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Die allseitig reduzierte Persönlichkeit - Helke Sander (1978)

Verfasst: So 13. Feb 2022, 03:01
von Salvatore Baccaro
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Originaltitel: Die alleseitig reduzierte Persönlichkeit - Redupers

Produktionsland: BRD 1978

Regie: Helke Sander

Cast: Helke Sander, Gesine Strempel, Gislind Nabawoski, Gisela Zies, Helga Storck, Joachim Baumann


Edda Chiemnyjewski lebt alleinerziehend mit ihrer kleinen Tochter in Westberlin. Ihr Job als Pressephotographin reicht gerade so dafür aus, dass jeden Mittag eine warme Mahlzeit auf dem Tisch steht, und das, obwohl sie jede freie Minute in ihre Karriere als ernstzunehmende Photographin investiert. Darunter leider zwangsläufig natürlich auch die Beziehung zum Nachwuchs, - ganz zu schweigen von den häuslichen Verpflichtungen und dem ambitionierten Projekt, dem sich Edda und einige Berufsgenossinnen derzeit verschrieben haben: Im Auftrag eines Kulturbüros sollen die Frauen, allesamt wie Edda Mitte bis Ende Dreißig, Ansichten von Berlin knipsen, die man sodann zu touristischen Zwecken auszuschlachten plant. Je länger Edda und ihre Mitstreiterinnen jedoch ihre Heimatstadt durch Kameraobjektive betrachten, desto mehr wächst in ihnen das Bedürfnis, nicht einfach nur den engmaschigen Direktiven zu folgen, sondern ihren ganz eigenen, dezidiert weiblichen, Blick auf die Metropole zu illustrieren. Repressionen sind die Folgen, denn so wie das Photographinnenkollektiv die Hauptstadt sieht, nämlich Grau-in-Grau und Trist-in-Trist und voller Fallstricke für emanzipierte Frauen, entspricht es natürlich kein bisschen ihren Auftraggebern. Als dann auch noch ein Photo Eddas ganz ohne ihre Erlaubnis oder auch nur eine nachträgliche Gage publiziert wird, beginnt sie, dem Patriarchat den Kampf anzusagen – und begegnet in der Folge Männer, die sie nicht ernstnehmen, die sie mit bürokratischen Hürden in Schach zu halten versuchen, oder ihr nonchalant das Knie betatschen…

DIE ALLSEITIG REDUZIERTE PERSÖNLICHKEIT gilt als einer der wichtigsten feministischen Filme der 70er Jahre. Helke Sander, selbst seit den 60ern in der Frauenbewegung aktiv, führt nicht nur Regie, sondern hat auch das Drehbuch verfasst und schlüpft in die Hauptrolle Eddas, die irgendwo zwischen Selbstbehauptung und maßloser Überförderung die Anstrengung unternimmt, Privatleben, Familie und Job unter einen Hut zu bringen, und an deren Schicksal in semi-dokumentarischem Ton, in körnigen Schwarzweißbildern und in nahezu klinischer Atmosphäre das Schicksal alleinerziehender Frauen im Westdeutschland der 70er beispielhaft vorgeführt wird. Sicher, die Herangehensweise Sanders an ihr Sujet hat stellenweise etwas Prätentiöses und Sperriges, und wenn unsere Heldinnen minutenlang politische Diskussionen ausfechten müssen, wenn die Kamera minutenlang einfach nur durch die Straßen Berlins rollt und die Slogans auf Häuserfassaden und Mauern filmt, wenn auf extradiegetische Musik, eine stringente Story oder jedwede dramaturgischen Zuspitzungen kategorisch verzichtet wird, kann keine Rede davon sein, dass Sander ihr Publikum in irgendeiner Weise unterhalten wollte. Nichtsdestotrotz ist DIE ALLSEITIG REDUZIERTE PERSÖNLICHKEIT ein fasziniertes Zeitdokument, und, sobald man sich auf den spröden Stil eingestimmt hat, wesentlich witziger, selbstironischer als man zunächst vermuten möchte: Zumindest mir steckte das Lachen manches Mal auf halber Strecke im Hals bei Sanders pointierten Alltagsbeobachtungen, - zumal der Film auch nie den Fehler begeht, allzu agitatorisch zu wirken: Sander tritt nicht brüllaffengleich auf das ein, was ihr missfällt – Kapitalismus, Patriarchat, politische Einflussnahme in Kunst und Kultur -, sondern zeigt es zunächst einmal lediglich mit einer gewissen unterschwelligen Süffisanz. Tragische Momente wechseln dadurch mit eher komischen, und dazwischen gibt es eben welche, in denen wir ungefiltert mit dem Tagesrhythmus unserer Heldin konfrontiert werden. So gesehen geht’s in DIE ALLSEITIG REDUZIERTE PERSÖNLICHKEIT auch um viel mehr als die Befreiung der Frau: Es geht um das Verhältnis Ostberlin und Westberlin; es geht um die Frage, ob man Demütigungen über sich ergehen lassen sollte, wenn man dadurch sein Zeil erreicht; auf einer Metaebene geht es im Grunde auch um Überlegungen, wie man solch ein Thema filmisch exerzieren sollte: Ein Film, der sich permanent selbst hinterfragt, vielleicht.

Bis 28.02. könnt ihr DIE ALLSEITIG REDUZIERTE PERSÖNLICHKEIT noch bei arte.tv gemeinfrei streamen…