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Erde - Alexander Dowschenko (1930)

Verfasst: Do 15. Sep 2022, 09:21
von Salvatore Baccaro
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Originaltitel: Zemlya

Produktionsland: Sowjetunion 1930

Regie: Alexander Dowschenko

Cast: Semjon Swaschenko, Nikolai Nademski, Jelena Maximowa, Stepan Schkurat, Julija Solnzewa, Pjotr Massocha, Wladimir Michailo


…und dann war es endlich so weit, und ich musste das zumindest visuell grausamste Stummfilmkonzert meines Lebens durchstehen.

Ort ist der kuschlige Veranstaltungssaal einer Reformierten Gemeinde; anwesend sind weniger als fünfzehn Personen, die meistens irgendwie mit der zugehörigen Kirche verbandelt, oder Bekannte der Musiker, oder eben von mir herbeizitiert, der ich aus internen Quellen von der Veranstaltung erfahren habe, da diese offenbar weder im Netz noch im Print nennenswert beworben worden ist; gegeben werden soll ZEMLYA von Alexander Dowschenko, immerhin Platz Zwei einer Anfang der 2000er vom Kiewer National Oleksandr Dovzhenko Film Centre herausgegebenen „Liste der 100 besten Filme in der Geschichte des ukrainischen Kinos“.

Noch vor Filmbeginn raune ich meinem Begleiter zu, dass mir Übles schwant. Die Leinwand ist klein, eher unvorteilhaft im Raum platziert; der Beamer scheint entweder seine besten Tage lange hinter sich zu haben oder nie über das schwache Pusten hinausgekommen zu sein, das er an diesem Abend ausstößt; das Vorschaubild lässt keinen Zweifel daran bestehen, dass es zu einem Netz-Video auf irgendeiner Plattform à la YouTube gehört.

Meine Befürchtungen werden noch unterboten: Die Fassung, die von ZEMLYA aufgetrieben wurde, spottet jedweder Beschreibung. Sie ist circa zehn Minuten kürzer als diejenige, die ich kenne; sie ist mitnichten restauriert oder wenigstens auf akzeptablem Qualitätsniveau, sondern hilflos verpixelt, schaut vielmehr aus wie eine durchgenudelte VHS-Rip, die man auf dem Level von 144p oder 240p digitalisiert hat; die kyrillischen Zwischentitel werden zwar englisch übersetzt, jedoch folgen die Übertragungen erst, nachdem die originalen Texttafeln für ein paar Sekunden eingeblendet worden sind, was es gerade bei längeren Texten schier unmöglich macht, sämtliche Wörter zu lesen; gerade in helleren Szenen verschwimmen die Grenzen zwischen Gegenständen, Räumen, Schauspielerkörper völlig ineinander, sodass man Mühe hat, überhaupt auszumachen, was da eigentlich gerade innerhalb des Kaders vor sich geht.

Noch einen Tag später bin ich noch nicht von der Palme runter, auf die mich dieses Screening hatte klettern lassen: Ich will einfach nicht verstehen, wie man als Organisator einer solchen Veranstaltung denn a) keinen Gedanken an sein Publikum verschwenden kann, so, als ob bei einem Stummfilmkonzert das visuelle Vergnügen völlig zweitrangig wäre, und es allein aufs akustische Erlebnis ankäme, und wie man b) angesichts all der Mühen, die man sich mit einem experimentellen Score zu genau diesem Film gemacht hat, und die sich ja nicht allein im finalen Auftritt erschöpft, sondern bereits zuvor bei Proben, beim Konzipieren aufgebracht wurde, eine derart kalte Schulter dem Umstand gegenüber zeigen kann, dass von besagten Mühen beim Publikum nur die Hälfte ankommt, weil es schlicht nicht SIEHT, auf was sich die jeweiligen Soundeffekte, Pianoläufe, Schlagzeug-Crescendi beziehen.

