Christian Heinrich Spieß - Das Petermännchen (1791)
Verfasst: Di 6. Dez 2022, 20:57
Chrisitan Heinrich Spießs DAS PETERMÄNNCHEN zählt zu den Bestsellern der sogenannten „Goethezeit“, sein Autor zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren Ende des 18. Jahrhunderts: Spätestens als Spieß Anfang der 1790er Jahre mit Ende 30 eine Anstellung beim Grafen Caspar Hermann von Künigl im böhmischen Besdiekau (heute: Bezděkov u Klatov) annimmt, hat er genügend Muße, sich ganz seinen Musen hinzugeben. Offiziell als Wirtschaftsbeamter beschäftigt, ist Spieß wohl eher hauptsächlich für die Unterhaltung des Grafen zuständig, - und nebenbei produziert er schauerromantische Prosa wie am Fließband mit Titeln wie DIE ZWÖLF SCHLAFENDEN JUNGFRAUEN oder DIE LÖWENRITTER, mehrere Lustspiele und Ritterdramen sowie die Sammlungen BIOGRAPHIEN DER WAHNSINNIGEN und BIOGRAPHIEN DER SELBSTMÖRDER – und findet nebenbei auch noch Zeit, sich in die Gattin seines Mäzens zu verlieben: Als 1799 sowohl seine Mutter wie auch die verehrte Gräfin von Künigl versterben, verfällt Spieß in geistige Umnachtung und tut seinen eigenen letzten Atemzug im August desselben Jahres, keine 50 Jahre alt.
Erste Ironie der Geschichte: Seine verwitwete Ehefrau wiederum nimmt nach Spießs Tod den Heiratsantrag des ebenfalls verwitweten Grafen an. Zweite Ironie der Geschichte: So sehr zu Lebzeiten Spießs Werke die Leihbibliotheken Deutschlands bevölkerten, so schnell gerät der Autor im Verlauf des 19. Jahrhunderts in Vergessenheit. Wenn sein Name innerhalb der Literaturgeschichte(n) überhaupt mal fällt, dann in Fußnoten oder als abschreckendes Beispiel für all die Trivialromane, die, wie beispielweise Walter Benjamin polemisiert, „die Deutschen lasen, während ihre Klassiker schrieben“. Sofern man mir verspricht, dass das unter uns bleibt, muss ich gestehen: Mir haben die beiden Bänden des PETERMÄNNCHENs mehr Vergnügen bereitet als all die kanonisierten Werke von Goethe oder Schiller, und ich glaube, dass es durchaus fruchtbar sein kann, sich einmal aus dem intellektuellen Elfenbeinturm heraus zu begeben, und die Spitzhacke in den Acker des breiten Publikumsgeschmacks zu schlagen, um auszubuddeln, was die Leute damals verschlungen haben wie ihr tägliches Brot.
Zum ersten Mal lese ich DAS PETERMÄNNCHEN vor fast zehn Jahren in Valencia; zum zweiten Mal lese ich DAS PETERMÄNNCHEN dieses Frühjahr in der Toskana – und ungebrochen ist mein Erstaunen darüber, wie die blühende Phantasie Spießs sachte surrealistische Kapriolen schlägt, wie stark in mancher Passagen einer modernen Splatter-Ästhetik zugearbeitet wird, wie hemmungslos sich die wahre Intention des Texts selbst entlarvt, wenn der Erzähler immer wieder darauf pocht, seine „Geistergeschichte aus dem dreizehnten Jahrhundert“ sei primär dafür gedacht, die Leserschaft zu tugendhaftem und gottgefälligem Leben anzuhalten, dann aber immer wieder in laszive Schilderungen weiblicher Nacktheit, blutrünstige Szenen von Enthauptungen und Entmannungen, oder Abschnitte verfällt, in denen er in blumigster Worten höllenhafte Teufelsreigen ausmalt und nicht mal vor Tabubrüchen wie der Vergewaltigung von Nonnen oder Inzest zurückschreckt. Anders ausgedrückt: Spieß macht seinen, sagen wir, nicht unbedingt ausgefeilten Stil – (zum Beispiel wechseln regelmäßig ellenlange Dialogpassagen mit umso gedrängteren, fast schon kursorisch wirkenden Handlungsbeschreibungen, in denen die Story schon mal innerhalb weniger Zeilen tausende Kilometer oder mehrere Tage, Monate, Jahre überspringt) – locker damit wett, dass er in den besten Abschnitten dieses seltsamen Romanes die Zügel seines Geistes einfach fahrenlässt, ohne Rücksicht auf das, was im ästhetischen Programm der Hochliteratur um 1800 Standard gewesen ist.
