La belle Nivernaise - Jean Epstein (1924)
Verfasst: Di 29. Jun 2021, 20:07
Originaltitel: La belle Nivernaise
Produktionsland: Frankreich 1924
Regie: Jean Epstein
Darsteller: Blanche Montel, Marie Lacroix, Maurice Touzé, Pierre Hot, Max Bonnet, Jean-David Évremond
Das entbehrungsreiche Leben des Waisenknaben Victor auf den Straßen von Paris findet ein jähes Ende, als Passanten auf das herumstrolchende und bettelnde Kind aufmerksam werden. Die Hauptstadtpolizei nimmt sich des Buben an und plant, ihn ins örtliche Kinderheim zu stecken. Einer bruchlosen Fortführung seiner unglücklichen Existenz entgeht Victor allerdings dadurch, dass der Schleppkahnschiffer Louveau, der gerade beruflich in Paris weilt, sich bereiterklärt, ihn an Kindes Statt bei sich aufzunehmen. Begeistert ist seine Gattin freilich nicht darüber, dass ihr Ehemann mit einem weiteren zu stopfenden Mäulchen nach Hause aufs Schiff zurückkehrt: Ist es denn wirklich nötig, neben Töchterchen Clara nun auch noch einen fremden Bengel aufzuziehen? Zwar verspricht Louveau ihr, den Jungen bald wieder nach Paris zurückzubringen, doch schnell finden sowohl Ehefrau wie Tochter Gefallen an Victor. Er mausert sich zum vollwertigen Familienmitglied, und es steht nicht mehr zu Debatte, dass man ihn verstoßen könne. Eifersüchtig ist nur ein Hilfsarbeiter Louveaus mit Spitznamen „L’Equipage“, der in den folgenden Jahren, in denen Victor und Clara zu Teenagern heranreifen, zunehmend die Felle davonschwimmen sieht, die er sich schon zukunfts-rosig ausgemalt hat, nämlich einmal sowohl Louveaus Kahn wie auch Claras Hand zu (über)nehmen. Nun macht ihm aber Victor diese Rolle streitig: Louveau möchte diesem später einmal sein ganzes Hab und Gut vererben, und auch Clara liegt der Gedanke überhaupt nicht fern, sich einmal an Victors Seite als Ehefrau wiederzufinden. Parallel brechen mehrere Schicksalsschläge über dem Idyll herein: Zum einen unternimmt „L’Equipage“ den niederträchtigen Versuch, Clara zu vergewaltigen und Victor auszuschalten, wobei dieser in letzter Sekunde den Familienkahn „La belle Nivernaise“ davor bewahren kann, mit einer Flussschleuse zu kollidieren und sie allesamt in den Untergang zu reißen; zum andern erhält Louveau einen Brief aus Paris, in dem es heißt, dass die wahre Existenz von Victor habe festgestellt werden können, und dass es sich bei seinem leiblichen Vater um einen Kohleschiffer namens Maugendré handeln solle, mit dem Louveau weitläufig bekannt ist. Es nutzt nichts, trotz Victors heroischer Tat, mit der er Claras Jungfräulichkeit und Leben gerettet hat, wird er auf behördliche Anordnung dem eigentlichen Erzeuger überstellt, der mit dem Jungen Großes vorhat: Er soll eine renommierte Handelsschule in Paris besuchen, fernab der geliebten Louveau-Familie und den Freuden der Binnenseefahrt. Es dauert nicht lange und unser minderjähriger Held verfällt angesichts des strengen Schulregiments in schwere Depressionen…
1924 dreht der 26-jährige Jean Epstein seinen inzwischen dritten Spielfilm in Eigenregie und bleibt formal und inhaltlich seinem kleinen Meisterwerk COEUR FIDÈLE treu, mit dem er ein Jahr zuvor außerordentlich kühne Avantgarde-Experimente (entfesselte Kamera; assoziative Überblendungen; extreme Großaufnahmen; lyrische Aufnahmen von Meer und Küste; der Blick der Darsteller mitten ins Kameraobjektiv hinein) mit einer (im besten Sinne) tränendrüsenaktivierenden melodramatischen Handlung verbunden hatte. Auch in LA BELLE NIVERNAISE finden wir all diese ästhetisch-technischen sowie inhaltlichen Ingredienzien wieder: Erzählt wird (nach einer mir unbekannten Romanvorlage Alphonse Daudets) eine herzzerreißende Geschichte um jugendliche Liebe, Familienzusammenhalt über biologische Schranken hinweg und die Unterjochung des adoleszenten Individuums in einem restriktiven Schul- und Staatssystem. (Gerade die Szenen im letzten Drittel, in denen Victor seine tristen Tage in einem wenig humanistisch anmutenden Handelsgymnasium fristet, erinnern mich sowohl ein bisschen an Jean Vigos ZÉRO DE CONDUITE von 1933 wie auch an das „Heimweh nach der Gasse“ des kleinen GRIBICHE in Jacques Feyders gleichnamigem Film von 1926.) Nahezu stilprägend montiert ist im Übrigen die lange Sequenz, in der „L’Equipage“ Clara und Victor ans Leder will und der Louveau-Kahn droht, in den Fahrwassern unmittelbar vor einer Schleuse zu kentern: Das ist veritables Actionkino, nicht etwa im Studio gefilmt, sondern unter freiem Himmel und über tatsächlich heftig schäumenden Wellen, wie man es aus den 10ern und 20ern vor allem von Vertretern der Skandinavischen Schule kennt.