Dabei ist es ja nun wirklich nicht so, dass es ZEMLYA nicht in ansprechender Qualität geben würde. Ich bin ja der Letzte, der sich nicht irgendwelchen obskuren Shit in räudigster Darreichungsform anschauen würde, nur um endlich mal in den Genuss desselben zu kommen. Doch allein eine kurze Netzrecherche zeigt: ZEMLYA ist selbst auf YouTube zwar nicht in HD verfügbar, jedoch immerhin in der ungekürzten und restaurierten siebzigminütigen Fassung. Die Geschichte, die mir der federführende Musiker auftischt, klingt wie ein Märchen: Er habe versucht, eine DVD aus Neuseeland zu erhalten, die dann aber nicht rechtzeitig verschickt worden wäre, und sonst sei ZEMLYA nicht zu bekommen gewesen. Eine kurze Netzrecherche allein zeigt: Selbst auf Amazon könnt ihr den Streifen für etwas mehr als zehn Euro auf DVD erwerben.

Es spricht für Dowschenkos Film, dass er noch unter den miserabelsten Umständen die beabsichtigte Wirkung entfaltet. Sein Glück ist es, dass er etliche Großaufnahmen beinhaltet, denn Gesichter im Close-Up, die trotzen selbst dem verheerendsten Pixel-Schneesturm; sein Glück ist es außerdem, dass er in seinen entscheidenden Szene göttlich montiert ist, atemlos wie ein Actionthriller – und obwohl fortwährend ein wütender Hofhund in mir knurrt, dass ich mir ZEMLYA als wüstes Web-Video antun muss, bin ich irgendwann doch tief genug in dem Streifen drin, dass ich durch das digitale Rauschen den Film auf die Wiese zu sehen meine, wie ihn Dowschenko ursprünglich im Sinn gehabt hat.

Mein Begleiter sagt anschließend: Puh, das ist ja im Grunde ein ziemlich plakativer Propagandafilm! Von der Hand zu weisen kann man das beileibe nicht: In seiner simplen Story erzählt ZEMLYA von einer hierarchisch strukturierten Dorfgemeinschaft irgendwo im ukrainischen Hinterland. Die Großbauern, despektierlich „Kulaken“ genannt, besitzen das meiste Land, haben stattliche Höfe, üppige Herden, während die übrigen Bauernfamilien von der Hand in den Mund leben. Eines Tages wird endlich der Traktor geliefert, der der Kolchose vom sozialistischen Stadtbezirkskomitee versprochen worden ist – und die Ankunft des Geräts gräbt die Spalte, die zwischen Begüterten und Unbegüterten verläuft, nur noch tiefer. Grund ist die radikale Ablehnung, die die Kulaken der technischen Modernisierung entgegenbringen: Argwöhnisch beäugen sie die überall umherschwirrenden Ideen vom neuen Zeitalter unter kommunistischen Vorzeichen, die in der Praxis letztendlich darauf hinauslaufen sollen, sie zu enteignen und dadurch ihrer ökonomischen Macht zu berauben. Der Traktor, der den einfachen Bauern fortan die Arbeit erheblich erleichtert, wird zum Symbol für alles, was die Kulaken hassen und fürchten. Ebenso stachelt die Anwesenheit des Traktors aber auch vor allem die Jugend dazu an, sich mit vollem Herzen dem Sowjetsozialismus zu verschreiben. Die Anspannung entlädt sich, als ein Jüngling namens Wassili es wagt, mit dem Traktor die Grenzsteine umzupflügen, mit denen die Kulaken ihren Grundbesitz gegen das restliche Dorf abschirmen. Die Strafe folgt auf den Fuß: Eines Nachts, als der Knabe trunken vor Glück im Mondschein tänzelt, wird er hinterrücks über den Haufen geschossen. Für die Dörfler steht fest: Die Kulaken stecken hinter dem Attentat! Ein Krieg der Ideologien scheint unausweichlich…

