Der Schatten des Meeres - Curt A. Stark (1912)
Verfasst: So 17. Apr 2022, 17:54
Originaltitel: Der Schatten des Meeres
Produktionsland: Deutschland 1912
Regie: Curt A. Stark
Cast: Henny Porten, Lizzy Krueger, Curt A. Stark, Nelly Retzlag
Vor allem in den 10er und 20er Jahren zählt Henny Porten (1890-1960) zu den absoluten Stars des deutschen Stummfilms. Zu ihren Erfolgen gehören beispielweise die Titelrollen in solchen Publikumserfolgen wie der 1921er GEIERWALLY-Verfilmung, Lubitschs 1920er Aufarbeitung der Lebensgeschichte von ANNA BOLEYN und einer 1919er Leinwandadaption von Hauptmanns Drama ROSE BERND. Wie ich nach einem kürzlichen Aufenthalt im Filmarchiv des Bundesarchivs in Berlin-Zehlendorf weiß, hatte Porten auch die Hauptrolle in einem Streifen namens DER SCHATTEN DES MEERES inne, der 1912 unter der Regie ihres ersten Ehemanns Curt A. Stark entsteht, und den ich zu den frühesten Beispielen für etwas küren muss, das man gut und gerne als Horrorkino bezeichnen kann.
Dabei fängt alles so seicht wie melodramatisch an: Porten spielt Evelyne, eine Malerin, die sich von der Großstadt in eine entlegene Küstenregion begibt, um fernab des Lärms der Metropole im selbstgewählten Exil eine Reihe von Landschaftsgemälden anzufertigen. Eines Tages ist sie derart versunken in ihrer Leinwand, dass sie nicht merkt, wie die Flut sich allmählich an sie heranpirscht: Da Evelyne offenbar nicht schwimmen kann, steht ihr das Wasser, als sie endlich aus ihrer Schaffenstrance hochschreckt, nicht nur sprichwörtlich bis zum Halse. Rettung naht in Gestalt des Fischers Nansen, der Evelyne vor dem sicheren Ertrinkungstod an Land hievt und den Regisseur Stark selbst verkörpert. Es kommt, wie es kommen muss: Evelyne fühlt sich zu dem urwüchsigen Naturburschen hingezogen, der so ganz anders gestrickt ist als die blasierten Dandys der hauptstädtischen Kunstszene, und auch Nansen bekommt Evelyne nach dieser ersten intensiven Begegnung nicht mehr aus dem Kopf, - und das, obwohl er bereits mit einem Mädchen aus seinem Dorf namens Inge verlobt ist. Obwohl sich eine zarte Liebe zwischen Evelyne und Nansen anzubahnen beginnt, zieht erstere schließlich die Reißleine: Jenseits eines kurzen Urlaubflirts dürfte eine gemeinsame Zukunft mau aussehen, und außerdem möchte Evelyne der armen Inge nicht ihren Geliebten entreißen. Also packt Evelyne ihre Siebensachen, um vor ihren Gefühlen zurück in die Stadt zu fliehen. Nansen bleibt niedergeschmettert zurück – und kann seine Trauer um Evelynes Verlust so wenig überwinden, dass er zum heftigsten Mittel gegen Liebeskummer greift: Er fährt mit seinem Boot aufs Meer hinaus, wohlwissend, dass ein schwerer Sturm naht.
Zurück in ihrem Boheme-Leben indes kann Evelyne Nansen einfach nicht vergessen. Wenigstens eine Brieffreundschaft möchte sie mit ihm anknüpfen, - doch niemals erhält sie auf ihre unverfänglichen Schreiben eine Antwort. Nach einer Weile reist sie deswegen in Nansens Fischerdorf, um sich bei dessen Mutter nach seinem Befinden zu erkundigen. Zu erfahren, dass ihr Geliebter sich anscheinend das Leben genommen hat, - zumindest ist es von seiner damaligen Ausfahrt nicht mehr heimgekehrt -, zieht Evelyne den Boden unter den Füßen weg, wobei Nansens Mutter und Inge ihr jedoch nicht nur deshalb recht abweisend, wenn nicht gar feindselig gegenübertreten, weil sie in ihr die Verursacherin von Nansens Suizid identifizieren. Es ist vor allen Dingen eine örtliche Legende vom „Gonger“, die die Frauen Evelyne brüsk zurückweisen lässt: Diese nämlich besagt, dass Menschen, die sich wegen gebrochenem Herzen ertränken, als Untote zu denjenigen Lebenden zurückkehren, die sie auf dem Gewissen haben, um sie mit ins feuchte Grab zu ziehen. Evelyne glaubt diesen vermeintlichen Ammenmärchen freilich kein Wort, und statt sogleich abzureisen, mietet sie sich für eine Nacht in einem Gasthof ein. Draußen auf hoher See jedoch braut sich etwas Schauriges zusammen…
…und nachdem DER SCHATTEN DES MEERES für knapp eine halbe Stunde relativ stereotypes Herzschmerz-Terrain abgegrast hat, verwandelt sich diese vom Kamerapionier Oskar Meester produzierte und von Kamerapionier Carl Froelich recht konventionell photographierte Tragödie für ihre letzten fünf Minuten in einen waschechten Schocker, wie zumindest ich es nicht mehr erwartet hätte: Erst erscheint wie von Geisterhand Nansens Boot auf den Wellenkämmen; dann der Suizidant selbst in seinem langen, triefenden Fischermantel, der ihn aussehen lässt wie den Killer im Neo-Slasher I KNOW WHAT YOU DID LAST SUMMER; mit den langsamen, bedächtigen, jedoch zielstrebigen Bewegungen eines Zombies stapft Nansen schließlich an Land, hält Kurs auf Evelynes Unterkunft und zwingt sie mit wortlosen, keinen Widerspruch duldenden Gesten dazu, ihr Zimmer zu verlassen und ihm zur Küste zu folgen; völlig entwaffnet, hypnotisiert, als habe Dr. Caligari seine Finger im Spiel, lässt Evelyne sich von ihrem einstigen Liebhaber letztendlich dem Meer überantworten, und erneut wie von Geisterhand lösen sich die beiden vor dem Hintergrund des nächtlichen Ozeans in Luft auf.
Es sind nicht nur die schlichten, stimmungsvollen, förmlich nach mitternächtlichem Meer duftenden Bilder, die mich faszinieren, sondern vor allem der konsequente Fatalismus, mit dem die Handlung dieses Films geradewegs ins Unheil führt. Da gibt es keinen retardierenden Moment, keinen Hoffnungsschimmer am Horizont, dass Evelyne ihrem Schicksal doch noch entrinnen könnte, da lockert nichts die Abwärtsspirale hinab auf den Meeresgrund wenigstens ein bisschen auf, - ein pessimistisches, förmlich nihilistisches Crescendo, das mir tatsächlich den einen oder anderen kalten Schauer den Rücken hat hinabjagen lassen: Im Ernst, schon lange habe ich nichts mehr gesehen, was mich mit einem derart mulmigen Gefühl zurückgelassen hat. Weshalb solche Perlen des frühen Kinos nicht in einer vernünftigen DVD-Edition verfügbar sind, sondern man sie in Archiven versteckt, wo man sie nur findet, wenn man weiß, wonach man suchen muss, oder, wie ich, eher zufällig auf sie stößt, bleibt mir wohl für immer schleierhaft…