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Originaltitel: Crock of Gold: A Few Rounds with Shane MacGowan
Herstellungsland: Großbritannien / USA (2020)
Regie: Julien Temple
Mitwirkende: Shane MacGowan, Johnny Depp, Siobhan MacGowan, Maurice MacGowan, Victoria Mary Clarke, Gerry Adams, Ann Scanlon, Bobby Gillespie, The Pogues, Bono, Nick Cave, Paolo Ikonomi u. A.
Nach den furiosen Rockumentarys THE GREAT ROCK ‘N‘ ROLL SWINDLE über die Sex Pistols und JOE STRUMMER – THE FUTURE IS UNWRITTEN ist Temple mit SHANE erneut ein mitreißender Film über die Punkbewegung und ihre Galionsfiguren gelungen. Ein halluzinierender Tauchgang in die brodelnde Welt des Folk-Punk, der anarchischen Zerstörungswut und der blanken Poesie hinter rausgekotzten Worten.
„Das haben mir die Leute schon vor 30 Jahren erzählt: ,Mach' so weiter und du wirst deinen 20. Geburtstag nicht mehr erleben.' Mindestens die Hälfte von denen schauen sich mittlerweile die Radieschen von unten an. Allmächtiger! Wenn ich keine Lust hätte zu Leben, dann wäre ich schon lange nicht mehr hier!“ – Shane MacGowan
Der britische Filmemacher Julien Temple, der bereits Ende der 1970er den Sex-Pistols-Film „The Great Rock 'n' Roll Swindle“ gedreht hatte und für den im Jahre 2007 veröffentlichten, vielbeachteten Joe-Strummer-Dokumentarfilm „The Future Is Unwritten“ verantwortlich zeichnet, wandte sich Ende der 2020er erneut dem Punk zu. Das Ergebnis lautet im Original „Crock of Gold: A Few Rounds with Shane MacGowan” (in der deutschen Fassung radikal verkürzt auf „Shane“) und widmet sich eben jenem Urgestein des Irish-Folk-Punks, das mit seiner Band The Pogues zu Beginn der 1980er das Genre begründete und mit seinen Erfolgen die traditionelle Musik seiner Heimat einem breiten Publikum über die Subkultur hinaus nahebrachte.
Der rund zweistündige Dokumentarfilm, produziert von Temple, Johnny Depp und Stephen Deuters (Co-Produktion: Patrick O'Neill), ist eine formal über weite Strecken streng chronologisch vorgehende Musiker-Biographie, die jedoch aus zahlreichen Versatzstücken und Stilelementen zu einem bunten Trip collagiert wurde: Temple eröffnet seinen Film mit irische Legenden aufgreifenden Animationssequenzen und verknüpft fortan rasant geschnitten mit Schauspielern nachgespielte Szenen aus Shanes Kindheit, zahlreiches authentisches, rares Archivmaterial, Fotos, Videoclip- und TV-Auszüge sowie mehrere eigens für den Film mit dem 61-jährigen MacGowan geführte Interviews (oder besser: Gespräche miteinander). Und da MacGowan eng mit der Geschichte seiner irischen Heimat verbunden ist, bekommt man einigen Geschichtsunterricht obendrein: Die Hungersnot im 19. Jahrhundert, die Kämpfe gegen den britischen Imperialismus/Kolonialismus, Iren im US-Exil, die IRA.
MacGowan führt als nuscheliger Off-Erzähler persönlich durch den biographischen und dokumentarischen Teil des Films; die deutschen Untertitel der deutschen Fassung sind da keine Option, sondern unabdingbar (und das Schönste: Sogar die angespielten Pogues-Songs werden übersetzt). Vom Leben ist er mittlerweile gezeichnet, seit einer Knieverletzung im Jahre 2020 auf den Rollstuhl angewiesen, kaum zu mimischen Regungen fähig. Die Vermutung, dass sein Zustand auf seinen jahrzehntelangen Genuss von Alkohol und anderen Rauschmitteln zurückzuführen ist, liegt nahe. Nach eigenen Angaben hat ihn seine verrückte Tante bereits im Vorschulalter mit Alkoholika und Zigaretten versorgt, was doch einigermaßen in Erstaunen versetzt. Ungebrochen sind jedoch MacGowans wacher Geist und sein herrlich trockener Humor, meist begleitet von einem Zischen durch die dritten Zähne – seine Art zu lachen. Ausgehend von seiner Kindheit auf der irischen Farm seiner Familie in Tipperary, auf deren Feiern er früh mit irischer Musik in Berührung kam und zum Singen und Feiern animiert wurde, über den Umzug mit seiner Familie nach Südostengland, seine dortige Schulzeit und die anti-irischen Anfeindungen, die er zu erleiden hatte, bis zu seiner Jugend in London inmitten der Punk-Explosion in der zweiten Hälfte der 1970er erzählt der Film, wie MacGowan aufwuchs und schließlich den Punk für sich entdeckte, während zeitgleich die Medien auf den hageren Mann mit den schlechten Zähnen und dem verhaltensauffälligen Habitus aufmerksam wurden. Shane gründete seine erste Punkband, The Nipple Erectors, und schließlich The Pogues.
Die in ausführlichen Passagen implementierten Gespräche führten sein Freund Johnny Depp, ein berühmter Schauspieler, Gerry Adams, ehemaliger Präsident der irisch-republikanischen Partei Sinn Féin und maßgeblich am irisch-britischen Friedensprozess beteiligt, sowie seine Ehefrau Victoria Mary Clarke mit ihm. Dabei geht es um irische Politik und Kultur, um Alkohol und andere Drogen, um sein Selbstverständnis als Künstler, Ire und Mensch und natürlich um Musik. Die wichtigsten Stationen seines Lebens werden mit zahlreichen Anekdoten angereichert. Man erfährt aus erster Hand, wie MacGowan mit den späteren The-Pogues-Alben haderte, die weg vom Irish Folk hin zu massenkompatiblerem, damit aber auch weniger charakteristischer Rockmusik tendierten. Und wie er irgendwann nur noch funktionieren musste: Es ist im Prinzip die immer gleiche, schon so oft von anderen Bands gehörte Geschichte gieriger Managements, die ihre Künstler ausquetschen bis zum Geht-nicht-mehr. Die ständigen Auftritte und Tourneen zehrten MacGowan derart aus, dass er, 1991 am Ende seiner Kräfte angelangt, gar aus seiner Band geworfen wurde. Daraufhin gründete er The Popes, während The Pogues ohne ihn weitermachten. Diese Kapitel aus MacGowans Vita werden jedoch nicht weiter vertieft. Dafür wird dem unvergleichlichen Weihnachtslied „Fairytale Of New York“ ein Kapitel gewidmet, das zu einem echten saisonalen Dauerbrenner geworden ist.
Zu Wort kommen auch MacGowans Eltern und seine Schwester Siobhan, seinen Werdegang und die familiären Verhältnisse aus ihrer Sicht kommentierend. Schade hingegen, dass sich kaum ein anderes Bandmitglied der Pogues äußert. Hier wäre interessant zu wissen, ob sie von sich aus nicht konnten respektive wollten – oder ob MacGowan keinen Wert darauf gelegt hatte. Bemerkenswert ist dagegen die These, dass es MacGowans Diaspora in London gewesen sei, die ihn sich auf seine Wurzeln besinnen ließ, ohne die The Pogues gar nicht möglich gewesen sei. Das fügt sich gut ins vermittelte Bild des ewigen irischen Rebellen MacGowan, des unbändig stolzen Patrioten, der es in einem der Gespräche sogar bedauert, nicht mehr für die irische Republik getan, nie zusammen mit der IRA gekämpft zu haben. Letzteres ist der Moment, in dem man ihm zurufen möchte, dass er es genau richtig gemacht hat und es auch die IRA nicht wert ist, sein eigenes Leben, seine künstlerischen Ambitionen, sein eigentliches Talent für sie aufzugeben, dass er auf seine Weise weit mehr erreicht hat.
Temples Film endet mit Aufnahmen des Tribut-Konzerts anlässlich MacGowans 60. Geburtstags, das in Dublin stattfand, bei dem auch Nick Cave und der unvermeidliche Bono auf der Bühne standen – und in dessen Rahmen MacGowan der Preis für sein Lebenswerk feierlich verliehen wurde. Ein runder Abschluss eines Films, der einem Shane MacGowan und seine Lebensphilosophie näherbringt, zu der auch gehört, dem Alkohol zuzusprechen, um das Leben noch mehr genießen zu können. Zwischen dem etwas erschreckenden, nachdenklich, vielleicht auch traurig stimmenden, Anlass zur Sorge gebenden Bild, das er äußerlich abgibt, und seiner Lebenslust, die er gegen Ende noch einmal formuliert, mag eine Diskrepanz bestehen – aber war dies nicht schon immer der Fall, weshalb ein Fernsehmoderator ihn bereits in jungen Jahren damit konfrontierte, stets auszusehen, als kippe er jeden Moment um? Shane MacGowan, ein großer Musiker und Poet, ein belesenes, geschichtsbewusstes und politisch wie kulturell bewandertes Genie, das seinen Intellekt nie heraushängen ließ, sondern sich stets als einfacher Mann seines Volkes präsentierte – und dem Rezensenten durch diese Zusammenarbeit mit Julien Temple den bisherigen Kino-Höhepunkt des Jahres 2021 bescherte, in dessen Zuge eine ordentliche Schneise in die Bar getrunken wurde.
Wer sich auch nur ansatzweise für Punk, Irland oder Saufen interessiert, muss diesen Film gesehen haben. Auf dich, Shane – sláinte!