Man kennt das von ähnlich gelagerten sowjetischen Stummfilmen der 20er aus der Feder Eisensteins oder Pudowkins: Formal sind das Meilensteine der Filmkunst, Steinbrüche für ganze nachfolgende Avantgarde-Generationen, davon profitierend, dass in der jungen Sowjetunion zumindest für einen kurzen Zeitraum revolutionäre Filmpraxis und revolutionäre Ideologie Hand in Hand gingen, bevor Stalin Anfang der 30er den Sozialistischen Realismus als künstlerische Doktrin proklamierte. Wohl niemand wird Eisensteins STACHKA oder BRONENOSSEZ POTJOMKIN für ihre komplexen, ausgeklügelten Storys loben, - die gibt es nämlich nicht, da bewusst gegen die Spielfilmkonventionen à la Hollywood gearbeitet wird: Keine Hauptfiguren; keine abgeschmackten Romanzen; keine Kolportage-Action. Stattdessen werden vielmehr konsequent sowjetische Ideale visualisiert: Das Aufbegehren der Massen; die Machenschaften von Kapitalisten, Zaristen, Anti-Bolschewisten; das Heraufdämmern eines neuen Menschentypus, eines Himmelreichs der Egalität auf Erden. Anders gesagt: Nichts lenkt von den Formalien ab, davon, wie diese Filme geschnitten sind, welche Innovationen die Kamera vollführt, wie viele ikonoklastischen Ideen vorweggenommen werden, die man später schal und verflacht im Mainstream wiederfinden kann.

ZEMLYA bildet hierbei keine Ausnahme: Storytechnisch läuft alles brav in schwarzweißzeichnerischem Manichäismus ab. Dort die armen Kleinbauern, hier die fetten und satten Großbauern, die einen herzensgut, dem Kommunismus mehr als aufgeschlossen, die andern eigennützig, sich klammernd ans überholte Klassensystem. Die Sympathien werden von Anfang an klar verteilt; die Perspektive der Kulaken, die ja immerhin auf lange Sicht von ihrer ererbten Erde vertrieben werden sollen, zu keinem Zeitpunkt auch nur versucht einzunehmen; nicht eine einzige Figur lässt sich finden, die ambivalent zwischen den beiden Polen laviert. In dem Sinne ist ZEMLYA selbstverständlich reinste Filmpropganda, und zwar nicht mal welche von der subtilen Sorte, denn gewissermaßen liefert Dowschenko das filmische Beiprogramm zur zwischen 1929 und 1933 realisierten „Entkulakisierung“ der Sowjetunion. „Wir müssen die Kulaken als Klasse liquidieren“, kann man auf zeitgenössischen Bannern lesen – und folgerichtig hat man die Großbauern und ihre Familien nicht freundlich gebeten, Haus und Hof dem Staat zu überlassen, oder wenigstens langwierige Überzeugungsarbeit geleistet, um sie intellektuell vom Sozialismus zu überzeugen, sondern stattdessen Nägel mit Köpfen gemacht. Stichworte sind: Enteignung, Exekution, Massendeportation. Circa 600.000 Menschenleben sollen im Zuge dessen ihr Ende gefunden haben. Dass ZEMLYA all dies quasi rechtfertigt, indem er die Kulaken als zutiefst verbrecherische Kaste präsentiert, die notfalls mit Gewalt – und hierbei wohlgemerkt: feigem Mord - ihren Grund und Boden verteidigen, ist schon ein starkes Stück Perfidie, dessen man sich bei Sichtung dieses Films bewusst sein sollte.

Bei einem kinematographischen Feuerwerk wie ZEMLYA kommt man als Cinephiler indes nicht umhin, vor der ästhetisch-technischen Seite des Werks auf die Knie zu sinken. Wie zugleich lyrisch und irgendwie auch sacht surreal Dowschenko seinen Film mit Aufnahmen von Äpfeln rahmt, die zu Beginn in der Spätsommersonne funkeln, und am Ende von einem Sommerregen benetzt werden; wie vorzüglich das Finale montiert ist, wenn Dowschenko vier, fünf, sechs unterschiedliche Aktionen an ebenso unterschiedlichen Schauplätzen im Sekundentakt miteinander wechseln lässt: die Freundin des ermordeten Wassili, die sich voller Verzweiflung auf ihrem Bett umherwirft; der lokale Pfarrer, der, auf Seiten der Kulaken stehend, einen Fluch über das Dorf ausschüttet; die Beerdigung des Toten, begleitet von Scharen Bauern und Bäuerinnen, die revolutionäre Lieder singen; die Kulaken, die entsetzt aus der Ferne betrachten, wie der Bolschewismus endgültig Fuß in der Gemeinde fasst; wie Doschwenko sich Zeit nimmt, um das Eintreffen des Traktors zu illustrieren, sein Auftauchen fern am Horizont, die aufgeregten Gesichter der Dörfler, ein Pferd, das neugierig die Ohren anlegt, ein paar Ochsen, die wirken, als wüssten sie genau, dass auch ihnen diese Maschine in Zukunft einiges an Strapazen ersparen wird. Und dann all die kleinen Details: Der Kulak, der seinen Kopf wie ein Strauß in der Erde vergräbt, weil er sich weigert, sein Land herzugeben; der Vater des toten Jungen, der am Grab eines ebenfalls verblichenen Dorfältesten horcht, nachdem er ihm zugerufen habe, er solle ihm einen Rat geben, wie er sich in dieser nervenaufreibenden Situation verhalten solle; die wirklich witzige Montage, wenn mehrere Ochsen überblendet werden von mehreren jungen reaktionären Bauern, die dadurch freilich als Rindviecher diffamiert werden sollen.

Meine liebste Szene aber folgt am Schluss: Die Dorfgemeinschaft hat sich von Gott und Grundbesitz emanzipiert. Unter freiem Himmel schwingt man politische Reden. Ein Mann sagt sinngemäß, dass die Zeiten von Religion und Eigentum nunmehr vorbei seien. Hört ihr das nicht?, fragt er, in die Wolken zeigend, wo, wie er weiter ausführt, ein kommunistisches Flugzeug kreisen soll: Der Sound einer neuen Ära. Alle blicken zum Himmel, sind entzückt. Gott ist endgültig vom patriarchalen Übervater zum Flugzeug, zum Traktor mutiert.

Die zeitgenössische Zensur steht ZEMLYA kritisch gegenüber. Dowschenkos Film durchläuft mehrere Stadien der Kürzung, der Neumontage, der Verfremdung. Ein Dorn im Auge ist den Zensoren vor allem die immer wieder durchbrechende Affinität Dowschenkos für Bildwelten, die, wie ich finde, viel mit der Ästhetik von Populärmusikrichtungen wie Neofolk oder Pagan Metal zu tun haben: Nahezu pantheistisch-naturmystisch fokussiert ZEMLYA junge Frauen zwischen Sonnenblumenfeldern; bei seiner Beerdigung streift auch Wassilis aufgebahrter Leichnam an den Sonnenblumen entlang, die seinen toten Köper sanft zu streicheln scheinen; ukrainische Volkstänze und Brauchtümer werden zwar nicht über Gebühr ausgespielt, lassen sich in der letztendlich von der Zensur freigegebenen Fassung jedoch immerhin immer wieder am Rand der faustgeballten Revolutionshandlung erspähen. In seiner lyrischen Bildgewalt erinnert mich ZEMLYA tatsächlich an manches ähnlich visuell entwaffnende Meisterwerk Sergej Paradjanows wie beispielweise TINI ZABUTYKH PREDKIV – und damit schließt sich in gewisser Weise der Kreis, denn dieser hat es bei besagter Liste der „100 besten ukrainischen Filme aller Zeiten“ auf die Pole Position geschafft.

Re: Erde - Alexander Dowschenko (1930)

Verfasst: Do 15. Sep 2022, 13:17
von Arkadin
Salvatore Baccaro hat geschrieben: Do 15. Sep 2022, 09:21
Die Geschichte, die mir der federführende Musiker auftischt, klingt wie ein Märchen: Er habe versucht, eine DVD aus Neuseeland zu erhalten, die dann aber nicht rechtzeitig verschickt worden wäre, und sonst sei ZEMLYA nicht zu bekommen gewesen.
Unglaublich!
Dann habe ich die DVD wohl doch nicht. :???:
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Re: Erde - Alexander Dowschenko (1930)

Verfasst: Do 15. Sep 2022, 16:21
von Salvatore Baccaro
Arkadin hat geschrieben: Do 15. Sep 2022, 13:17
Salvatore Baccaro hat geschrieben: Do 15. Sep 2022, 09:21
Die Geschichte, die mir der federführende Musiker auftischt, klingt wie ein Märchen: Er habe versucht, eine DVD aus Neuseeland zu erhalten, die dann aber nicht rechtzeitig verschickt worden wäre, und sonst sei ZEMLYA nicht zu bekommen gewesen.
Unglaublich!
Dann habe ich die DVD wohl doch nicht. :???:
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Krass! Wann warst Du denn in Neuseeland? Und sogar auf Deutsch in Down Under!?