Vase de noces - Thierry Zéno (1974)
Verfasst: Do 12. Jan 2023, 22:24
Originaltitel: Vase de noces
Produktionsland: Belgien 1974
Regie: Thierry Zéno
Cast: Dominique Garny
Zum ersten Mal sehe ich VASE DE NOCES mit fünfzehn oder sechzehn Lenzen als WebRip, der nicht katastrophaler hätte ausfallen können: Die Bildqualität gleicht Testbildrauschen; Ton und Bild sind leicht asynchron; zudem firmiert der Streifen unter dem wenig ehrenrührigen Titel THE PIG FUCKING MOVIE. Meine Faszination ist trotz allen Widrigkeiten geweckt: Zwischen den verwaschenen Schwarzweißstreifen, unter den auseinanderstrebenden Bild- und Tonspuren, hinter dem zweifelhaften Titel meine ich deutlich etwas zu erkennen, das in ganz direkter, unverblümter Weise zu dem Teenager auf der Jagd nach möglichst obskuren, möglichst aufreizenden, möglichst abseitigen Filmen spricht, der ich damals bin - und was dieses Etwas sagt, besitzt bis heute seine Gültigkeit.
Zum ersten Mal im Kino sehe ich VASE DE NOCES im Jahre 2017 bei einer Thierry-Zéno-Retrospektive in Frankfurt, wo ich selbst, inzwischen vom Teenager zum Erwachsenen herangereift, der sich vor obskurer, aufreizender, abseitiger Filmware kaum noch zu retten vermag, die Einführung zu Zénos zweitem Langfilm und Anti-Mondo DES MORTS halte. Zu dem Zeitpunkt habe ich bereits Mail-Kontakt zu meinem Heros aufgenommen: Ich will ihn für meine Dissertation interviewen, die ich Anfang des Jahres zu schreiben begonnen habe. Ein paar virtuelle Briefe gehen hin und her, dann herrscht plötzlich Funkstille. Erst später erfahre ich, dass Zéno im Juni verstorben ist. Weitere Jahre vergehen, bis ich meine Dissertation zu Ende geschrieben habe, und mir Zénos Sohn die Erlaubnis erteilt, ein Behind-the-Scenes-Photo der Dreharbeiten zu DES MORTS als Cover meiner Buchveröffentlichung zu verwenden. Man könnte sagen: Zu wenigen Kunstschaffenden habe ich jemals eine derart intensive Beziehung gepflegt wie zu dem 1950 in Namur geborenen Regisseur, der aufgrund von VASE DE NOCES zum Skandalfilmemacher avancierte, sich selbst jedoch seither vielmehr als Ethnograph versteht, der Essayfilme drehte über den Heiligen Antonius und den symbolistischen Maler Félicien Rops, ebenfalls ein Sohn Namurs, der beim indigenen Volk der Tzotzil-Maya lebt und in mehreren Filmen ihre zapatistisch motivierten Protestaktionen gegen Landnahme und Umweltzerstörung der mexikanischen Regierung dokumentiert, der ab Ende der 90er das Film- und Video-Departement der Kunsthochschule in Molenbeek Saint-Jean leitet, der mit VASE DE NOCES ein Werk aus dem Schlamm gehoben hat, das mich auch nach mehrfacher Sichtung immer noch genauso fasziniert, berührt, verstört wie damals als Fünfzehn-, Sechzehnjähriger vor einem himmelschreienden WebRip, bei dem man Mühe hat, in den grieseligen Totalen überhaupt Mann und Schwein voneinander zu unterscheiden.