Re: Shane - Julien Temple (2020) [Doku]
Verfasst: Sa 11. Sep 2021, 20:39
von sergio petroni
Da gibt es noch keine VÖ von?
Re: Shane - Julien Temple (2020) [Doku]
Verfasst: Mo 13. Sep 2021, 15:56
von buxtebrawler
sergio petroni hat geschrieben: ↑Sa 11. Sep 2021, 20:39
Da gibt es noch keine VÖ von?
Es existiert eine britische DVD:
Ich würde dir aber empfehlen, die für den 13.01.2022 bei Neue Visionen angekündigte dt. Fassung abzuwarten, die die deutschen Untertitel enthalten wird:
Oder zu schauen, ob der bei dir in der Nähe noch im Kino läuft!
Re: Shane - Julien Temple (2020) [Doku]
Verfasst: Di 14. Sep 2021, 07:56
von sergio petroni
@bux: Danke für die Tips!
Re: Shane - Julien Temple (2020) [Doku]
Verfasst: Mi 29. Jun 2022, 09:10
von fritzcarraldo
Für Gott und Irland. Shane
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Amazon Prime.
OmU.
Damals in den 80ern lief DIRTY OLD TOWN von den Pogues bei uns rauf und runter.
Und na klar. Auch unser Dorf war gemeint.
Ich hatte dann natürlich die RUM, SODOMY AND THE LASH im Plattenschrank. Bis zur HELL'S DITCH habe ich die Pogues dann noch sporadisch gehört. Dann verlor sich der Weg. Mir war irgendwie immer klar, dass diese Musik über den üblichen Irish-Folk hinaus ging, wie sich die Story um Sänger Shane MacGowan genau gestaltete, war mir nicht ganz so bewusst.
Die Doku von Regisseur Julien Temple schafft da nun Abhilfe für mich.
Ich muss zugeben, dass die erste Hälfte des Films, die Nacherzählung mit div. Collage-Techniken der Kindheit und Jugend MacGowans stilistisch nicht ganz so meins ist. Das ist aber eher Geschmackssache.
Als es dann aber endlich mit dem dazugehörigen Archivmaterial an die End-70er und 80er ging, war ich ganz bei der Sache. Dazu die Gespräche direkt mit MacGowan, in denen er nuschelnd Einblicke in sein Seelenleben gibt. Kaum zu verstehen sind da Untertitel Pflicht. Bei dieser Streaming-Version waren sie fest dabei.
Live fast die young. Was wenn man nach einem Leben voller Alkohol und Drogen nicht früh stirbt? SHANE zeigt auch dies. Wobei man dabei einen körperlich gebrochenen Mann sieht, mit wachem Geist, dem man gerne zuhört und dem man abnimmt, dass er (fast) alles wieder so machen würde.
Außer vielleicht 363 von 365 Tagen im Jahr Konzerte geben oder den Song "Fiesta".
Und als zum Schluss dann noch das Tribute-Konzert gezeigt wird, musste ich dann doch eine kleine Träne verdrücken.
Darauf ein Irish Stout.
Sláinte.
I'm not so much a rock star, d'ya know what I mean? I play Irish music. There's really no age when you stop playing Irish music. Even if I retired from playing onstage, I'd still be singing in pubs. Shane MacGowan
Re: Shane - Julien Temple (2020) [Doku]
Verfasst: Do 3. Nov 2022, 09:47
von karlAbundzu
Shane (Julien Templer, 2020)
Eine Dokumentation über Shane MacGowan, der Sänger der Pogues. Und einer der interessantesten Figuren des frühen Punkrocks.
Temple lässt Shane hier auf Bobby Gillespie, Johnny Depp und Gerry Adams treffen. Sehr schön, wie unterschiedlich er mit den dreien agiert und sich gibt.
Dazu gibt es ältere Interviews, Tv-Auftritte, Konzert -Auschnitte, Animationen, Filmausschnitte, dokumentarisches Material. Ergänzt mit Interviews von Lebensbegleitern. Wir lernen einiges über die jüngere Geschichte Irlands.
Tendenziell chronologisch, aber auch Sachen auslassen, und man hat immer den Eindruck, Shane führt mit Regie.
Emotionale Mittelpunkte sind die aktuellsten Aufnahmen von ihm, wie er da sitzt, langsam trinkt, ältere Aussagen anhört. Und die Interviews mit der Schwester, die einiges erdet, Shane ist halt auch Geschichten Erzähler.
Da hätte ich insgesamt noch mehr gesehen.
Sehr gut.
Die deutsche DVD ist OmU, Bild und Ton gut, als einziges Extra gibt es Gespräch zwischen Johnny Depp, Produzent, und dem Regisseur. Mit acht Minuten leider viel zu kurz, als das wirklich in die Tiefe gehen könnte.