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Der Augenzeuge - Pietro Germi (1946)

Verfasst: Do 20. Mai 2021, 15:04
von Salvatore Baccaro
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Originaltitel: Il Testimone

Produktionsland: Italien 1946

Regie: Pietro Germi

Darsteller: Roldano Lupi, Marina Berti, Ernesto Almirante, Sandro Ruffini, Cesare Fantoni, Arnoldo Foà


Vor einiger Zeit habe ich Pietro Germis UN MALEDETTO IMBROGILIO aus dem Jahre 1959 einen interessierten Blick geschenkt, gilt die Mixtur aus Kriminalfilm und (zumindest sacht neorealistisch angehauchtem) Sozialdrama doch als einer der wichtigsten Wegbereiter des ab den frühen 60ern mit Mario Bavas SEI DONNE PER L‘ASSASSINO an Fahrt aufnehmenden Giallo-Genres. Sicher, in Italien wird alles mit der Farbe Gelb in Zusammenhang gebracht, was irgendwie mit Mord/Totschlag und dessen kriminalistischer Aufarbeitung zu tun hat – von Agatha Christie über Sherlock Holmes bis eben hin zu den Exzessen eines Bava oder Argento. Und obwohl vieles in dem eher nüchtern erzählten, regelrecht bodenständigen UN MALEDETTO IMBROGLIO nun wirklich sehr weit entfernt ist von der Farbenpracht, der Psychologie- und Logik-Feindlichkeit, der überbordendenden Ästhetik eines Mario oder Dario, so weist der Streifen doch das eine oder andere zentrale Element auf, das wir auch in späteren Meisterwerken des Genres wiederfinden. Mit IL TESTIMONE hat Germi allerdings schon dreizehn Jahre zuvor einen Kriminalfilm gedreht – es handelt sich um seinen Debut-Spielfilm, entstanden unter dem wachsamen Auge Alessandro Blasettis –, und auch über diesen Titel bin ich kürzlich in einer italienischsprachigen Quelle gestolpert, wo er in einem Atemzug mit UN MALEDETTO IMBROGLIO das Etikett des Proto-Giallo verliehen bekommt. Nun, nachdem ich mir den Film angesehen habe, kann ich darüber jedoch nur den Kopf schütteln: Mit dem Giallo-Genre, wie es in den 60ern, 70ern virulent werden wird, hat IL TESTIMONE nun wirklich rein gar nichts gemein. Selbst beim erweiterten Giallo-Begriff wird es schwierig, den Streifen überhaupt als herkömmlichen Krimi zu labeln: Im Zentrum von Germis Film steht nämlich nicht ein Verbrechen und seine Aufklärung, stattdessen erzählt IL TESTIMONE eine manchmal tragische, manchmal rabenschwarz-humorige, größtenteils ziemlich spannende Geschichte von einem Straftäter, der versucht, sich ein bürgerliches Leben aufzubauen – und dabei aber immer wieder von der verbrecherischen Vergangenheit eingeholt wird, sei es nun in Gestalt eines lästigen Augenzeugen oder in Gestalt des eigenen schwerlastenden Gewissens.

Unser Held heißt wie unser Regisseur, Pietro, und steht zu Beginn des Films für einen Raubmord vor Gericht, der ihn bei Verurteilung den Kopf kosten könnte. Ein älterer Herr ist es, der ihn maßgeblich ans Messer liefert: Der kauzige Greis hat Pietro in der Mordnacht zu einer bestimmten Uhrzeit an einer bestimmten Straßenecke gesehen und schwört trotz mehrmaliger Intervention von Pietros Verteidiger, ob er sich denn nicht in der Zeit geirrt haben könnte, dass seine Taschenuhr unfehlbar sei. Allerdings gelingt es dem Anwalt, die Uhr des Giuseppe Marchi in die Finger zu bekommen und sie ein bisschen zu manipulieren. Während Pietro schon in der Todeszelle sitzt und seine Hoffnung mehr und mehr schwindet, er könne doch noch aus seiner misslichen Lage herausgeboxt werden, stellt Marchi fest, dass die Taschenuhr plötzlich der tatsächlichen Zeit mehrere Minuten hinterherhinkt. Das ist Grund genug für den naiven Alten, sich sofort bei der Polizei zu melden: Er sei sich auf einmal gar nicht mehr so sicher, dass er wirklich Pietro in fraglicher Nacht begegnet sei – was wiederum Grund genug für die Justiz ist, Pietro seine Strafe zu erlassen und ihm die Freiheit zu schenken. Nachdem der Ganove nunmehr bereits förmlich den Strang um den Hals gefühlt hat, beschließt er, mit seinem illegalen Leben kurzen Prozess zu machen und neu zu beginnen – und zwar mit Linda, einem Mädchen aus der Nachbarschaft, auf das er schon lange ein Auge geworfen hat. In aufrichtiger Liebe befreit Pietro die junge Frau nicht nur aus einer furchtbaren Arbeitssituation als Kellnerin, wo sie regelmäßig den sexuellen und körperlichen Übergriffen ihres Chefs ausgesetzt ist, sondern bezieht mit ihr auch ein leerstehendes, halbverfallenes Haus, macht ihr einen Heiratsantrag, möchte nach der Hochzeit Rom mit ihr verlassen und sich irgendwo anders eine gesittete bürgerliche Existenz errichten. Dann schlägt aber der Zufall zu: Als Pietro und Linda beim örtlichen Bürgeramt die notwendigen Unterlagen für ihre Trauung beantragen, ist es ausgerechnet der dort angestellte Marchi, der den Beiden über den Weg läuft, und beim Anblick Pietros von den eigenen Schuldgefühlen heimgesucht wird: Immerhin hat er diesen ehrlichen Jungen beinahe wegen seiner Falschaussage in den Tod geschickt! Ergriffen von der fixen Idee, etwas bei Pietro gutmachen zu müssen, heftet er sich fortan an das junge Paar, bringt ihnen die verlangten Dokumente noch vor abgelaufener Frist vorbei, und versetzt Pietro zunehmend in Panik, der Greis könne sich doch plötzlich erinnern, dass es wirklich er, Pietro, gewesen ist, der ihn in der Nacht des Raubmords brüsk anrempelte. Tatsächlich beginnt es in Marchi zu dämmern, je länge er Zeit mit Pietro und Linda verbringt – und vor allem stolpert sein gedankliches Brüten über den Umstand, dass Pietros Verteidiger im Gerichtsaal für ein paar Momente Zugriff auf seine sonst so untrügliche Taschenuhr gehabt hat…

