Brief von Paris - Walerian Borowczyk (1976)

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Salvatore Baccaro
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Brief von Paris - Walerian Borowczyk (1976)

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Originaltitel: Brief von Paris

Produktionsland: Frankreich/Deutschland 1976

Regie: Walerian Borowczyk

Cast: Paris, die Stadt der Liebe, gesehen als: Stadt des Chaos


Lange Jahre schwirrte Borowczyks vierzigminütiger BRIEF VON PARIS einzig als Gespenst innerhalb der verfügbaren Filmographie des polnisch-französischen Auteurs umher: Keine Heimkinoveröffentlichung, nicht mal als Bonusmaterial-Verwertung auf der DVD eines seiner Spielfilme; kein Web-Rip in unterdurchschnittlicher Qualität, aufgespürt in obskuren Cinephilie-Foren; schlicht keine Möglichkeit, des Werks ansichtig zu werden, sodass die ersten Unken schon die Schlagworte „verschollen“ und „unauffindbar“ rufen – und dann, plötzlich, stolpert man nichtsahnend über einen YouTube-Link, hinter dem sich genau dieser Film in durchaus ansehbarer Qualität verbirgt…

Die Verwirrung rund um BRIEF VON PARIS beginnt schon mit dem Jahr, in dem der Streifen laut der unterschiedlichsten Quellen entstanden sein soll. Dominierend ist der Vorschlag 1975, zumindest haben sich darauf sowohl die IMDB wie die OFDB und letterboxd geeinigt. Das Internationale Filmfestival Rotterdam erklärt, dass der Film in dem Jahr gedreht worden sei, in dem er dort präsentiert wurde, nämlich 1977. Aber auch 1976 befindet sich im Rennen, nämlich auf MUBI, wo BRIEF VON PARIS tatsächlich kürzlich gezeigt worden zu sein scheint, vor allem aber auch auf der Homepage der „Friends of Walerian Borowczyk“. 1976 scheint mir persönlich der Wahrheit am nächsten zu kommen, und zwar wegen eines Indizes, das sich, wenn man genau hinsieht, in BRIEF VON PARIS selbst versteckt: Einmal nämlich ist dort ein Filmplakat von LA MARGE zu sehen, jenem Erotikdrama, das Borowczyk 1976 mit Joe Dallesandro und Sylvia Kristel in den Hauptrollen veröffentlichte – und wenn LA MARGE zum Zeitpunkt der Dreharbeiten in Pariser Kinos gezeigt wurde, schlägt das die Option, dass BRIEF VON PARIS bereits 1975 fertiggestellt worden sein soll, ziemlich klar aus dem Rennen.

Spannend ist aber auch die Entstehungsgeschichte von BRIEF VON PARIS: So soll Eckart Stein, seinerzeit ZDF-Redakteur und verantwortlich für „Das kleine Fernsehspiel“, das ihm 1977 den Adolf-Grimme-Preis einbrachte, Borowczyk mit dem Ansinnen kontaktiert haben, doch einmal ein Portrait der Stadt zu drehen, die er nach seiner Emigration aus Polen zur Wahlheimat erkor. Gewissermaßen kehrt Borowczyk mit BRIEF VON PARIS zu seinen Anfängen im Animations- und Experimentalfilm zurück: Es gibt keine Dialoge, es gibt keine nacherzählbare Handlung, zudem ist Borowczyk sowohl für Regie wie Schnitt, Ton und die 16mm-Kamera zuständig (letzteres unter dem Pseudonym Michel Zolat). Entgegen seinem animierten Frühwerk, wo reale oder gezeichnete Objekte sich per Stop-Motion miteinander vergnügen, folgt BRIEF VON PARIS einem strengen Realismus. Anders gesagt: Die Metropole Paris selbst ist das Objekt, auf das Borowczyk sich wirft, um es per Schnitttechnik zu verfremden, um es in eine Fülle bizarrer Details zu zerstückeln, um seine ganz persönliche Perspektive auf die Großstadt zu veranschaulichen, die weitaus keine besonders positive ist, sondern Paris eher wie ein Ungeheuer wirken lässt, das man nach der Sichtung des Films eigentlich am liebsten vermeiden möchte. Es würde mich ja sehr interessieren, welche Gesichter die Menschen geschnitten haben mögen, die mit BRIEF VON PARIS damals im ZDF-Nachtprogramm konfrontiert wurden.

Kuba Mikurda ist einer der wenigen, die BRIEF VON PARIS vor Jahren schon gesehen zu haben scheinen und über ihre Sichtungseindrücke berichteten. In seiner 2015er Monographie zu Borwoczyk, "Boro, L'Île D'Amour“, schreibt der Autor: „After LA MARGE, WB makes a short but poignant film entitled BRIEF VON PARIS, a bleak vision of a Moloch-like city, overwhelming and attacking the senses from all directions, impossible to contain. In BRIEF VOM PARIS, the camere movements are feverish and chaotic, as in the most dramatic sequences of DZIEJE GRZECHU. It's Paris as a nightmare, Paris by Kafka, Paris as a claustrophobic trap.”

