Club Zero - Jessica Hausner (2023)

Moderator: jogiwan

Antworten
Benutzeravatar
Salvatore Baccaro
Beiträge: 3070
Registriert: Fr 24. Sep 2010, 20:10

Club Zero - Jessica Hausner (2023)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

CZ.jpg
CZ.jpg (452.16 KiB) 194 mal betrachtet

Originaltitel: Club Zero

Produktionsland: Österreich / UK / Deutschland / Frankreich / Dänemark 2023

Regie: Jessica Hauser

Cast: Mia Wasikowska, Ksenia Devriendt, Luke Barker, Samuel D. Anderson, Gwen Currant, Florence Baker


Miss Novak ist die neue Lehrerin an einer Eliteschule mutmaßlich in Großbritannien. Als erstes Projekt initiiert die engagierte junge Frau einen Kurs zu ihrem persönlichen Lieblingsthema „Conscious Eating“. Wie der Name schon andeutet, soll es darum gehen, den insgesamt fünf Schülerinnen und Schülern, die sich für diese Sondereinheit innerhalb des Lehrplans anmelden, ein bewusstes Gefühl für sämtliche Dinge zu vermitteln, die um die tagtägliche Nahrungsaufnahme kreisen. Im Klartext: Hastiges Herunterschlingen, während man nebenbei auf dem Smartphone durch Social-Media-Kanäle scrollt, soll fortan tabu sein; stattdessen steht auf dem Plan, jeden einzelnen Essensbissen mit allen Sinnen zu genießen, jede einzelne Mahlzeit individuell wertzuschätzen, sich minutiös auf das zu konzentrieren, was es mit dem eigenen Körper anstellt, sobald man auch nur eine einzige Linse, ein einziges Reiskorn den Gaumen hinabgeschickt hat.

Die Motivation, die Fred, Elsa, Ragna, Ben und Helen dazu treibt, sich für Miss Novaks irgendwo zwischen New-Age-Spiritualismus, Ernährungsberatung und Empowerment-Workshop verorteten Kurs zu entscheiden, ist dabei grundverschieden: Die eine findet, sie habe zu viel Speck um die Hüften, und hofft, diesen zu verlieren, sobald sie sich bewusster mit der eigenen Ernährung auseinandersetzt; eine andere brennt für Themen wie Umweltschutz und Veganismus, und erwartet, durch die Stunden bei Miss Novak Anregungen für die eigene aktivistische Praxis zu bekommen; ein Dritter hat den Kurs nur gewählt, um beim Zwischenzeugnis damit glänzen zu können, sich auch außerhalb des herkömmlichen Curriculums irgendwo eingebracht zu haben, und „Conscious Eating“ klang im Vergleich mit dem restlichen Angebot eben noch am interessantesten.

Schnell freilich wird klar, dass es sich bei dem Terminus „Conscious Eating“ um einen Euphemismus handelt: Miss Novak geht es nicht nur darum, dass ihre Schützlinge bewusster speisen, sie sollen am besten gar keine Nahrung mehr zu sich nehmen. Bald schon erzählt sie von einem ominösen „Club Zero“, dem sie selbst angehöre, eine versteckt agierende Elite bestehend aus Menschen, die die Nahrungsaufnahme komplett eingestellt hätten, mit dem Endziel, die Unsterblichkeit zu erlangen. Dem Einwurf einer Schülerin, dass das doch nicht sein könne, denn dann würde man doch früher oder später sterben, begegnet Miss Novak mit einem wissenden Lächeln: Das Problem sei, dass die meisten Menschen es einfach nicht ausprobieren würden, sich von Lebensmitteln fernzuhalten. Dabei sei das die ultimative Befreiung von allen äußeren und vor allem inneren Zwängen: Einfach Messer und Gabel weglegen, und weder Magen noch Darmtrakt weiter mit Füllmaterial zu behelligen! Probiert es doch einfach mal aus!

