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Komm mit mir in das Cinema - Die Gregors - Alice Agneskirchner (2022)

Verfasst: Fr 2. Sep 2022, 14:10
von Salvatore Baccaro
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Originaltitel: Komm mit mir in das Cinema - Die Gregors

Produktionsland: Deutschland 2022

Regie: Alice Agneskirchner

Cast: Erika Gregor & Ulrich Gregor & etliche ihrer Weggefährten


Spontan finde ich mich vor ein paar Tagen in einem Braunschweiger Programmkino ein, um mir Alica Agneskirchners monumentale Dokumentation über das Ehepaar Erika und Ulrich Gregor anzuschauen, die seit den späten 50ern Pionierarbeit darin geleistet haben, in Deutschland ein Bewusstsein für Film als Kunstform zu wecken: 1963 gründen die beiden die „Freunde der Deutschen Kinemathek“; 1970 wird mit dem Berliner „Arsenal“ das erste nichtkommerzielle Kino Deutschlands aus der Taufe gehoben; im Laufe ihrer langen Lebens engagieren die Gregors sich sowohl dafür, längst vergessene Streifen zur Wiederaufführung zu bringen oder holen Filme aus Ostblockländern über den Eisernen Vorhang hinweg in die Bundesrepublik, um marginalisierten Werken ein Publikum zu verschaffen, fördern vor allem aber auch Exponenten eines jungen wilden Kinos, dem die Mainstream-Lichtspielstätten ansonsten verschlossen geblieben wären. Nicht zuletzt veröffentlicht Ulrich Gregor 1962 zusammen mit Enno Patalas eine seitenschwere „Geschichte des Films“, die Ende der 70er durch einen zweiten Band zur „Geschichte des Films ab 1960“ ergänzt wird. Eben diese filmhistorischen Schriften zeigen anschaulich, wo die Präferenzen der Gregors liegen: Politisches Kino; unabhängig produziertes Kino; Sehgewohnheiten herausforderndes Kino; Filme mit Anspruch; kein Trash, keine Exploitation, - weswegen beispielweise die zeigefreudigen Spielfilme, die Walerian Borowczyk spätestens ab CONTES IMMORAUX dreht, überhaupt nicht bei Grego/Patalas gut wegkommen, (worauf ich ganz zu Beginn meines Borowczyk-Buchs eingehe, das ich tatsächlich mit einem ungnädigen Urteil Gregors über LA BÊTE & Co. eröffne.)

Ulrich und Erika Gregor, beide inzwischen knapp 90 Jahre alt, wirken, wie sie in Agneskirchners Film präsentiert werden bzw. sich selbst präsentieren, extrem sympathisch, kauzig auf die niedlichste Art und Weise, randvoll von cineastischer Leidenschaft. Größtenteils besteht der Film aus Szenen, die sie in einem leeren Kinosaal zeigen, wo sie Schwänke ihres bewegten Lebens erzählen: Wie sie sich 1957 bei einer Aufführung von MENSCHEN AM SONNTAG kennenlernten, und sogleich über den Streifen zu streiten begannen, den Ulrich großartig fand und dem Erika regelrechte Frauenfeindlichkeit unterstellte; wie sie Kopien bestimmter sowjetischer Filme direkt von der russischen Botschaft einforderten; wie sie noch ihr Rentierdasein nutzen, um sich so viele Filme wie möglich einzuverleiben - eine Rechnung besagt, dass es in ihrem Leben insgesamt hunderttausende gewesen sein müssen. Ergänzt werden die interessanten, nicht selten amüsanten Monologe der beiden von zahllosen historischen Aufnahmen: DIE GREGORS möchte nicht einfach bloß ein Portrait seiner Protagonisten sein, sondern zugleich einen Abriss bundesdeutscher Geschichte sowie einer Geschichte Berlins liefern: Es geht viel um Zeitenwandel, um Dinge, die vom Zeitfluss unweigerlich hinweggerissen werden, um Nostalgie, Erinnerungen, Vergessen – und ich kann mir bei all den Filmtiteln, Namen von Regisseuren, kinematographische Referenzen vorstellen, dass jemand, der, was Filmgeschichte betrifft, nicht so beschlagen ist wie die Gregors selbst, sich ziemlich verloren bei Agneskirchners Opus verloren fühlen dürfte, zumal in dieser Hinsicht wenig kontextualisiert und quasi selbstverständlich vorausgesetzt wird, dass man Bunuel genauso ad hoc zuordnen kann wie, dass man auf Anhieb weiß, in welche Epoche Paul Lenis WACHSFIGURENKABINETT gehört. Immerhin hat man es geschafft, einen riesigen Pulk an Weggefährten der Gregors vor die Kamera zu losten, darunter illustre Menschen wie Helke Sander, Rosa von Praunheim, Wim Wenders oder Jim Jarmusch.

Ein großes Problem von DIE GREGORS ist freilich seine exorbitante Laufzeit. Zweieinhalb Stunden sind schon eine Hausnummer, gerade auch, weil der Film inszenatorisch nun nicht wirklich vom Hocker haut, sich vielmehr auf dem filmisch wenig spannenden Talking-Head-Schema ausruht. Da können Ulrich und Erika so putzig sein wie sie wollen, da können sie noch so viele aufregende Geschichten aus dem Ärmel schütteln, die man sich gerne anhört, - gedehnt auf etwa hundertsechzig Minuten stellen sich gerade im letzten Drittel doch Ermüdungserscheinungen ein, und wenn der Film kurz vor Ende noch einmal ausholt, um persönliche Einblicke in Erikas Verhältnis zu ihrem NS-affinen Vater zu gewähren, ist das mindestens eine Schleife zu viel in diesem unglaublich viele Themen anreißenden, unglaublich viel unterzubringen versuchenden Reigen aus Cinephilie, Geschichtsstunde, Plaudereien. Nach Ende des Films wurde übrigens noch live zur Premiere in Berlin geschaltet, wo sich die Gregors und Agneskirchner einem ausführlichen Q&A aussetzten – und ich kann es dem Publikum angesichts der bis dahin schon im Kinosessel verbrachten Stunden nicht verdenken, dass die meisten diese Bonuseinheit vorzeitig verließen, und wir beim Zapfenstreich bloß noch zu dritt im Kino saßen. Der Untertitel KOMM MIT MIR IN DAS CINEMA bezieht sich übrigens auf ein Gedicht Else Lasker-Schülers aus dem Jahre 1937, das wie folgt klingt:

„Komm mit mir in das Cinema,
Dort findet man was einmal war:
Die Liebe!

Liegt meine Hand in Deiner Hand
Ganz übermannt im Dunkel,
Trompetet wo ein Elefant
Ganz plötzlich aus dem Dschungel –

Und schnappt nach uns aus heißem Sand
Auf seiner Filmenseide,
Ein Krokodilweib, hirnverbrannt,
Dann – küssen wir uns beide!“

Re: Komm mit mir in das Cinema - Die Gregors - Alice Agneskirchner (2022)

Verfasst: Fr 2. Sep 2022, 14:43
von buxtebrawler
Hier der Trailer dieses aktuell ja in den Kinos laufenden Films:


Re: Komm mit mir in das Cinema - Die Gregors - Alice Agneskirchner (2022)

Verfasst: Fr 2. Sep 2022, 17:10
von Dick Cockboner
Salvatore Baccaro hat geschrieben: Fr 2. Sep 2022, 14:10 ... wie sie noch ihr Rentierdasein nutzen, um sich so viele Filme wie möglich einzuverleiben...
:wink: