Eisenzeit - Thomas Heise (1991) [Doku]

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Eisenzeit - Thomas Heise (1991) [Doku]

Beitrag von buxtebrawler »

Eisenzeit.jpg
Eisenzeit.jpg (34.18 KiB) 96 mal betrachtet

Originaltitel: Eisenzeit

Herstellungsland: Deutschland / 1991

Regie: Thomas Heise

Die Filmhelden wurden um die Zeit des Mauerbaus geboren, einige in schwierigen Elternhäusern. Ihr Heimatort Stalinstadt erhielt den Namen Eisenhüttenstadt. Was wurde aus Mario, Tilo, Karsten und Frank? (Covertext)

Link zum Film in der Mediathek der Bundeszentrale zur politischen Bildung:
:arrow: https://www.bpb.de/mediathek/video/264640/eisenzeit/
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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buxtebrawler
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Re: Eisenzeit - Thomas Heise (1991) [Doku]

Beitrag von buxtebrawler »

„Mit der Realität ist er eigentlich nie zurechtzukommen...“

Manchmal kommt es alles ganz anders: Thomas Heises („Das Haus 1984“) Dokumentarfilm „Eisenzeit“ über vier Jugendliche aus Eisenhüttenstadt wurde bereits Anfang der 1980er in Angriff genommen, jedoch nie fertiggestellt. Zehn Jahre später, im Jahre 1991, nimmt Heise die Arbeit an seinem Film wieder auf, der nun ein ganz anderer wird: Die DDR ist jüngst Teil der BRD geworden, die Jugendlichen, die er einst zu porträtieren suchte, sind erwachsen oder tot und niemand von ihnen lebt mehr in Eisenhüttenstadt.

„Was bleibt?“

Eine Frau befragt jemanden, der zunächst gar nicht und dann nur mit seinem Hinterkopf im Bild ist, zu dessen Alkoholikerkarriere und Familienverhältnissen. Filmemacher Heise schaltet sich anschließend aus dem Off als fortan durch den Film führender Sprecher ein. Man erfährt, dass die Frau Conny heißt, und muss sich selbst zusammenreimen, dass sie anscheinend als Sozialarbeiterin o.ä. arbeitet. Zusammen mit Heise fährt sie Mario besuchen – auf dem Friedhof, wie sich herausstellt… Wir erfahren Marios Geschichte von Heise im Schnelldurchlauf, ein Problemkind mit Problemeltern. Ein Interview mit Marios Mutter schließt sich an, kurze historische Aufnahmen von der Stadtgründung (damals noch „Stalinstadt“) beenden zunächst dieses Kapitel. Nun geht’s um Tilo, aus dessen Schulakte zitiert wird. Seine Eltern äußern sich. Ein Trinker und Schläger, der irgendwann zu Gott fand, um viel zu früh seinem Schöpfer gegenüberzutreten.

Conny war mit Mario befreundet oder gar liiert und teilt ihre persönlichen Erinnerungen für diesen Film. Auch Heise lässt eigene Erinnerungen immer wieder einfließen. Im Mai 1989, kurz vor seiner Ausreise in die BRD, hat Mario sich das Leben genommen. Da der Film öfter zwischen Tilo und Mario wechselt, ist es schwer, den Überblick zu behalten, um wen genau es gerade geht. Der jüngere Bruder, der nun einige Worte findet, dürfte zu Tilo gehören, bevor es wieder um Mario geht. Dieser war allem Anschein nach ein Punk. Wir lernen seine jüngere Schwester kennen. Ein Folk-Song wird in Gänze ausgespielt, der dokumentarische Teil pausiert so lange. Kellnerin Anka sei mit allen befreundet gewesen, persönlich zu Wort kommt sie aber nicht und wird generell nur kurz angerissen. Die beiden anderen Männer, um die es ursprünglich auch gehen sollte, Karsten und Frank, seien verschwunden, wie wir erfahren. Marios Ex-Freundin schließt den Reigen, sie wirbt jetzt für Abos der „Fernsehwoche“. Ein Ausschnitt zeigt eine Promoaktion mit einem singenden Gotthilf Fischer, um den ostdeutschen Markt zu erschließen.

Auch Frank war ein DDR-Staatsfeind. Zunächst weiß seine Mutter einiges zu berichten, dann stößt sein Vater, ein ehemaliger Stasi-Mitarbeiter, hinzu. Frank sei 1984 von der BRD aus dem Knast freigekauft worden und nach West-Berlin gezogen. Sein Bruder Ronald zitiert aus einem Brief seines Vaters, einem echten Parteisoldaten mit faschistischer Attitüde. Eine schöne Überraschung: Frank wurde ausfindig gemacht und äußert sich bereitwillig vor der Kamera, unter anderem zum schwierigen Verhältnis zu seinem Vater. Von seiner Familie wirkt er total entfremdet, seinen Vater, der ihn brutal misshandelt und gequält habe, hasse er. Im weiteren Verlauf des Gesprächs äußert sich Frank sehr system- und gesellschaftskritisch.

„Eisenzeit“ ist ein unheimlich langsam erzählter, mit Füllszenen gestreckter und mit mehreren Neil-Young-Stücken unterlegter Film, der eine ehemalige Clique grob umreißt und damit nur zum Teil porträtieren kann. Aus dem, was man über Mario, Tilo und Frank erfährt, entsteht das Bild nicht klargekommener junger Männer, denen nicht die Hilfe zuteilwurde, die sie gebraucht, nicht die Chancen angeboten wurden, die sie gereizt hätten, und die gegen DDR-Bildungssystem, Gesellschaft und Elternhaus rebellierten oder sich in Süchten verloren. Außer im Falle Franks wird dabei nie so ganz deutlich, wer zu welchen Anteilen die Hauptschuld am jeweiligen Desaster trägt, ihren Teil dürften aber alle dazu beigetragen haben. Die Stimmung ist gedrückt, der Stil aber stets respekt- und pietätvoll. Insbesondere Franks Eltern sind erschreckend, Franks kluge und selbstreflektierte Worte gegen Ende vermitteln indes etwas Hoffnung. „Eisenzeit“ ist ein intimes Stück sehr individueller Geschichte, das davon beseelt scheint, in Vorwendezeiten in dieser Offenheit nie hätte realisiert werden zu können. Schnitt und Dramaturgie wurden dabei offenbar ein wenig vernachlässigt, brechen dafür aber mit heutzutage gewohnten Dokumentarfilm-Konventionen.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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