Mitwirkende: Owen Suskind, Ron Suskind, Walter Suskind, Jonathan Freeman, Gilbert Gottfried, Alan Rosenblatt u. A.
Der kleine Owen Suskind scheint ein Junge zu sein, der sich nach gängigen Maßstäben entwickelt, doch bereits nach einigen Jahren bemerken seine Eltern immer seltsamere Verhaltensmuster an ihrem Sohn. Schon bald erhalten sie die Diagnose: Owen leidet unter Autismus und nimmt daher die Welt ganz anders wahr als andere Menschen. Zum Glück entwickelt er schon früh eine Vorliebe für Trickfilmklassiker aus dem Hause Disney. Nach und nach finden seine Eltern heraus, dass sie die bunten Filme als gemeinsame Sprache nutzen und auf diese Weise zu Owen durchdringen können. In dem Dokumentarfilm „Life, Animated“ wird Owens Werdegang von einem kleinen Jungen, der scheinbar in seiner ganz eigenen isolierten Welt lebt, zu einem unabhängigen Erwachsenen dargestellt. Dabei kommen passenderweise auch Animationssequenzen zum Einsatz. (Quelle: filmstarts.de)
Re: Life, Animated - Roger Ross Williams (2016)
Verfasst: Mi 4. Jan 2023, 18:25
von buxtebrawler
„Du wirst noch viel erleben!“ – „Noch sehr viel!“
„Life, Animated“ ist ein Oscar-nominierter, US-amerikanisch-französisch koproduzierter Dokumentarfilm aus dem Jahre 2016 um einen autistischen US-Jungen, der mithilfe von Disney-Zeichentrickfilmen zurück zu Sprache und sozialer Interaktion fand. Er basiert auf dem autobiographischen, Pulitzer-Preis-ausgezeichneten Buch „Life, Animated: A Story of Sidekicks, Heroes, and Autism“, das Ron Suskind, Vater jenes Jungen, im Jahre 2014 veröffentlichte. Regisseur Roger Ross Williams („God Loves Uganda“) erzählt zusammen mit den Suskinds Teile des Buchs nach und begleitet ihren Sohn auf seinen nächsten Schritten mit der Kamera.
„Ich kenne jeden Disney-Trickfilm auswendig!“
Im Alter von drei Jahren machen sich bei Owen Suskind schwerwiegende Entwicklungsstörungen bemerkbar, die seine Motorik und seine Sprache sowie die Fähigkeit, seine Umwelt wie andere wahrzunehmen, betreffen. Die Diagnose lautet auf Autismus, der ihn immer mehr von seiner Familie und anderen Mitmenschen isoliert. Nach ein paar Jahren jedoch erweist sich Owens häufiges Ansehen von Walt-Disney-Zeichentrickfilmen als Brücke, um wieder zu ihm durchzudringen: Er beginnt, in auswendig gelernten Filmdialogzeilen zu kommunizieren und lernt aus dem karikierend überzeichneten Stil der Filme, zwischenmenschliches Verhalten zu verstehen und schließlich auch anzuwenden…
„Aber das Leben ist nun mal kein Disney-Film.“
Williams beginnt seinen Film mit Parallelmontagen aus Amateurvideoaufnahmen, die Vater Ron beim Spielen mit seinen beiden Söhnen zeigen, als diese noch klein waren, und Bleistiftzeichnungen bzw. -animationen, die im weiteren Verlauf – ebenso wie Ausschnitte aus Disney-Filmen – immer mal wieder auftauchen werden. In der Gegenwart befindet sich Owen gerade in einer auf junge Autistinnen und Autisten zugeschnittenen Lehreinrichtung und erhält Unterricht im Bereich Verkehrserziehung. Daraufhin erzählt er selbstbewusst, dass er kurz vorm Abschluss stehe und eine eigene Wohnung beziehen werde. 23 Jahre alt ist er zu diesem Zeitpunkt. Doch als er von der Schule nach Hause kommt, wirft er Disneys Peter-Pan-VHS ein und strahlt übers ganze Gesicht. Er spricht und gestikuliert begeistert mit, als sei er Teil des Films. Alte Familienaufnahmen belegen, dass er schon als kleines Kind beim Spielen gern in die Rolle Peter Pans schlüpfte, jenes Jungen also, der nie erwachsen werden wollte – wie passend.
„Jetzt bin ich für immer traurig...“
Zurück in der Gegenwart erzählen Owens Eltern seine Geschichte: Mit drei Jahren habe sich sein Autismus ausgeprägt, sie sprechen davon, dass er „verschwunden“ sei. Es geht um Untersuchungen und Diagnostik, Owens Arzt kommt zu Wort, doch auch Owen persönlich trägt wohlgemut seinen Teil zur Geschichte bei. Er ist nun ein junger Mann an der Schwelle zur Selbständigkeit, worüber man in einem Planungsgespräch offen mit ihm redet. Als Kind habe er immer zu bestimmten Stellen seiner Lieblingsfilme zurückgespult und wiederholt, was er hörte. In der Gegenwart hat er einen Disneyclub gegründet, in dem er mit anderen Autistinnen und Autisten dieselben Filme schaut und in der Gruppe Inhalte und Aussagen diskutiert – ein autistisches Filmexpertentum, das ein wenig an Deliria-Italiano-Forentreffen erinnert.
