im Nacken, sondern die einzelnen Ereignisse würden sich ganz organisch, beinahe zufällig ergeben; nicht zuletzt vollbringt der vor allem von ruhigen Bildern, lang ausgespielten Szenen, einer zurückhaltenden Ästhetik dominierte Film das Kunststück, uns eben nicht jede einzelne Gefühlsregung seiner Figuren in einer Weise auf dem Silbertablett zu servieren, dass man sich als Betrachter nahezu entmündigt findet: Dass zum Beispiel der Anführer der Jungenbande offenbar in Lea verknallt ist und es gar nicht gerne sieht, wie intensiv sie Zeit mit einem anderen Knaben verbringt, und sie deshalb so unfreundlich behandelt, deutet Thoma mehr an als dass sie es lang und breit ausformulieren würde; auch eine Nebenhandlung um den Vater zweier älterer Zwillinge, der eine heimliche Liebesbeziehung zu einem anderen Mann unterhält, wird völlig unaufgeregt, nahezu sanft und dadurch völlig kindgerecht in die Story eingeflochten; nicht zuletzt verzichtet Thome darauf, wirklich jedes aufgeworfene Probleme verbissen in einem glücklichen, und dadurch unrealistischen, Ausgang münden zu lassen – so muss der erwähnte Rockmusiker am Ende des Films tatsächlich seine Sache packen und Niendorf verlassen, weil die korrupte Bürgermeisterin es endlich geschafft, den missliebigen Dorfbewohner per Erpressung von Haus und Hof zu vertreiben. Statt banaler Popsongs und alles zukleisternder Orchestermusik ertönen Tocotronic und Sophie Hunger; statt Kitsch-Ästhetik, die jede Landschaftsaufnahme aussehen lässt wie aus einem Tourismuskatalog, gibt es in einem wunderschönen semi-dokumentarischen Stil getränkte Bilder Brandenburgischer Felder, Wälder, Äcker; statt Blödeleien und Melodramatik am laufenden Band setzt Thome auf Dialoge, Situationen, Figuren, die sowohl ihre Komik wie ihre Tragik daraus schöpfen, dass sie wie aus dem Leben geschnitten wirken.
Ich bin wirklich begeistert von diesem süßen kleinen Film, und wenn ich Kinder zwischen, sagen wir, acht und zwölf Jahren hätte, die ich an die Klassiker des europäischen Arthouse-Kinos heranführen wollen würde, wäre DIE KÖNIGIN VON NIENDORF derzeit meine erste Wahl: Da kann Bibi noch so versiert hexen; da kann Wendy noch so brillant reiten, pah...