Zum zweiten Mal im Kino sehe ich VASE DE NOCES letzten Montag im Rahmen einer Veranstaltung der örtlichen Kunsthochschule. Mein Begleiter und ich sind die einzigen Externen. Da wir zu früh sind, stolpern wir noch mitten in ein hybrides Klassenplenum hinein: Der Professor ist online zugeschaltet, riesengroß auf der Kinoleinwand. Es sind vielleicht zehn Studierende anwesend. Zur Einführung erzählt der Prof, der VASE DE NOCES eigenhändig fürs Programm ausgesucht hat, davon, wie er selbst den Streifen in den 80ern rezipierte: In irgendwelchen Underground-Kinos mit Polstersesseln, die genauso so ausgesehen haben sollen wie die, in denen wir uns an diesem Abend lümmeln.
Die Handlung von VASE DE NOCES aufs Basalste heruntergebrochen: Ein Mann auf einem halbverfallenen Gutshof. Vielleicht ein Eremit wie Antonius? Vielleicht der letzte Mensch auf Erden? Hühner und Enten sind seine Gefährten. Sowie eine Sau. Letztere betrachtet er mit zunehmend erotischem Interesse. Die Vögel wiederum beäugen ihn fortwährend: Kritisch, vorwurfsvoll, unangenehm berührt von den Handlungen des Einsiedlers. Erst streichelt der Mann nur die Brustwarzen des Schweins zärtlich. Nachdem er beobachtet hat, wie sich Hähne um ein Huhn balgten, schreitet er zum Äußersten. Ein erster Versuch misslingt, ein zweiter nicht. Die Sau wird schwanger. Sie gebiert drei Ferkel: Da kein anderes Schwein zu sehen ist, müssen es wohl die Nachkommen unseres Helden sein. Dieser sieht die Chance gekommen, sich mit Gleichwertigen zu umgeben. Er entreißt die Kinder ihrer Mutter, sperrt die Sau in einen Stall, müht sich, die Ferkel zu Menschen zu erziehen. Nur wollen sie die Pullover, die er ihnen strickt, nicht tragen, und damit, dass sie alle brav und kultiviert aus ihrer Schüssel fressen, will es auch nicht recht funktionieren. Dem Mann brennen die Sicherungen durch: Als männliche Medea erhängt er seine Kinder. Die Hühner und Enten mustern mit stummem Entsetzen die baumelnden Leichname. Noch ärmer ist die Sau dran: Nachdem sie an ihren Ferkeln geschnüffelt und realisiert hat, dass kein Leben mehr in ihnen wohnt, stürzt sie sich in der Klärgrube zu Tode. Der Mann beerdigt seine Geliebte. Mehr noch: Er versucht, sich selbst neben der Sau lebendig im Erdreich zu vergraben. Erneut scheitert er – und wird, nun vollends allein auf seinem Hof, selbst zum Tier, verwahrlost zusehends, ernährt sich von seinen eigenen Exkrementen, endet mit einem Strick um den Hals am Kopf einer Leiter, deren unteren Sprossen er in die Klärgrube gerammt hat. Nach dem Tod folgt die Apotheose: Sein Leichnam schwebt über dem Dach des Hofgebäudes in den Himmel davon. Fin.
Zugegeben, auf dem Papier scheint VASE DE NOCES prädestiniert dafür, als Skandalfilm par excellence gehandelt zu werden: Eine Mutprobe; eine Grenzerfahrung; eine pubertär-provokative Sammlung von Tabubrüchen. Zoophilie. Koprophagie. Animal Snuff. Suizide. Live Vomiting. Full Frontal Male Nudity. Das alles dargeboten in maximal manieristischer Arthouse-Manier, nämlich Schwarzweiß und ohne einen einzigen gesprochenen Dialog, dafür mit einer collagenhaft enervierenden Soundkulisse, einer schnörkellosen Montage, einer amateurhaften 16mm-Kameraführung, - so sperrig wie nur irgend möglich, damit all die pubertären Provokationen bloß nach großer Kunst™ schmecken und nicht nach dem, was sie eigentlich sind: Das Äquivalent zu einem Schuljungen, der einen Penis an die Lehrerzimmertür kritzelt.
Womit ich beileibe nicht gerechnet hätte: Die anwesenden Studis haben die fuckin' Zeit ihres Lebens. Es wird gegackert und gegluckst und gekichert, als würde man mit einer fünften Klasse antiquierte Aufklärvideos schauen. Ich frage mich, ob es sich bei dem Gelächter, das schon einsetzt, wenn die Sau einfach nur durchs Bild trottet, oder wenn die Fäkalienschüssel unseres Protagonisten einzig im Bildhintergrund zu erahnen ist, um einen Schutzmechanismus vor dem Abjekten und Verfemten handelt, das Zéno uns kübelweise ins Gesicht schmettert, oder ob die Studis VASE DE NOCES tatsächlich als ein achtzig Minuten langes Meme begreifen, das man gerne als Kuriosität belächeln kann, jedoch keinesfalls als ernstzunehmendes audiovisuelles Kunstwerk wahrnehmen sollte.
Für mich ist VASE DE NOCES ein Filmgedicht aus Schlamm, Kot, Schweineborsten. Auf mich wirkt VASE DE NOCES kein Stück prätentiös. Denke ich an den Film, kommen mir zuallererst nicht all die Grenzüberschreitungen in den Sinn, die Zéno und sein überschaubares Team begehen, sondern vielmehr die herzzerreißende Szene, als die Sau ihre toten Ferkelchen beschnuppert, und sodann wie von Sinnen in einer rapiden Montagesequenz und sich die Seele aus dem Leib quiekend in den Freitod stürmt, oder all die Verweise auf die frühneuzeitliche niederländische Malerei, die Zéno anbringt, wenn sein Hauptdarsteller Dominique Garny einen riesigen Flechtkorb über dem Kopf trägt, als sei er einem Breughel-Gemälde entsprungen, oder wenn die Sau die Glocke des hofeigenen Kirchturms läutet, als sei sie einem Hieronymus-Bosch-Gemälde entsprungen, oder all die Großaufnahmen der Vogelgesichter, die allein dadurch anthropomorphisiert werden, dass sie lange genug in das Objektiv hineinblicken, solange bis wir menschliche Emotionen in ihnen zu lesen meinen, Trauer, Verachtung, Entrüstung, oder all die schlichten Szenen des Hofalltags, die das Portrait eines Mannes zeichnen, der die Einsamkeit atmet wie die Luft, die ihn umgibt, und, natürlich, das wahlweise expressive oder filigrane Sounddesign Alain Pierres, der den ursprünglich stummen Film komplett nachvertont hat, und zwar mit verzerrten Tiergeräuschen, mit den schrillen Tönen primitiver Synthesizer, mit Monteverdi und Perotin: Einmal schließt unser Held das Hoftor hinter sich, und wir hören, wie es quietschend ins Schloss fällt, und danach bleibt der Ton quasi stehen, pulsierend, anschwellend, abschwellend, lauter werdend, leiser werdend, während der Mann sein verschwundenes Schwein sucht; ein anderes Mal greift Pierre auf (ironische) Mickey-Mousing-Effekte zurück, wenn er den Hühnern und Enten Elektrogeblubber in die Schnäbel legt, als würden sie sich angeregt über die Verfehlungen des Hofherrn miteinander unterhalten. Das Ende ist dann Pasolini pur: Ich würde mich wundern, wenn Zéno nicht TEOREMA gesehen hätte, die schwebende Haushälterin, die Magd, die zur Heiligen geworden ist.
Freigelegt unter all dem Kot und Schlamm und all den Schweineborsten lässt sich VASE DE NOCES verstehen als Gesellschaftssatire, als tragische Romanze, als Portrait eines Outsiders, so wie es Zénos Debütfilm gewesen ist, BOUCHE SANS FOND OUVERTE SUR LES HORIZONS von 1971: Held desselben ist der Insasse einer psychiatrischen Klinik, der sich gegen das ihn pathologisierende und kasernierende und zur medizinischen Fallstudie degradierenden System behauptet, indem er sich künstlerisch betätigt. Ähnliches macht auch Dominique Garnys Figur in VASE DE NOCES: Art brut aus Einmachgläsern, in denen Hühnerköpfe, Kotwürste und viel Laub vor sich hin gären.
