Seite 1 von 2

Nomadland - Chloé Zhao (2020)

Verfasst: Sa 14. Aug 2021, 22:28
von Salvatore Baccaro
0109682.jpg
0109682.jpg (284.43 KiB) 536 mal betrachtet

Originaltitel: Nomadland

Produktionsland: USA 2020

Regie: Chloé Zhao

Darsteller: Frances McDormand, David Strathairn, Linda May, Charlene Swankie, Bob Wells, Derek Endres, Peter Spears


Kürzlich führte ich eine illustre Truppe von Menschen aus ganz unterschiedlichen Phasen meines Lebens – Abitur; Studium an Universität A; Studium an Universität B; Wohnsituation; Freundschaft außerhalb jedweder Bildungsinstitution – eine meiner liebsten Spaziergangsstrecken im Braunschweiger Umland entlang: Vom Kernstadtgebiet hinaus gen Veltenhof, einer ehemaligen Enklave, wo im 18. Jahrhundert vom Herzog eine Handvoll Pfälzer angesiedelt worden ist, die aus Glaubensgründen ihre süddeutschen Heimat verlassen mussten, und nunmehr im hiesigen Moor- und Sumpfland Spargel und Tabak anbauen sollten. Grund dafür, dass all diese einander vorher völlig unbekannten Menschen zusammengekommen sind, ist meine Doktorandenprüfung: Eineinhalb Stunden stehe ich schwitzend in einem tristen Hörsaal und muss mir von einer mehrköpfigen Kommission Fragen gefallen lassen, die teilweise derart verkopft sind, dass ich sie mir mit der gründlichsten Vorbereitung nicht hätte ausdenken können. Als Ergebnis schäumt glücklicherweise der Champagner in von meinem Doktorvater bereitgestellte Gläser und erst knallt die Sonne auf das Ex-Kasernen-Gelände, wo heute ein Campus ist, und dann kommt der Regen, und schließlich, nachdem die Vertreter der Akademie sich verzogen haben, steht die Frage meiner Entourage im Raum: Wo feiern wir jetzt Dein Bestehen, Salvatore!

Salvatore sagt, er wolle bei seinem Lieblingsgriechen in Veltenhof feiern, man könne dann ja auch die Holländermühle besuchen, die in den 1930ern zum Gotteshaus umfunktioniert worden ist, und an der Oker entlang zum Obelisken laufen, der als Denkmal für die Schlacht von Ölper errichtet wurde, bei der 1809 die Truppen des Schwarzen Herzogs Napoleons Armee das Fürchten lehrte, - doch dann verlaufen wir uns, und das Maulen wird immer größer: Wir haben Hunger!, Wir dachten, wir betrinken uns!, Wieso müssen wir jetzt stundenlang durch die Pampa wandern?, tja, und dann steht da noch dieses große handbeschriftete Schild im Wirtshausfenster: Betriebsurlaub! Wir enden in einem Tennisclub, wo es immerhin Bier und Speisen gibt, und einer meiner Freunde posaunt in den (halbleeren) Speisesaal hinaus: Dieser junge Mann hier hat heute seinen Doktor gemacht!; die Kellnerin, eine herzliche Frau jenseits der 60, ist sofort mit einer Frage zur Stelle, die wirkt, als ob sie testen möchte, ob ich mir meine Doktorwürde auch redlich verdient habe: Vorhin habe ich mit meinem Mann gestritten, wofür denn dieser NOMADLAND, den wir gestern im Kino gesehen haben, den Oscar gewonnen hat, für bester Film oder für beste Hauptdarstellerin?; ich streiche alle Segel, die ich finde, und muss gestehen, dass ich nicht mal den Namen des Films bislang bewusst vernommen habe: Oscar?, was war das eigentlich überhaupt nochmal? Zwischen Ofenkartoffeln, Pfifferlingspfannen, bitterem Bier, das mit Waldmeistersirup gesüßt worden ist, fällt die Entscheidung ohne mein Zutun: Läuft der heute irgendwo in Braunschweig?, lasst uns ins Kino gehen!; das Grab von Lessing, das können wir uns auch noch nachts anschauen!