Inhaltlich rankt sich der Text um einen gewissen Rudolph von Westerburg, der als letzter lebender Nachkomme auf der Festung seiner Ahnen residiert, und sich bis ins fortgeschrittene Jugendalter nicht ums weibliche Geschlecht schert: Stattdessen verschleudert er seine Manneskräfte lieber bei der Jagd auf Bären und Wölfe. Sein treuer Begleiter ist das titelgebende „Petermännchen“, ein der Familie Westerburg seit Jahrhunderten verbundener Hausgeist, ein Zwerglein mit grauem Bart und Mützchen, von dem niemand sagen kann, woher es eigentlich stammt und weshalb es stets den männlichen Sprossen der Westerburg-Dynastie erscheint, um ihnen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Es ist nunmehr der kleine Peter, der in Rudolph Stück für Stück das Verlangen nach dem anderen Geschlecht weckt, - und ihn damit Stück für Stück in ein wollüstiges Inferno hineinreißt. Denn obwohl Rudolph selbst es bis weit ins Zweite Buch hinein einfach nicht checken möchte, liegt es schon früh auf der Hand, dass es das Petermännchen keineswegs gut mit unserem etwas naiven, seinen Emotionen und Gelüsten weitgehend hilflos ausgelieferten Rittersmann meint: In Wirklichkeit nämlich handelt es sich beim Peter um einen Spießgenossen des Beelzebub, dessen Ziel es ist, Rudolph so weit in den Lastersumpf hineinzuzerren, bis er gar seine Seele an den Gehörnten verkauft. Frommer Sidekick des Petersmännchen ist dabei übrigens – und nun wird’s schon ziemlich surreal! – seine eigene Ehefrau, das Peterweibchen, die im Auftrag Gottes unterwegs ist, um Rudolph aus den Fängen ihres teuflischen Gattens zu retten – und das Petermännchen dafür schon einmal mitten im Wald an in der Luft schwebenden Eisenketten befestigt! Aber alles gute Zureden hilft nichts, und im Verlaufe der mehr als ein Jahrzehnt und mehr als einen Kontinent umspannenden Handlung „verwildert“, wie es heißt, Rudolphs Herz immer mehr, - da können auch noch so wundersame Artefakte wie ein unsichtbar machender Hut oder ein verzauberter Keuschheitsgürtel nicht helfen! Stattdessen verschlägt es Rudolph als Kreuzfahrer in den Orient, wo er den Harem eines Sultans aufmischt, und nur knapp dem Tod an den Haken entkommt; er bestreitet in Frankreich Ritterturniere, um die Gunst des „schönsten Mädchens seines Zeitalters“ zu gewinnen, und lässt dafür eine andere, bereits von ihm schwangere Frau sitzen; schließlich unterzeichnet er dem Beelzebub einen Pakt, der ihm garantiert, noch eine Dekade munter seinen Übeltaten frönen zu können, danach dürfe er ihn mit sich in die Hölle nehmen – und genau so geschieht es dann auch nach einem retardierenden Moment, in dem Rudolph kurzfristig ernsthaft versucht, sich aus dem Schatten Satans zu lösen, sein ganzes Hab und Gut der Kirche vermacht und als Betbruder ins Kloster geht: Krönung seiner Laster ist der (unwissentliche) Geschlechtsakt mit der eigenen Tochter, worauf nach Ablauf der Jahresfrist zuerst die insgesamt sechs Frauen, die er bislang auf dem Gewissen hat, vor ihn treten und ihn mit ihren Vorwürfen überhäufen, und ihn im Anschluss ein Gesindel aus Gespenstern und geflügelter Teufel packt, ihm den Kopf zerschlägt, dass das Hirn umherspritzt und seinen Körper zu guter Letzt in den Lüften in tausend Fetzen zerreißt.
Besonders logisch folgen all diese Eskapaden nicht aufeinander; insgesamt besitzt DAS PETERMÄNNCHEN einen sehr episodischen Charakter, bei dem ständig irgendwelche Figuren verschwinden, um an unerwarteter Stelle wieder aufzutauchen, sich Verehrerinnen Rudolphs als seine Knechte verkleiden können, ohne dass ihm dies auffällt, oder aber die Tatsache, dass Rudolph ein Spielball überirdischer Mächte ist, für einige fragwürdige Plot-Volten herhalten muss. Dass sich der kleine Peter im Zweiten Buch in einen haushohen Riesen verwandelt, um Rudolph nunmehr in dieser neuen Gestalt zu Diensten zu sein, oder dass Rudolph bei der Entführung einer Nonne aus ihrer Zelle versehentlich an eine frühere Geliebte gerät, die just in dem Augenblick, als er sie erkennt, ihr Leben in seinen Armen aushaucht, sind nur zwei von etlichen dichterischen Freimütigkeiten, für die man diesen wirren, inkohärenten, sprunghaften Roman ins Herz schließen kann. Dabei wimmelt der Text nur so vor amüsanten Beschreibungen wie folgender, die Spieß am Anfang von seinem Helden gibt: „Er war noch unbeweibt, hatte noch niemals den Sturm und Drang der allgewaltigen Liebe empfunden, noch nie den vollen Busen der deutschen Mädchen mit Sehnsucht beschielt, noch nie auf seinem Lager sich matt geweint. Denn immer bestieg er sein Bette müde von der Jagd, und verließ es früh, um die gesammelten Kräfte wieder an Wölfen und Bären zu verschwenden.