Zwar verliert Miss Novak zwei ihrer Kursteilnehmer auf dem nun beginnenden Weg der sukzessiven Nahrungsreduktion, für die übrigen jedoch werden die Portionen, die sie in der Schulmensa zu sich nehmen, immer überschaubarer, die Ausreden immer abenteuerlicher, die sie zu Hause den Eltern auftischen, weswegen sie nicht mit ihnen zu Abend essen könnten, und die Momente, in denen sie doch einmal mehr als einen zaghaften Spatzenbiss von irgendeinem kalorienarmen Gemüse wagen, immer schuldbeladender. Zeitgleich aber emanzipieren sie sich immer mehr von ihrem bisherigen Umfeld, driften immer stärker zu Miss Novak hin, die sich mit ihnen bald auch in ihrer Freizeit trifft, sich mit ihnen immer öfter während der Schulpausen zu bewusstseinserweiternden Meditations-Session zurückzieht, und leichtes Spiel darin hat, ihren bevormundenden, karriereorientierten oder schlicht physisch wie emotional absenten Eltern den Rang als alleinige Bezugsperson abzulaufen…

Seitdem ich erstmals vor vielen Jahren ihre Hommage an das italienische Horrorkino HOTEL (2004) gesehen habe, gehört die 1971 in Wien geborene Jessica Hausner für mich zu den spannendsten Gegenwartsregisseurinnen – ein Stellenwert, dem sie mit den nach HOTEL folgenden Spielfilmen mehr als gerecht wurde, zählen doch sowohl ihre ebenso anrührende wie groteske Pilgerfahrt LOURDES (2009) wie ihre Aufarbeitung der suizidalen Liebesgeschichte zwischen Heinrich von Kleist und Henriette Vogel AMOUR FOU (2014) zu meinen liebsten Filmen des neuen Jahrtausends. Umso enttäuschter fiel für mich Hausners erster englischsprachiger Streifen LITTLE JOE von 2019 aus – eine Art Arthouse-Remake von THE BODY SNATCHERS, der sich mir seinerzeit, wie in diesen heiligen Hallen nachzulesen ist, allzu sehr kompromissbereit darin zeigte, die frühere Sperrigkeit mit einem Massengeschmack-Appeal zu verschwistern.

In ihrem neusten, erneut international co-produzierten und 2023 Premiere in Cannes feiernden Film findet Hausner nunmehr aber eine, wie ich finde, wesentlich ansprechendere Balance zwischen dem eigenwilligen Frühwerk und dem anscheinend seit LITTLE JOE vorherrschenden Ansatz, ein breiteres Publikum ansprechen zu wollen: An LITTLE JOE erinnert zunächst natürlich einmal die knallbunte Optik, die im Verbund mit Hausners Vorliebe für extrem präzise, nahezu unterkühlte Bildkompositionen wirkt, als habe man einen typischen Berliner-Schule-Film in die Gussform einer Bubblegum-Werbeästhetik gegossen; CLUB ZERO sieht hinreißend aus wie die Auslade einer Eisdiele, ist dabei aber im Grunde genauso eiskalt wie die dort angebotenen Schleckereien. Wie schon in ihrem Frühwerk beäugt Hausner ihre Figuren aus einer distanzierten Perspektive, als seien es Insekten, festgepinnt auf der Schautafel eines Naturkundemuseums: Psychologische Erklärungen gibt es ebenso wenig wie – erneut eine Verwandtschaft zur Berliner Schule – irgendwelche melodramatischen Ausbrüche; der Cast agiert (allein voran die beängstigend ruhige Mia Wasikowska) zurückgenommen, fast stoisch; die Geschichte entwickelt sich neutral und wertfrei, was in einem Ende kulminiert, das so offen ist, dass man es entweder furchtbar finden kann, wie sehr die Regisseurin sich hier weigert, ihre semi-dokumentarische Bestandsaufnahme des Wesens einer Anti-Nahrungs-Sekte in irgendeinen klar benennbaren Zusammenhang zu stellen, oder es anregend finden kann, wie sehr Hausners Film darauf hinarbeitet, dass wir als Zuschauende unseren eigenen Denkkasten anschmeißen und selbst Antworten auf die Frage finden, ob CLOUD ZERO als Warnung vor Verschwörungstheorien und Alternativen Wahrheiten verstanden werden soll, als kritischer Blick auf Schlankheits- und Diätenwahn gerade unter Jugendlichen, als Parabel darauf, wie man im 21. Jahrhundert nach Rückständen von Transzendenz und Metaphysik suchen und sich dabei verlieren kann, oder ob der Film vielleicht im Subtext doch von etwas ganz anderem oder von allem zugleich handelt.