Mit seinen Experimenten freilich treibt es Epstein bei LA BELLE NIVERNAISE nicht so weit wie in COEUR FIDÈLE, sondern konzentriert sich eher auf die (zugegebenermaßen mit einigen Unwahrscheinlichkeiten versehene) Story. (Ich meine, ernsthaft: Der leibliche Vater und der Adoptivvater Victors sind ganz zufällig Geschäftspartner, die sich seit Jahren kennen? Es mag allerdings sein, dass Epstein dieses reichlich konstruiert daherkommende Detail aus dem zugrundeliegenden literarischen Text Daudets in sein Drehbuch hinübergenommen hat.) Einige wundervolle Momente gibt's natürlich dennoch, vor allem dann, wenn Epsteins seiner (im Spätwerk noch viel exzessiver ausufernden) Liebe zur See Ausdruck verleiht: Wir befinden uns zwar nicht am Meer, was den jungen Regisseur jedoch nicht davon abhält, den Nivernaise-Kanal zwischen Loire und Seine mit genau dem zärtlich-poetischen Blick zu betrachten, der ihn immer dann befällt, wenn es um fließende Gewässer geht. Grotesk ist eine – ich kann es kaum anders nennen – frühe „Breakdance“-Einlage eines der Internatsschüler, der mit seinen Extremitäten umherwirbelt und seine Gesichtszüge entgleisen lässt, dass ich mich hätte totlachen können, (und der dafür von einem der Lehrer zur Strafe am Ohr gezupft wird.) Eher irritiert hat mich wiederum die christlich-religiöse Metaphorik, in der sich der Film in diversen Zwischensegmenten verliert: Vor allem, wenn Clara als Madonna hochstilisiert wird, dann grenzt das gefährlich an unfreiwillig komischen Pathos, wie man ihn im Kontext des Französischen Filmimpressionismus eher von Abel Gance erwarten würde.
Herzstück des Films ist allerdings die Sequenz im Mittelteil, wenn Victor und Clara sich erstmals allein zu zweit in die Hauptstadt aufmachen und, unter anderem, in einem Lichtspieltheater landen. An den paar Minuten, in denen die jungen Liebenden einer Kinovorstellung beiwohnen, ist vieles wunderbar: Dass Epstein in einem süßen Meta-Move im Hintergrund des Saals ein Plakat seines Debüt-Films L’AUBERGE ROUGE von 1923 aufgehängt hat; dass auf der Leinwand ein steif-theatralischer Kostümfilm läuft, der sich in allen Belangen von dem agilen, vitalen, stürmischen Kino unterscheidet, das Epstein selbst praktiziert, (so, als wolle er seinen noch viel stärker der Bühne und dem Buch verhafteten Kollegen eine lange Nase drehen); dass wir überhaupt miterleben, wie ein Pärchen aufgesogen wird von bewegten Leinwandbildern, und sich ihre unschuldige Liebe sozusagen mit der Geburt einer neuen Kunst vermählt. Dass Epstein als einer (von vielen) Wegbereitern der Nouvelle Vague gilt, wird einem in einem solchen Moment plötzlich schlagartig verständlich, denn weit sind wir hier wirklich nicht mehr von der selbstreflexiven Ironie, mit der Godard, Truffaut und Konsorten ihr eigenes Medium bespiegelt haben: Cinephiles Konfekt, indeed!