“ Oder später, wenn Rudolph sich nach mehreren Abenteuern wieder in seiner Stammesburg niederlässt und vor allem mit Schandtaten auffällt: „Er wurde der Schrecken der ganzen Gegend, die Tugend floh vor ihm, weil sie nicht schmeicheln konnte; die Wahrheit versteckte sich, weil sie nicht lügen wollte; die Unschuld verkroch sich in eine Einöde, weil Wollust nur von ihm beschützt wurde. Ich würde vergebens zu enden suchen, wenn ich alle seine lasterhaften Thaten erzählen sollte; sie waren oft blutig, oft höchst grausam. Kein Tag endigte sich, an welchem er nicht sagen konnte: Ich habe Uebles gethan in Menge!“
Glorreich ist überhaupt die Entrüstung, die der Autor ständig zur Schau stellt, so, als würde ihm vor lauter Schamhaftigkeit beinahe die Feder aus der Hand fallen, und er brächte es kaum über sich, all die Grausamkeiten und Gottlosigkeit, die Rudolph während des Romanverlaufs begeht, zu schildern: „Es ist die höchste Zeit, daß ich den Vorhang über diese schreckliche Szene fallen lasse. Sie muß schon längst das Gefühl meiner Leser empört haben! schon längst hätte ich sie geendigt, wäre es nicht des Erzählers Pflicht, nicht die Absicht des Ganzen, daß ich anschauend beweise, wie nach und nach menschliche Bosheit und Tücke, wird sie gewartet und gepflegt, fürchterlich emporwächst! wie sie aufsteigt bis zur höchsten Stufe, und unbarmherzig niedertritt, was sie auf dem Pfade des Fortwandelns hindert. Unwillig ergreife ich die Feder wieder. Ungern erzähle ich, was ich doch erzählen muß.“ Dann aber finden sich im PETERMÄNNCHEN wie selbstverständlich ebensolche Passagen, die genau das, was der Erzähler zuvor angeprangert hat, genussvoll zelebrieren, und einer veritablen Exploitation-Ästhetik in die Hände spielen: „Der durch Kummer, Angst und Verzweiflung abgemattete Körper hatte jede andere weibliche Bedenklichkeit und Furcht überwältigt, kraftlos war sie hingesunken in die Arme des Schlafs, der sie jetzt sanft wiegte. Um freier athmen zu können, um wegzuhauchen die Last, die ihre Brust drückte, hatte sie den Halskragen gelöst, gelöst die Spangen ihres Kleides. Entschleiert lag sie da, und bot ihren unbefleckten Busen Rudolphs gierigen Augen zur Schau. O es war ein herrliches Bild! geschaffen zur Weide für ein unschuldiges, noch mehr für ein wollüstiges Auge. Ihr lockiges Haar träufelte sich um ihren Schwanenhals, wiegte sich auf der athmenden Brust, und zitterte an der Seite ihres klopfenden Herzens. Blendend weiß, mit sanftem Blau durchwebt, hob sich hie und da der volle Busen über die Locken empor, die kaum merkbar nach und nach von der elastischen Höhe herabsanken, und dem Auge immer herrlichere, immer schönere Aussicht öffneten.“
Letztlich muss man bei solchen klaffenden Widersprüchen zwischen vorgeblicher Agenda und praktischer Umsetzung derselben natürlich auch an die zeitgenössischen Zensoren denken: Wie die meisten Romane des Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts seine Hochkonjunktur feiernden Schauer-Genres konnte DAS PETERMÄNNCHEN aufgrund seines alibihaften Korsetts aus frömmelnder Belehrung unbeanstandet in den Druck gehen – und zum Beispiel Matthew Gregory Lewis entzücken, dessen Skandalerfolg THE MONK von 1796, wie sich die Literaturwissenschaft längst einig ist, unübersehbar von Spießs Text beeinflusst ist – und gewissermaßen schließt sich der Kreis, wenn man sich ins Gedächtnis ruft, dass es Lewis‘ Mönch ist, den André Breton im 1924er Ersten Surrealistischen Manifest als einen der Gewährsmänner seiner künstlerischen Avantgarde-Bewegung anruft – (wer weiß, vielleicht hätte er im selben Atemzug auch Spießs PETERMÄNNCHEN als Exempel für ein Buch genannt, das „von Anfang bis Ende“ vom „Atem des Wunderbaren“ durchweht wird.)
Wer sich für die Genese der Horrorliteratur interessiert, der sollte durchaus einen Blick in diesen eigenartigen Text werfen, - zumal ich ihn wesentlich actionreicher, kurzweiliger und, nicht zuletzt aufgrund seiner vergleichsweise expliziten Sex-, Gewalt- und Teufelsszenen, einem modernen Geschmack wesentlich entgegenkommender fand als viele anderen etwa zeitgleich erschienene deutschsprachige Schauerromane von Sophie Albrecht, Benedikte Naubert oder Joseph Alois Gleich.