Unter Männern - Schwul in der DDR - Ringo Rösener / Markus Stein (2012) [Doku]

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Unter Männern - Schwul in der DDR - Ringo Rösener / Markus Stein (2012) [Doku]

Beitrag von buxtebrawler »

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Originaltitel: Unter Männern - Schwul in der DDR

Herstellungsland: Deutschland / 2012

Regie: Ringo Rösener, Markus Stein

Mitwirkende: Jürgen Wittdorf, Christian Schulz, Helwin Leuschner, Eduard Stapel, Frank Schäfer, John Zinner, Jürgen Lemke, Ringo Rösener
Wie hat man als schwuler Mann in der sozialistischen Diktatur Ostdeutschlands gelebt und geliebt? Im ersten Dokumentarfilm über dieses Thema erzählen sechs Männer dem jungen Regisseur, wie es gewesen wäre, wäre er ein paar Jahre oder Jahrzehnte früher auf die Welt gekommen. Ihre Sichtweisen sind so individuell wie ihre Lebensgeschichten: ein ostdeutscher Punk, ein kirchlicher Schwulenaktivist, ein freidenkerischer Künstler, ein heimlich schwuler Lehrer, ein Immigrant aus Chile und ein Kunsthandwerker aus der Provinz machen deutlich: In Ostdeutschland waren doch nicht alle gleich.

Ein bewegender Dokumentarfilm über sexuelle Freiheit in einem totalitären System.
Quelle: Salzgeber

Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)
Diese Filme sind züchisch krank!
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Re: Unter Männern - Schwul in der DDR - Ringo Rösener / Markus Stein (2012) [Doku]

Beitrag von buxtebrawler »

„Vielleicht hilft das manchen anderen...“

Ringo Rösener erlebte, 1983 in Anklam geboren, die DDR bewusst nur noch in ihren letzten Zügen. Zusammen mit Co-Regisseur Markus Stein („Balkan Traffic – Übermorgen Nirgendwo“) – einem „Wessi“ – geht er in seinem abendfüllenden Dokumentarfilm „Unter Männern – Schwul in der DDR“ der Frage nach, wie sich schwules Leben in der DDR gestaltete. Beim im Jahre 2012 auf der Berlinale uraufgeführten und daraufhin regulär im Kino gelaufenen und später in unregelmäßigen Abständen im Fernsehen gezeigten Film handelt es sich nicht nur um Röseners Regiedebüt, sondern auch um den ersten Film überhaupt, der dieses Thema in nichtfiktionaler Form aufgreift.

„Wenn man Liebe sucht und mit dem Tod bedroht wird...“

Rösener und Stein porträtieren sechs schwule Männer aus der DDR, die sie in O-Tönen zu Wort kommen lassen. Sie berichten mal mehr, mal weniger freimütig von ihren persönlichen Erfahrungen. Implementiert werden einige Ausschnitte aus Heiner Carows Spielfilm „Coming Out“, der ersten DEFA-Produktion, die sich vorrangig dem Thema männlicher Homosexualität widmete (und zufälligerweise am 9. November 1989 seine Kinopremiere erfuhr). Man erfährt, dass Schwulsein nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst verboten war. In der DDR wurde zwar niemand mehr dafür eingesperrt, doch es war gesellschaftlich geächtet. Die rechtliche Situation änderte sich 1968, von nun an stand Schwulsein in der DDR nicht mehr unter Strafe – einer jener Punkte, in denen die DDR tatsächlich progressiv war; dieser Liberalisierung hinkte die BRD noch etliche Jahre hinterher.

Zeichner und Grafiker Jürgen Wittdorf verdingte sich in den 1950ern als Aktzeichner und gestand sich erst mit 31 Jahren ein, homosexuell zu sein. Nach einem One-Night-Stand wurde er von seinem Sexualpartner erpresst. Auch Sportlehrer Christian Schulz, Jahrgang 1934, hielt sich mit einem Coming-out zurück – aus Angst, entlassen zu werden. Er überlegte es sich auch gut, überhaupt bei diesem Film mitzumachen. Ein Psychiater versuchte, ihn zu „heilen“ – natürlich erfolglos. Schulz ist generell skeptisch, zweifelnd, zurückhaltend, bezeichnet sich selbst als feige. Er hadert damit und hätte gern eher die Chuzpe gehabt, zu sich und seiner Sexualität zu stehen. Der gleichaltrige Helwin Leuschner kommt als Sohn deutscher Einwanderer in Chile zur Welt und siedelt erst zu Beginn der 1970er in die DDR über. Er berichtet, in der DDR keinesfalls verfolgt worden zu sein, jedoch seien seine Eltern homophob gewesen. Lebensgefährliche Diskriminierungen habe er während seiner Zeit in Chile erlebt, die DDR sei dagegen ein Paradies gewesen – womit er die Erfahrungen der anderen ein Stück weit in Relation setzt. In der DDR hat er zudem die Liebe seines Lebens gefunden, die sich – eine kleine Überraschung innerhalb des Films – als Christian Schulz entpuppt. Beide tauchen nun auch zusammen vor der Kamera auf und haben direkt eine kleine Meinungsverschiedenheit, weil Leuschner nach Schulz‘ Empfinden das Leben in der DDR etwas zu unkritisch darstellt. Doch für Leuschner bedeuteten bereits die FKK-Strände ungewohnte Freiheiten. Die beiden sind ein herrlich gegensätzliches Paar: Leuschner sehr offenherzig und spontan, Schulz eher ruhig, introvertiert, verkopft. Im Alltag dürften sich beide also prima gegenseitig ergänzen.

