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Night Moves - Kelly Reichardt (2013)

Verfasst: Mo 9. Jan 2023, 05:10
von Maulwurf
 
Night Moves
Night moves
USA 2013
Regie: Kelly Reichardt
Jesse Eisenberg, Dakota Fanning, Peter Sarsgaard, Alia Shawkat, Logan Miller, Kai Lennox, Katherine Waterston, James Le Gros,
Autumn Nidalmia, Barry Del Sherman, Jason Rojas, Clara Mamet


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OFDB

Schon seit Jahren interessiert mich die Frage, an welchem Punkt ein Mensch sich extremisiert und in den Untergrund geht. Dem bequemen Leben mit warmem Abendessen und gemütlichem Bett Auf Wiedersehen sagt und sich für eine Existenz mit permanentem Ortswechsel und ständiger Angst entscheidet. Was war der Auslöser, an dem Ulrike Meinhof sich entschieden hat, ihre beiden Kinder zurückzulassen und sich Andreas Baader und der sich gerade verfestigenden RAF anzuschließen? Wann hat Beate Zschäpe ihre Hochhauswohnung in Jena bewusst verlassen um in konspirative Wohnungen und Gewaltexzesse abzutauchen?

NIGHT MOVES gibt diesem Punkt ein Gesicht. Der Film schafft es, wenn man gut aufpasst, genau den Augenblick zu erwischen, an dem der junge Umweltaktivist Josh sich entscheidet, nicht mehr nur zu diskutieren und zu demonstrieren, sondern ein Zeichen zu setzen. Aus seiner relativ gesicherten Existenz als Helfer in einer Landwirtschaftskooperative auszubrechen und etwas zu zerstören, um ein Zeichen zu setzen gegen einen gesellschaftlichen Missstand. Ein spannender Moment. Ein Moment, der, wenn man ein wenig darüber nachdenkt, im wirklichem Leben ebenfalls jeden Augenblick geschehen kann: Ein junger Mann, der unter Gleichgesinnten einen Film über die fortlaufende Umweltzerstörung sieht, die dummen Fragen der Zuschauer an die anwesende Regisseurin hört, und sich überlegt, dass dumme Fragen die aktive und vorsätzliche Vernichtung des Planeten Erde halt einfach nicht aufhalten. Ersetzt man das Wort Umweltzerstörung durch den Begriff kulturelle Identität weiß man, wie radikale Islamisten ihren Nachwuchs rekrutieren.

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Josh, seine Bekannte Dena und der schon länger im Untergrund lebende Harmon beschließen, einen Staudamm zu sprengen. Ihr Plan ist recht gut ausgearbeitet, und auch wenn Harmon durch sein Laissez-Faire bei den Details die Ausführung mehr als einmal gefährdet, so bringen Dena und Josh durch ihren unbedingten Willen alles wieder ins Lot, und eines Nachts ist es soweit. Die drei bringen ein Boot, bis an den Rand gefüllt mit Sprengstoff, an die Staumauer, und können unerkannt entkommen. Doch durch die Explosion kommt ein unbeteiligter Camper ums Leben. Josh und Harmon geht das am Arsch vorbei, ihr Selbstverständnis ist es, andere Menschen durch solche Aktionen zum Nachdenken zu bringen, ohne Rücksicht auf Verluste. Aber Dena kommt ins Schleudern und fragt sich, was sie da getan hat. Sie hat einen Menschen getötet, einen Familienvater, der in der Natur Ruhe erfahren wollte. Ihr Selbstvertrauen bröckelt zunehmend, und es ist abzusehen, dass das FBI durch Denas Unvorsichtigkeit bald auf das Trio stoßen wird.

Die Vorbereitungen für den Anschlag werden gezeigt, sind auch mit kleineren und effektiven Spannungsspitzen versehen, und funktionieren soweit durch die guten Schauspieler auch sehr gut. Der Anschlag selber ist mit Problemen und einer entsprechend ansteigenden Spannungskurve gepfeffert, doch alles was anschließend kommt wird unter einer dicken Schicht Langeweile bedeckt und mit filmischen Schlafmitteln zugekleistert. Ein nur rudimentär vorhandener Arthouse-Drama-Library-Musik-Score untermalt die Radikalisierung von Josh, welcher sich in eine Situation hineinmanövriert, die er nur noch durch Gewalt meistern kann. Und die ihn endgültig in den Untergrund zwingt, in ein Leben zwischen Schlafen im Auto, irgendwelchen Jobs, und dem ständigen Blick über die Schulter (bzw. in den Spiegel), ob die Cops schon da sind.

Die Ausgangssituation ist interessant, die Geschichte ist interessant, die Schauspieler gut (auch wenn Jesse Eisenberg schauspielerisch einem Stück Karton in nichts nachsteht, aber tatsächlich reicht dies hier bereits), und als Psychogramm eines angehenden Untergrundaktivisten wäre NIGHT MOVES ein durchaus gelungener Film. Wenn er nicht so entsetzlich langweilig inszeniert wäre. Wenn die Dialoge nicht auf Schnarchnasenniveau wären, und die Story an sich einfach ein klein wenig peppiger erzählt werden würde und nicht wie ein auf Teufel komm raus verbrämtes Arthouse-Drama mit unbedingtem Realitätsanspruch für Sozialpädagogen, die sich in ihrer Phantasie aus ihrer 08/15-Existenz in die Rolle eines Aktivisten hineinträumen. So ist es ausgesprochen schade, dass die fade Inszenierung die gute Story restlos in den Sand setzt und vor allem im letzten Drittel für angenehme Schlaferlebnisse vor der Glotze sorgt. Bedeutungsschwangere Aufnahmen von vor sich hinstarrenden Menschen, von Wänden oder von schöner Natur sollen Inhalt vermitteln und dem gebildeten Zuschauer im Publikum wahrscheinlich einen Startpunkt für seine eigenen Gedanken geben. Und dass intellektueller Anspruch und ansprechende Inszenierung sich nicht ausschließen müssen, das hat sich halt leider noch nicht wirklich herumgesprochen. Schade um die gute Idee und den guten Ansatz, schade um die vernünftigen Schauspieler, und schade um die Gelegenheit, den Punkt der Extremisierung einmal einer breiteren Diskussion zur Verfügung zu stellen.

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4/10

Re: Night Moves - Kelly Reichardt (2013)

Verfasst: Mo 9. Jan 2023, 21:04
von CamperVan.Helsing
Maulwurf hat geschrieben: Mo 9. Jan 2023, 05:10   Ersetzt man das Wort Umweltzerstörung durch den Begriff kulturelle Identität weiß man, wie radikale Islamisten ihren Nachwuchs rekrutieren.
Nicht nur radikale Islamisten, sondern auch andere -isten, und vermutlich auch nichtmal -isten. Denn kulturelle Identität, oder gemeinschaftliche Identität, oder whatever you wanna call it, ist ja per se stets ein Konstrukt.