In jedem Fall spannend ist es, wie Hausner mit Genre-Konventionen spielt, wie sie Filmklassikern ihre Reverenz erweist, wie sie ganz zart, niemals aufdringlich, satirische und ironische Töne anschlägt, (sodass CLUB ZERO stellenweise zum Brüllen absurd anmutet) – und das alles stets wesentlich versierter als im unentschlossen zwischen Arthouse und Grindhouse pendelndem LITTLE JOE: An Leontine Sagans für das Queere Kino wegweisende lesbische Liebesgeschichte MÄDCHEN IN UNIFORM (1931) mag man aufgrund der Konstellation Schülerinnen-Lehrerin in ungesundem Abhängigkeitsverhältnis ebenso denken wie an die üblichen US-Highschool-Streifen, deren Ikonographie Hausner offensichtlich ganz bewusst aufruft, um sodann mit ihren Klischees zu brechen. Ein Film wie Julia Ducournaus Body-Horror-Debüt GRAVE (2016), das sich ebenfalls um die speziellen Ernährungsvorlieben von Teenagern dreht, liegt, meiner Meinung nach, ebenso in Greifweite, wie das Oeuvre Yorgos Lanthimos, an das ich vor allem deshalb denken musste, weil der griechischstämmige Regisseur im Laufe seiner bisherigen Karriere eine ganz ähnliche Entwicklung durchlief wie die etwa gleichaltrige Hausner: Angefangen mit hermetischen, geringbudgetierten, noch in seinem Heimatland gedrehten Werken wie KINETTA (2005) oder KYNODONTAS (2009), fabriziert Lanthimos inzwischen zwar in Hollywood nominelle Kostümdramen wie zuletzt THE FAVORITE (2018), schafft es aber dennoch, seine Avantgarde-Sensibilitäten relativ harmonisch mit den Anforderungen der primär ökonomisch orientierten Traumfabrik zusammenzubringen.

Was Hausner ebenfalls schon in LITTLE JOE erprobte – (und was ich für einen der besten Aspekte des Films halte) -, ist es, den Soundtrack aus einzelnen Pattern zusammenzusetzen, die die Handlung assoziativ und stakkatoartig kommentieren: Im Vorgängerstreifen sind es Kompositionen des japanischen Musikers Teijio Ito, die es der Regisseurin angetan haben; für CLOUD ZERO ließ sie Markus Binder, seines Zeichens ein Teil des (famosen) österreichischen Experimental-Volksmusik-Duos Attweniger, einen Originalscore anfertigen, der aber ganz ähnlich funktioniert: Vereinzelte Töne, isoliert stehende Klangfetzen, aufwühlende Sounds ploppen während des gesamten Films mitunter zu Momenten auf, in denen man sie am wenigsten erwartet, und sorgen dafür, dass die ostentativ glattgeschleckten Bilder und die fragmentarische Story permanent auf einem Teppich chaotischer Töne ruhen - eine audiovisuelle Trias, die zumindest ziemlich affektiv wirkt.

Zum Schluss das, was mich am meisten überraschte, nämlich eine der transgressivsten Szene, die ich in letzter Zeit in einem kommerziellen Spielfilm gesehen habe: Wer sich von euch an eines der heftigsten Erzeugnisse des Wiener Aktionismus – OTMAR BAUER ZEIGT! von 1968 – erinnert, dürfte sich ungefähr vorstellen können, was eine der Schülerinnen zum Entsetzen ihrer fassungslos danebenstehenden Eltern mit ihrem Erbrochenen anstellt, nachdem sie es zurück auf den Teller gespuckt hat, wo es eben noch als Mahlzeit für ihren abgemagerten Körper gewesen ist. Allein deshalb, weil Jessica Hausner es in dieser haarsträubenden Szene schaffte, mein entgleisendes Gesicht dem der intradiegetischen Erwachsenen anzugleichen, glaube ich, sie könnte doch noch die Kurve bekommen haben, und auch wenn CLOUD ZERO zu keinem Zeitpunkt mit LOURDES oder AMOUR FOU mithalten kann, bin ich gespannt wie ein Flitzebogen, welches ihr nächstes Projekt sein wird – vielleicht dann Orgienmysterienspiele Hermann Nitschs im Rahmen eines Hollywood-Melodramas?
Antworten