Wenn in letzter Zeit die Bezeichnung, etwas sei weder Fisch noch Fleisch, auf einen von mir gesichteten Film zugetroffen hat, dann dürfte das der dritte Langfilm der gebürtigen Chinesin Chloé Zhao sein. Was offensichtlich auch vollkommen dem inszenatorisch-ästhetischen Konzept Zhaos entspricht: Fisch, das wäre in dem Fall der Bereich des Dokumentarischen, und Fleisch das klassische Illusionskinos, beides ja in den (überholten) Meisterzählungen von der Geburt der Kinos fein säuberlich getrennt, - auf der einen Seite die Lumières mit ihren dokumentarischen Ansichten von Fabrikarbeitern, Babys, Kätzchen, auf der andern Seite Méliès mit seinen Zaubertkunststückchen, Feenmärchen, Actionplots. Dass eine klare Distinktionslinie zwischen beidem wirklich sinnvoll nicht gezogen werden kann, zeigt freilich allein schon, dass auch die Lumières mit narrativen Ansätzen gearbeitet haben, (und wenn es bloß Slapstick-Sketche gewesen sind, eingebettet in eine wenn auch noch so rudimentäre Erzählung), oder aber, dass es auch in Méliès' Katalog etliche der üblichen non-narrativen Straßenansichten gab, bei denen einfach voyeuristisch Passanten, Gebäude, Fahrzeuge beäugt werden. Zhao verwirft ebenfalls solch engstirnigen Kategorisierungen: Ihr Film beruht auf dem Sachbuch NOMADLAND der Journalistin Jessica Bruder, in dem diese das Leben mehrerer Aussteiger dokumentiert, die auf traditionelles Wohnen verzichten und stattdessen als Lohnarbeiter (drastisch könnte man auch sagen: Wirtschaftsverlierer) in ihren Wohnmobilen kreuz und quer durch die Lande ziehen; auch werden viele Rollen ihres Films mit Menschen besetzt, die sich quasi selbst spielen, oder aber vor der Kamera ihr authentisches Selbst zu präsentieren scheinen, eben vor allem tatsächliche moderne Nomaden, die wiederum Zhao bei ihren eigenen Recherchen für NOMADLAND kennengelernt hat, darunter auch Bob Wells, eine Art, (ohne diesen Ausdruck despektierlich zu meinen), Guru der sogenannten Vandwelling-Community, der er in zahlreichen Internetvideos und Texten eine Stimme verschafft. Dennoch ist NOMADLAND nicht frei von Anleihen des Spielfilmkinos, - was man allein daran sieht, dass in der Hauptrolle der verwitweten Fern, die im fortgeschrittenen Alter, weil sie mit ihren Finanzen vorne bis hinten nicht über die Runden kommt, ihr Wohnmobil zu Haus und Herd werden lässt, mit Frances McDormand eine professionelle Schauspielerin glänzt; natürlich trägt auch die fachmännische Inszenierung (Kamera, Montage) dazu bei, dass NOMADLAND rein ästhetisch mehr der Norm einer (mainstreamigen) Independent-Produktion entspricht, und nicht zuletzt ist es der Soundtrack, der den Eindruck unverstellter Unmittelbarkeit großflächig sabotiert, - (ein Soundtrack übrigens, der mir beinahe den Genuss dieses Films vergällt hätte: Nein, diese tränendrüsenstimulierende Klavier- und Streichermusik, die hat nicht mal ein noch so schmalziges Melodram verdient.)

Ich mag NOMADLAND seine berührenden Momente nicht absprechen, (die vor allem dann stattfinden, sobald der Score sich in Schweigen hüllt): Wenn Bob Wells mit Kloß im Hals vom Suizid seines Sohnes spricht; wenn wir mit den Lebensgeschichten einer Reihe von Figuren vertraut gemacht werden, die aus den unterschiedlichsten Gründen, mal aufgrund bewusster Entscheidungen, mal aufgrund schwerer Schicksalsschläge, ihr Eigenheim gegen den Highway eingetauscht haben; wenn eine alte schwerkranke Dame ihren letzten Wunsch verkündet, noch einmal an einem bestimmten Ort in Alaska im Meer zu schwimmen, über und unter sich Schwärme von Schwalben, da diese sich im Wasser spiegeln, als sei sie völlig umkreist von ihnen, und sich wünscht, in dieser Sekunde höchsten Glücks zu sterben, (was sie dann auch tut). Auch zeigt der Film (zumindest an der Peripherie) ein bisschen etwas von der hässlichen Seite des US-Kapitalismus (Tagelöhner bei Amazon zu sein) und von den Schattenseiten des Vandwellings (akuter Ameisenbefall im Wohnwagen), - und auch über die schauspielerische Leistung McDormands muss man nicht viele Worte verlieren, außer eben die, dass sie ihre Fern wundervoll irgendwo zwischen autistischer Unbeholfenheit, stirnstarrem Trotz und verletzlicher Sehnsucht verkörpert. Ich fände es legitim, NOMADLAND als so etwas wie eine Gegenthese zu Jack Kerouacs Kultbuch ON THE ROAD zu begreifen: Der Traum von Freiheit, Permanentrausch, Grenzerfahrungen hat sich in der Welt, in der Fern beheimatet ist, in sein basales Komplementärstück verkehrt. Wo Kerouacs Helden noch aus freien Stücken die Staaten bereisten, Jazz im Ohr und Drugz und Booze im Blut, sind die meisten der Figuren in NOMADLAND zunächst einmal regelrecht aus der Gesellschaft herausgekickt werden, - sei es, weil die Rente nicht reicht, um sich eine Wohnung zu leisten, sei es, weil sie sich partout nicht in ein System einpassen konnten, das ökonomische Wirtschaftsleistung mit Erfolg gleichsetzt, sei es, weil sie in ihrem unmittelbaren Umfeld Beispiele von Menschen hatten, die sich buchstäblich zu Tode geschuftet haben.