Vielleicht wirkt VASE DE NOCES auch deshalb so wenig prätentiös, weil Zéno gar nicht das Selbstverständnis eines Spielfilmemachers besitzt: VASE DE NOCES erweckt den Anschein einer nüchternen, distanzierten Reportage, minimalistisch, lakonisch, aufs Wesentliche reduziert. Erst bei näherem Hinsehen fällt auf, wie technisch-ästhetisch versiert der Film gestaltet ist: Die Arbeit mit Schärfen und Unschärfen, beispielweise, wenn die erhängten Ferkelchen erst klar vor uns erscheinen, nachdem Zéno den Fokus von den Hühnern im Bildhintergrund auf das verlagert hat, was direkt vorm Objektiv baumelt; die Montage, die subtil dafür sorgt, dass sämtliche Tiere und selbst leblose Gegenstände wie der Nachttopf unseres Helden, ein Flechtkorb, in dem er schläft, oder das Baumwollknäuel, aus dem er seinen Kindern Anziehsachen strickt, ein Eigenleben zu entwickeln scheinen, allein dadurch, wie der Schnitt sie zueinander in Beziehung setzt; erneut der Klangteppich, der die Bilder immer wieder großflächig zudeckt, manchmal penetrant, manchmal in sakraler Luftigkeit, manchmal durchaus mit absurder Komik, wenn sich Alain Pierre in frühem Techno versucht, der sich fiebrig über an sich völlig unspektakulären Alltagsmomenten ausbreitet.
Im Anschluss hält der virtuell zugeschaltete Professor einen Monolog, der kaum etwas mit dem Film selbst zu tun hat: Es geht um Rosa von Praunheim, weil der ja zeitgleich ebenfalls Film gedreht hat, um Freunde seinerseits, die Stadtflucht begingen und nunmehr außerhalb Berlins Bio-Gemüse anbauen, und darum, dass die Quintessenz des Films möglicherweise lauten könnte: Auch auf dem Land geht's halt nicht immer nett zu! Die Studierenden diskutieren wenig, wandern größtenteils noch während der Abschlussrede davon, unberührt, wie es scheint.
Worin sich VASE DE NOCES mehr als alle anderen mir bekannten Filme hervortut, das ist, uns mit unserer eigenen Körperlichkeit zu konfrontieren, mit Schönheit und Hässlichkeit von Flora und Fauna, mit physischen Vorgängen, die uns tagaus tagein begleiten, und die wir trotzdem gelernt haben, völlig auszublenden: In Großaufnahmen picken Hühner sich windende Regenwürmer aus dem regennassen Ackerboden; in Großaufnahme pickt ein Hahn einem anderen, der anscheinend bereits verletzt ist, immer wieder auf dem Kopf herum, wie um ihn dadurch langsam zu Tode zu bringen; in Großaufnahme schält sich ein Ferkel aus der Vulva der Sau, fällt ins Stroh, blind, dampfend, völlig verklebt; in einer Halbtotalen streckt Dominique Garny seinen Finger nach den eigenen Exkrementen am Boden seiner Defäkierschüssel aus, so, als sei es der Finger Adams auf der Suche nach dem göttlichen Gegenstück; in einer Halbtotalen hebt und senkt sich Garnys nackter Hintern rhythmisch, während er die Sau begattet, die dabei genüsslich irgendwelche Feldfrüchte vom Boden knuspert; in einer Totalen läuft Garny splitterfasernackt, nur mit Erde wie mit einer zweiten Haut bedeckt, auf die Kamera zu, schnaubend, schnaufend, hechelnd.
"Arthouse entartet", verkündet eine Filmkritik auf der OFDB. Einer meiner liebsten Filme überhaupt, verkünde ich mit hochzeitsschlammverkrusteter Stimme.