IL TESTIMONE ist ein wirklich feiner, kleiner Film: Wir folgen, (was ihn zumindest strukturell dem Neorealismus angleicht, der etwa zeitgleich das italienische Kino zu internationalem Renommee verhilft), unserem Protagonisten an einer Handvoll schicksalsschwerer Tage, so, als würde kein konstruiertes Skript den Rhythmus des Films vorgeben, sondern wir einfach in verschiedene Alltagssituationen Pietros hineingeworfen werden. Germi nimmt sich viel Zeit für seine Figuren, für Pietros Panik vor dem drohenden Galgen, für sein Engagement darin, sich mit Hilfe von Linda von den Schatten der Vergangenheit zu befreien, ohne seine Verlobte freilich über die Beschaffenheit dieser Schatten aufzuklären, für seine wachsende Antipathie gegenüber Marchi, die sich zur handfesten Paranoia auswächst – ebenso widmet sich der Film aber auch dem schrulligen Beamten, den der Film uns als einen abwechselnd liebenswerten, abwechselnd nervtötenden Greis schildert, der zu keinem Zeitpunkt wirklich zu ahnen scheint, dass von seinen Handlungsschritten Pietros komplette Zukunft abhängt. Einzig Linda verblasst angesichts dieser akzentuierten, vielschichtigen Männerfiguren, was in einer Szene gipfelt, die möglicherweise angetan ist, jemandem mit ihrer offen zur Schau getragenen Misogynie den gesamten Film zu verleiden: Als Linda zu ahnen beginnt, dass Pietro ihr irgendetwas Gravierendes verschweigt, schaltet sie in den Schweige-Modus, sprich, sie wechselt mit ihrem Verlobten kein Wort mehr, bringt ihn durch ihr abweisendes Verhalten zur Weißglut, droht subtil, ihn zu verlassen, bevor es überhaupt zur Hochzeit gekommen ist, - was Pietro dahingehend erwidert, dass er Linda einfach mal eine scheuert. Kaum hat seine Hand ihre Wange gestreift, setzt das Orchester auf der Tonspur ein und Linda fällt Pietro um den Hals: Ich liebe Dich doch! Wie hier maskuline Gewalt nicht nur als probates Mittel zum Kitten von Beziehungsproblemen präsentiert wird, sondern der Film Pietros Gewaltausbruch auch noch zum Anlass nimmt, dass Linda ihm ihre Liebe gesteht, das ist schon ein starkes Stück – zumal die Inszenierung in Gestalt der Filmmusik sogar aktiv an diesem maximal fragwürdigen Moment mitwirkt, und durch dramatische Streichermusik Pietros Backfeige noch eine zusätzliche Affirmationsebene unterjubelt.

Aber das ist, wie gesagt, ein einziger, (wenn auch durchaus bedenklicher), Wermutstropfen in einem mir ansonsten dramaturgisch, inszenatorisch, schauspielerisch überaus behagenden Film: Großartig, wie Germi während einer Fahrstuhlfahrt die Gefühle seiner Protagonisten Linda, Pietro, Marchi allein durch wechselnde Großaufnahme ihrer Gesichter zum Ausdruck zu bringen versteht; ebenso großartig der Prolog, der einsetzt wie eine Dokumentation über das Großstadttreiben Roms, und dann langsam hineinzoomt in den Gerichtssaal, wo Pietro auf seinen Freispruch hofft; ebenso großartig die Szenen im Todestrakt, als ein Zellennachbar Pietros vor diesem zum Schafott abtransportiert wird, und man einen Vorhang vor Pietros Zelle zuzieht, damit dieser den letzten Gang seines Leidesgenossen nicht mitansehen kann; großartig, wie Germi das leise Bröckeln des Liebesidylls von Pietro und Linda veranschaulicht, wenn er das Paar einander in ein und derselben Szene aus ähnlichen Motiven belügen lässt, und nur wir als Zuschauer wissen, wer da wem weshalb etwas vormacht; nicht zuletzt großartig auch die satirische Weise, mit der Germi dem Bürokratieapparat sowohl auf dem Bürgeramt wie im Justizministerium zu Leibe rückt: Da fühlt man sich beinahe schon an den berühmten Passierschein A38 aus LES DOUZE TRAVAUX D’ASTÉRIX erinnert, wenn Pietro wegen einer läppischen Heiratsurkunde von Schalter X zu Schalter Y und dann wieder zurück zu Schalter X geschickt wird, oder wenn er, nur um ein Dokument zu erhalten, das ihm den Freispruch attestiert, nacheinander bei zahllosen Beamte in einem chaotischen Großraumbüro vorstellig werden muss…

Re: Der Augenzeuge - Pietro Germi (1946)

Verfasst: So 13. Jun 2021, 11:55
von sergio petroni
Die ofdb unterschlägt diesen Debutfilm von Germi doch glatt.....