Das Aber muss leider folgen wie das Amen in der Mühlenkirche: Diese Weder-Fisch-Noch-Fleisch-Haftigkeit des Films hat mich im Grunde überhaupt nicht abgeholt, - und eigentlich habe ich mir während der gesamten hundert Minuten Laufzeit unermüdlich zweierlei gewünscht: Dass a) jemand aus dem Stoff eine schonungslose Dokumentation über die ökonomischen, politischen, sozialen Faktoren gedreht hätte, die Menschen wie Fern (abseits ihrer persönlichen Dispositionen) an den Rand der Gesellschaft drängen, (ob man diese randgesellschaftliche Existenz dabei positiv, negativ oder neutral bewertet, einmal völlig dahingestellt) – was hätte beispielweise ein Frederik Wiseman mit diesem Sujet angestellt?, oder dass b) jemand all die dokumentarischen Anteile weitgehend beiseite getan hätte, um ein rein narrativ orientiertes Drama über eine sozial ausgegrenzte, dabei manchmal zufriedene, manchmal mit ihrem Schicksal hadernde Frau jenseits der Fünfzig zu drehen, (eine Kelly Reichhardt zum Beispiel, an deren WENDY & LUCY ich manchmal denken musste.)

Viele meiner Gäste sind begeistert, manche maulen noch immer, und dann noch mehr, als ich vorschlage, wir könnten uns jetzt doch noch gleich im Anschluss OSTWIND 5 reinpfeifen, den ich schon seit Wochen sehen möchte: Bist Du denn des Wahnsinns?, Wir betrinken uns jetzt!, Los, wo ist die nächste Kneipe!

Re: Nomadland - Chloé Zhao (2020)

Verfasst: Sa 14. Aug 2021, 23:15
von Arkadin
Gratulation zum Doktor, Herr Doktor! :prost: :thup:

Re: Nomadland - Chloé Zhao (2020)

Verfasst: So 15. Aug 2021, 07:40
von sergio petroni
Herzlichen Glückwunsch Salvatore! :prost:

Re: Nomadland - Chloé Zhao (2020)

Verfasst: So 15. Aug 2021, 07:52
von jogiwan
Bravo! Ich gratuliere! :prost:

Re: Nomadland - Chloé Zhao (2020)

Verfasst: So 15. Aug 2021, 10:30
von McBrewer
1930732_35505721909_2128_n-removebg-preview(1).png
1930732_35505721909_2128_n-removebg-preview(1).png (581 KiB) 509 mal betrachtet
Da staunt nicht nur der Salvatore: der Dottore-Titel ist in Sack & Tüten :prost:
Herzlichen Glückwunsch und danke für die Oscar-reife Filmevorstellung von NOMADLAND.
und nun: schnell noch OSTWIND 5 geschaut :popcorn:

Re: Nomadland - Chloé Zhao (2020)

Verfasst: So 15. Aug 2021, 13:47
von Maulwurf
Auch von mir Herzlichen Glückwunsch, Dottore Salvatore! :prost: :thup:

Re: Nomadland - Chloé Zhao (2020)

Verfasst: So 15. Aug 2021, 14:07
von Salvatore Baccaro
Haha. Fliegende Doktorhüte statt fliegende Kürbisköpfe!

Danke euch! :knutsch:

Re: Nomadland - Chloé Zhao (2020)

Verfasst: So 15. Aug 2021, 19:54
von purgatorio
Kaum bin ich aus dem Urlaub zurück, ist der Salvatore-Christoph schon Dottore von universitärem Gnaden! Glückwunsch und Hut ab - respektive: Hut auf! :prost: Ich bin heftig auf die Diss gespannt :mrgreen:

Re: Nomadland - Chloé Zhao (2020)

Verfasst: So 15. Aug 2021, 20:19
von Reinifilm
Eine gute Nachricht und eine schlechte Nachricht:
Die Gute - dein Doktor! :thup:
Die Schlechte - ich fand den Film ziemlich gut! :mrgreen:

Re: Nomadland - Chloé Zhao (2020)

Verfasst: So 15. Aug 2021, 22:14
von Salvatore Baccaro
Reinifilm hat geschrieben: So 15. Aug 2021, 20:19 Die Schlechte - ich fand den Film ziemlich gut! :mrgreen:
Das ist keine schlechte Nachricht. Das sind unterschiedliche Geschmacksnerven... :wink: