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Der Vagabund und das Kind - Charles Chaplin (1921)

Verfasst: Di 23. Mai 2023, 16:43
von buxtebrawler
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Originaltitel: The Kid

Herstellungsland: USA / 1921

Regie: Charles Chaplin

Darsteller(innen): Charles Chaplin, Edna Purviance, Jackie Coogan, Silas Hathaway, Carl Miller, Granville Redmond, May White, Tom Wilson, Henry Bergman, Charles Reisner, Raymond Lee, Lita Grey, Edith Wilson, Baby Wilson, Nellie Bly Baker u. A.
Charlie findet auf der Straße ein ausgesetztes Baby und übernimmt die Rolle des Pflegevaters. In der Zwischenzeit macht die Mutter des Kindes Karriere. Sie möchte sich nun, da sie das nötige Geld hat, selber um ihren Sohn kümmern. Für Charlie und "seinen Sohn" scheint die Stunde der Trennung gekommen zu sein…
Quelle: www.ofdb.de


Re: Der Vagabund und das Kind - Charles Chaplin (1921)

Verfasst: Di 23. Mai 2023, 16:45
von buxtebrawler
“A picture with a smile – and perhaps, a tear.”

„Der Vagabund und das Kind“ alias „The Kid“ aus dem Jahre 1921 war mit seinen ursprünglich 67, später 53 Minuten Laufzeit Stummfilm-Slapsticker Charlie Chaplins erster Langfilm. Wie so oft verfasste er nicht nur das Drehbuch und inszenierte es höchstselbst, sondern übernahm er auch die Hauptrolle und schnitt das Material zur Endfassung zusammen. Es heißt, Chaplin habe hier seine eigene, von Armut geprägte Kindheit reflektiert. „The Kid“ gilt als eine der ersten Dramödien respektive Tragikomödien der Filmgeschichte, da sie Chaplins typischen Slapstick-Humor mit anrührend tragischen und ernsten dramatischen Szenen vereint, die ihre Protagonistinnen und Protagonisten ernstnehmen, und auch mit Sozialkritik nicht geizt.

Eine alleinstehende, unverheiratete Mutter (Edna Purviance, „Vergnügte Stunden“) ist derart mittellos, dass sie keine Möglichkeit sieht, ihr frischgeborenes Kind (Silas Hathaway) durchzubringen. Der Erzeuger (Carl Miller, „Die kleine Kanaille“) hat sie sitzengelassen und auch sonst scheint von niemandem Hilfe zu erwarten. In ihrer Verzweiflung setzt sie ihr Baby in einer an der Straße geparkten Luxuskarosse aus und hofft, dass die offenbar vermögenden Autobesitzer sich seines annehmen. Dass das Gefährt kurz darauf gestohlen wird und die dreisten Diebe ihr Baby kurzerhand in einem Armenviertel neben einer Mülltonne ablegen, bekommt sie nicht mehr mit. Dort kommt jedoch der Tramp (Charlie Chaplin) vorbei, der das Kind an sich nimmt, allerdings eigentlich nur, um es schnellstmöglich wieder loszuwerden. Dies misslingt und so nimmt er es mit zu sich in seine äußerst bescheidene Hütte nach Hause, wo er im Laufe der Zeit in die Vaterrolle hineinwächst und dafür sorgt, dass es dem Kleinen trotz Armut an nichts mangelt. Nach fünf Jahren kann ihm der kleine John (nun Jackie Coogan) bereits bei der „Arbeit“ helfen, indem er Fensterscheiben einwirft, die sein „zufällig vorbeikommender“ Ziehvater daraufhin repariert – gegen Bezahlung, versteht sich. Johns Mutter hat derweil Karriere als Opernsängerin gemacht und keine Geldsorgen mehr. Sie engagiert sich sozial und fasst den Entschluss, ihren Sohn ausfindig zu machen…

Chaplins persönlicher biographischer Bezug äußert sich u.a. dadurch, dass er für den Film ganze Straßenviertel seines Londoner Geburtsorts nachbauen habe lassen. Noch wichtiger aber sind das Gefühl und die Sensibilität, mit der sich Chaplin der Thematik filmisch nähert. In seiner Paraderolle als Tramp ist er ein kleiner Gauner, der das Herz am rechten Fleck hat und seiner eigenen prekären Situation zum Trotz Verantwortung für das Findelkind übernimmt. Nach dem Zeitsprung von fünf Jahren zeigt der kleine Jackie Coogan ein beeindruckendes Schauspiel, zudem scheint die Chemie zwischen Chaplin und ihm ideal gewesen zu sein. Diverse Elemente wie Fluchtszenen oder Johns Prügelei mit einem anderen Kind werden Stummfilm-Comedy-typisch beschleunigt wiedergegeben und die Slapstick-Choreographien sind natürlich, ebenso wie die Situationskomik, vom Feinsten, für die nachdenklichen und traurigen Momente gibt Chaplin der Handlung aber die nötige Zeit. Dramatische Höhepunkte sind die Versuche, dem Tramp John mittels Behörden- und Polizeigewalt wegzunehmen. Die Visualisierung eines Traums hingegen geriet in ihrer kitschigen Überzeichnung gewöhnungsbedürftig.

Nichtsdestotrotz ist „The Kid“ ein wunderbar warmherziger Film, mit dem Chaplin Filmgeschichte schrieb. Jackie Coogan avancierte durch ihn zum gefragten Kinderstar und wechselte später ins Charakterfach. Den meisten dürfte er als Uncle Fester aus der „The Addams Family“-Fernsehserie bekannt sein. Im Gegensatz zu späteren Director’s-Cut-Trends, die die Filme i.d.R. länger machten, kürzte Chaplin seinen Film im Jahre 1971 um einige sentimentale Szenen (tatsächlich ist das Timing eine der Stärken dieser Fassung) und komponierte eine Filmmusik, die die Bilder ganz vorzüglich untermalt und in ihrer Wirkung verstärkt. Auch wer sich für gewöhnlich keine Stummfilme ansieht, sollte „The Kid“ einmal gesehen haben – es lohnt sich!