Mutter und Vater Suskind sowie sein Bruder Walter haben weitere Anekdoten parat, mit denen der Film gespickt wird, und klappern verschiedene Stationen in Owens Entwicklung ab. So habe Ron seinerzeit Rollen aus den Filmen gespielt, um an Owen heranzukommen, während Owen die Filme genutzt habe, um die Welt zu verstehen – etwas, das auch vielen psychisch nicht gehandicapten Menschen, wenn auch zumeist im Umgang mit anderen Filmen oder auch ganz anderen Medien, nicht fremd sein dürfte: Kulturerzeugnisse als Orientierungshilfen.
Als wäre das nicht bereits spannend genug, hat Owen auch noch eine Freundin namens Emily. Sie schreibt ihm einen Liebesbrief, der aussieht wie von einer Sechsjährigen, bei dem einem aber das Herz aufgeht. Sie schenkt ihm eine Halskette mit einem Micky-Maus-Anhänger, die Owen fortan voller Stolz und Zuneigung trägt.
Solch ein professionelles Smalltalk-Training, wie es Owen in einer Szene erhält, könnte sicherlich auch manch Nicht-Autist(in) – der Verfasser dieser Zeilen nicht ausgeschlossen – gebrauchen. Für die Kommunikation mit Schauspieler und Synchronsprecher Jonathan Freeman, der in Owens Disneyclub eingeladen wurde, erweist es sich indes als unnötig, denn mit ihm spielt man kurzerhand Szenen aus „Aladin“ nach. Als mit Gilbert Gottfried ein weiterer Sprecher dazustößt, ist die Party perfekt!
Weniger amüsant ist die Rekapitulation der Schulzeit Owens, einer für ihn schweren Zeit. Doch die nächste Überraschung hält der Film schon bereit: Owen begann zu zeichnen, vornehmlich die Gehilfen der Disney-Helden, und eigene Geschichten zu schreiben. Diese Zeichnungen wurden eigens für diesen Film zum Zeichentrickfilm „Protector of Sidekicks“ animiert und als Film im Film gezeigt. Owen spielt sogar Fußball, beherrscht mittlerweile also auch Teamplay. Wir sehen ihn auf seiner Abschlussfeier und begleiten ihn bei seinem Umzug in eine eigene (richtig tolle) Wohnung. Er bewirbt sich beim örtlichen Kino und bekommt dort zumindest schon mal einen einfachen Job. Sein Bruder versucht, mit ihm über Sex zu reden, wobei Owen an die Grenzen seiner Lebenslehre aus Disney-Filmen stößt. Möglicherweise hat das auch noch Zeit, denn er gerät in eine persönliche Krise, als Emily mit ihm schlussmacht. Wie er damit umgeht? Selbst gucken!
Am Ende wird er sogar auf eine Pariser Konferenz eingeladen, wo er über sein Handicap referiert. Denn Menschen wie Owen sind eine Bereicherung für die Gesellschaft und wie rührend man ihn in seine Eigenständigkeit begleitet hat, ist nicht zuletzt ein wunderbares Beispiel für Inklusion. Owen ist ein richtig geiler Typ und es nicht schlimm, auf den Disney-Filmen „hängengeblieben“ zu sein, sondern für ihn das größte Glück. Sie gaben ihm Halt und inspirierten ihn. Und abermals geht mir das Herz darüber auf, dass er auch Mitte der 2010er-Dekade noch immer mit seinen VHS-Kassetten hantiert.
„Life, Animated“ ist ein Film, ähnlich wunder- und liebevoll wie ein gutes Disney-Märchen, dabei aber anscheinend tatsächlich authentisch. Ob er eine Art Werbefilm für Disney-Produktionen ist? Möglicherweise ein Stück weit. Allerdings ist es beileibe kein Geheimnis, welcher Qualität die abendfüllenden Zeichentrickfilme jenes Konzerns sind und welche Faszination sie (bei Weitem nicht nur) auf Kinder ausüben. Williams‘ Film scheint mir generell den Zauber gut gemachter Kinder- und Familienunterhaltung in Erinnerung zu rufen, eine Lanze für intensives kindliches Eintauchen in mediale Fantasiewelten zu brechen und ein Plädoyer für die inspirierende Kraft der Imagination zu sein. Es ist manchmal eben doch nicht so verkehrt, wenn das Kind vor der Glotze hängt…