Jüngeren Semesters ist der Berliner Humoristensohn und Friseur Frank Schäfer, der die FDJ-Klamotten sexy fand und betont furchtlos und selbstbewusst aufgetreten ist. Er tauchte in die Punk-Subkultur ein, schnitt seinen Kundinnen und Kunden entsprechende Frisuren und geriet immer wieder in von ihm als cool empfundene Konflikte mit der Polizei – bis er sich so sehr verliebte, dass er dafür die DDR verließ. Mit Berliner Schnauze und ohne jeden Anflug von Schwermut, dafür mit ungebrochen nonkonformer Haltung und Humor steht Schäfer hier für den selbstbewusstest möglichen Umgang mit dem Thema. Spannend ist auch Eduard Stapels (* 1953) Geschichte: Als Theologiestudent möchte er eigentlich die Priesterweihe erlangen, die ihm jedoch versagt bleibt – was zunächst einmal, das hätte der Film möglicherweise deutlicher herausstellen sollen, ein Problem der Kirche, nicht des Staats war. Die evangelische DDR-Kirche ermöglichte ihm jedoch eine Anstellung, von der ausgehend er ein bedeutendes Netzwerk homosexueller Gruppen zu weben begann und sich politisch für Schwulenrechte und Gleichberechtigung einzusetzen begann. Dies rief die Stasi auf den Plan, die darin oppositionelle Arbeit sah und Stapel daraufhin das Leben zur Hölle machte. Er zeigt seine Akten und berichtet von den Zersetzungsaktivitäten des MfS – hier zeigt sich dann auch die dunkelste Seite der DDR. Starker Tobak, fürwahr. Schriftsteller Jürgen Lemke zitiert aus seinen Werken, die wiederum frei in der DDR veröffentlicht wurden, bekundet seinen Respekt gegenüber Stapel und steht ebenfalls Rede und Antwort.

Der 1968 geborene John Zinner berichtet seine negativen Erfahrungen, die er im Dorf Lauscha tief in der thüringischen Provinz machen musste. Er traute sich aus gutem Grunde nicht, offen zu seiner Sexualität zu stehen und die Grenze zur BRD in unmittelbarer Nähe war verlockend. In letzter Sekunde verwarf er jedoch seinen Fluchtplan und blieb der Liebe wegen im Dorf. Nach seinem Coming-out stellte er sich der Herausforderung, statt zumindest die Flucht in die liberalere Großstadt anzutreten. Dokumentarfilmer Rösener erzählt seine eigene Geschichte zu Teilen aus dem Off und führt bisweilen kommentierend durch den Film. In den Interview-Situationen sieht man ihn ebenfalls nicht, dafür hört man mitunter seine Fragen (während diese in anderen Dokumentarfilmen oftmals weggeschnitten werden). Er besuchte seine Interview-Partner zu Hause bzw. in deren Heimat, im Café oder auch während einer Zugfahrt. Friseur Schäfer trifft er auf dem Alexanderlatz, wo ihn einst Volkspolizisten mitnahmen, um Sex mit ihm zu haben…

Durch mehrere Erzählungen ziehen sich FDJ-Erfahrungen, viele alte Fotos werden gezeigt, Insiderwissen geteilt: Es habe in der DDR problemlos homosexuelle Universitätsprofessoren gegeben und bevor es Schwulenclubs gab, traf man sich auf „Klappen“, womit öffentliche Toiletten gemeint waren. Man merkt aber: Vieles davon ist eher wenig DDR-spezifisch, dürfte in der BRD oder in anderen Staaten ganz ähnlich gewesen sein. Denn, so der Eindruck nach dieser Doku, staatlicherseits war Schwulsein offiziell und inoffiziell in Ordnung und keiner Aufregung wert, theoretisch konnte man viele Freiheiten genießen. Aktivismus für darüberhinausgehende Anerkennung ging für die Stasi jedoch zu weit und – und hier dürfte es die meisten Überschneidungen geben: die gesellschaftliche Akzeptanz stand noch einmal auf einem ganz anderen Blatt.

Generell ist es sicherlich nicht Röseners und Steins Anliegen gewesen, eine vollumfängliche, keinerlei Fragen offenlassende Bestandsaufnahme der männlichen Homosexualität in der DDR abzuliefern. Vielmehr handelt es sich um einen groben Überblick über verschiedene Lebenswege, -entwürfe und Sozialisationen, geht es mehr um Menschliches denn um harte Fakten und nicht zuletzt um subjektive Perspektiven unaufgeregt porträtierter, allesamt sehr sympathisch wirkender Menschen, die weit mehr sind als nur ihre sexuelle Ausrichtung. Gelungen!
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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