Viel lässt sich diesem Verdikt nicht hinzufügen: Möglicherweise bewusst orientiert Borowczyk sich an klassischen Stadtsymphonien des frühen Kinos wie Walter Ruttmanns BERLIN (1927) oder Dziga Vertovs TSCHELOWEK S KINOAPPARATOM (1929), führt deren Ansatz, das pulsierende Leben ausgewählter Großstädte in rhythmischen Montagen darzubieten, allerdings bis zur allerletzten Konsequenz: Die Handkamera wirbelt entfesselt durch die Gassen, fokussiert Gesichter, Schaufensterläden, den niemals ruhenden Verkehr; keine Einstellung dauert länger als zwei, drei Sekunden, kaum haben wir uns an eine Ansicht gewöhnt, werden wir schon mit der nächsten atemlosen Impression beworfen; der nachträglich hinzugefügte Ton besteht ausnahmslos aus dem Lärm, den Paris permanent ausströmt: Hupen, Motorenheulen, Baustellendröhnen. In den ganzen vierzig Minuten gibt es keinen Moment der Ruhe, der Stille, der Kontemplation: BRIEF VON PARIS ist eine Kakophonie aus Sounds und Bildern, ein riesiger wuselnder audiovisueller Teppich, der von Minute eins über den Betrachter geschleudert wird, und ihn bis zur letzten Minute nicht mehr unter sich hervorlässt, ein gezielter Angriff auf Sehgewohnheiten, auf die Nerven des Publikums, auf unser Fassungsvermögen. Völlig erschöpft nach der Sichtung muss ich spontan an Gaspar Noé denken, und zwar konkret an dessen besonders wilde Exzesse wie LUX AETERNA. Eine weitere Referenz, die mir in den Sinn kommt: Der 1976er Kurzfilm C’ÉTAIT UN RENDEZ-VOUS, in dem Claude Lelouch mit dem Auto knapp zehn Minuten lang durchs morgendliche Paris rast, ohne Rücksicht auf Verluste und die eigene Unversehrtheit rote Ampeln überfährt, sich halsbrecherisch in Kurven legt usw., und die an der Frontstoßstange angebrachte Kamera diese Höllenfahrt in einer schnittlosen POV-Sequenz aufzeichnet.

Freilich, BRIEF VON PARIS hat nichts zu tun mit ejakulierenden Penissen bäriger Bestien oder mit den Lustschreien erregter Nonnen wie sie Borowczyk kurz zuvor und kurz danach in LA BÊTE (1975) oder INTERNO DI UN CONVENTO (1977) inszeniert. Dennoch sind der Stil des Meisters und vor allem sein Blick auf die Welt unverkennbar: Paris wird in seine Einzelteile zerlegt, wie eine gigantische Maschine, nicht das große Ganze interessiert, weil es möglicherweise gar nicht erfasst werden kann, sondern die einzelnen Triebfedern und Rädchen, die ineinander greifen, um dieses schnaubende Ungetüm in Bewegung zu setzen; Paris wird unterteilt in Detail- und Großaufnahmen, so wie es Borowczyk gerne mit den Körpern der Darsteller in seinen Spielfilmen tut, wodurch diese ebenfalls den Eindruck belebter Automaten erwecken, primär reagierend auf äußere Impulse, nicht auf innere Antriebe; Paris wird als Sammlung von Objekten in Szene gesetzt, die scheinbar willkürlich nebeneinanderliegen, und die die hemmungslose Montage in einen Strudel versetzt, der zu ähnlichen surrealen Kombinationen führt, wie sie Borowczyks animierten Frühwerken eigen sind.

Ein sich drehender Baukran, der optisch an den Eiffelturm erinnert, und dahinter der echte Eiffelturm, viel kleiner, viel steifer; ein Straßenhändler, behangen mit billigem Schmuck wie ein Weihnachtsbaum; Trödelmärkte voll mit Trash und Treasures, durch die die Menschen sich gegenseitig schieben müssen, derart aus allen Nähten platzen sie vor Besuchern; Züge, wie Pfeile über schwere Eisenbrücke schießend, in die eine Richtung, in die andere Richtung, so, als ob es die Blutbahnen dieser hysterischen Stadt seien; in manchem Schaufenster Objekte, wie Borowczyk sie liebt: Statuen, Gebrauchsgegenstände, Gemälde vergangener Epochen, als nostalgischer Plunder vergessen herumliegend in diesem Hexenkessel; die bebenden Straßen, über die man als Fußgänger kaum herüberkommt, wenn man nicht unter die Räder geraten möchte; eine Dogge, erschöpft auf dem Pflaster liegend, wie ausgeknockt von den zahllosen Reizen für Augen und Ohren; Borowczyks Gesicht hinter der Kamera, als Reflexion einer Schaufensterscheibe ins Objektiv guckend; massenweise Tauben, um jeden herabfallenden Brotkrumen kämpfend; am Ende ein veritabler Abstieg in die Hölle, wenn es hinab in die Metroschächte geht. Dazu ein Soundtrack wie von einem vergessenen Industrial-Tape der späten 70er, der noch diejenigen Bilder mit ohrenbetäubendem Noise zudeckt, die, weniger maschinengewehrsalvenartig montiert, harmonisch hätten wirken können: Die Grabstäten des Pére Lachaise; spielende Kinder im Park; ein Kätzchen, Borowczyks Kamera-Blick erwidernd.
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