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Zeit der Unschuld - Martin Scorsese (1993)

Verfasst: Fr 8. Dez 2023, 16:04
von buxtebrawler
Zeit der Unschuld.jpg
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Originaltitel: The Age of Innocence

Herstellungsland: USA / 1993

Regie: Martin Scorsese

Darsteller(innen): Daniel Day-Lewis, Michelle Pfeiffer, Winona Ryder, Linda Faye Farkas, Michael Rees Davis, Terry Cook, Jon Garrison, Richard E. Grant, Alec McCowen, Geraldine Chaplin, Mary Beth Hurt, Stuart Wilson, Howard Erskine, John McLoughlin, Christopher Nilsson, Alexis Smith, Miriam Margolyes u. A.

New York, 1870, Newland Archer (Daniel Day-Lewis), ein junger Anwalt aus bestem Hause, hat sich mit May Welland (Winona Ryder), ebenfalls feinsten Adels, verlobt. Die beiden sind das Tagesgespräch in New Yorks High Society. Da kehrt Mays Cousine, die unkonventionelle Gräfin Ellen Olenska (Michelle Pfeiffer) aus Europa zurück und bittet Newland um rechtlichen Beistand bei ihrer angestrebten Scheidung. Gräfin Olenska selbst gerät zum gesellschaftlichen Skandal. Doch Newland erkennt in ihr seine wahre Liebe ... (Covertext)


Re: Zeit der Unschuld - Martin Scorsese (1993)

Verfasst: Fr 8. Dez 2023, 16:05
von buxtebrawler
„Ich versteh' den Sinn deiner Worte nicht.“

Nachdem er „Kap der Angst“ abgedreht hatte, begab sich US-Ausnahmeregisseur Martin Scorsese im Jahre 1992 auf für ihn ungewohntes Terrain: die Verfilmung des Romans „Zeit der Unschuld“ aus der Feder der Schriftstellerin Edith Wharton. Das im Jahre 1993 veröffentlichte Resultat ist ein in den 1870er Jahren spielendes Historien-/Liebesdrama – und, und das ist wiederum typisch Scorsese: ein New-York-Film.

Die New Yorker Oberschicht im ausgehenden 19. Jahrhundert: Der junge und bereits wohlbeleumundete Anwalt Newland Archer (Daniel Day-Lewis, „Der letzte Mohikaner“) aus gutem Hause hat sich mit dem Adelsspross May Welland (Winona Ryder, „Meerjungfrauen küssen besser“) verlobt, was für Archer einen weiteren gesellschaftlichen Aufstieg bedeutet. Doch als Mays Cousine, Gräfin Ellen Olenska (Michelle Pfeiffer, „Batmans Rückkehr“) ihren polnischen Grafen verlässt und aus Europa anreist, bekommt die feine Gesellschaft erste Risse: Ein solches Verhalten ziemt sich nicht und auch davon unabhängig ist Olenska anders als der übrige Adel, dessen Kodizes sie ablehnt. Archer offeriert ihr seine anwaltlichen Dienste bei der Durchführung ihrer Scheidung und erliegt bald der Faszination für diese ungewöhnliche Frau, die nicht so recht in die High Society passen will. Doch obwohl er sich in sie verliebt, beharrt er auf der Eheschließung mit May. Verzweifelt kämpft er gegen seine Gefühle für Ellen Olenska an…

Das klingt nach einer pompösen Liebesschmonzette für Klatschzeitungsleser(innen) oder Telenovela-Gucker(innen), und tatsächlich hätte ich mir „Zeit der Unschuld“ wohl niemals angesehen, hätte nicht Martin Scorsese Regie geführt. Letzteres ändert leider nichts daran, dass ich kaum Zugang zu diesem elitären Standesdünkel fand und mir ob des permanent gestelzten Gelabers sogar das Zuhören schwerfiel. Es dauerte, bis sich mir erschloss, dass Archer zwischen zwei Frauen steht. „Wenn ich dich lieben soll, muss ich dich aufgeben“, heißt es hier, eine wahrlich komplizierte Beziehungskiste in einer mir völlig fremden Welt also. Ächz.

Alles beginnt mit einer Oper, es folgt ein Ball, Protz, Prahl und Pomp, klassische Musik von der Tonspur ohne Pause. Eine Voice-over-Erzählerin quasselt unablässig und stellt alle Figuren vor, um dem Film auch anschließend erhalten zu bleiben. Sie hat etwas von einer den Inhalt leicht ironisierenden Vorleserin. „Zeit der Unschuld“ vermittelt tiefe Einblicke in stocksteife aristokratische Etikette, einen wahnhaften Drang nach Konvention und überholte Moral, ist dabei sehr dialoglastig und leider auch langweilig – vermutlich, weil er es mit dem Realismus übertreibt: Wo Figuren in Scorseses Filmen sonst kein Blatt vor den Mund nehmen, gar zu Cholerik und brutaler Gewalt neigen, muss hier alles hinter der Etikette zurückstecken, sind selbst private Dialoge unheimlich zurückhaltend und im- denn expressionistisch. Das ist selbstredend Ausdruck einer ganz bestimmten Form von Unterdrückung, die der Film aufs Korn nimmt. Meine wesentlich bessere Hälfte merkte an, das habe viel von Tolstois „Anna Karenina“ – und wer wäre ich unbelesener Klotz, ihr zu widersprechen? Mit ein paar saftigen Flüchen, Fausthieben oder Explosionen wäre das alles nur ungleich interessanter…

Was „Zeit der Unschuld“ dennoch, hat man sich erst einmal irgendwie auf ihn eingegroovt, sehenswert macht: Die Handlung stellt letztlich zwei interessante Frauentypen gegenüber – und den Mann als überraschend naiv dar. Damit relativiert sich auch das längere Zeit zelebrierte Herumgehacke auf May, die ich im wahren Leben vermutlich mit „Ey, die ist doch voll nett!“ verteidigen würde. Zudem ist „Zeit der Unschuld“ nicht nur ein Ensemble-, sondern auch ein Ausstattungsfilm. Ob einen das in diesem speziellen Falle erreicht, sei dahingestellt, anerkennen muss man es aber – und Freundinnen und Freunde einer detailgetreuen Nachstellung des adligen Oberschicht-New-Yorks der 1870er (e.V.) dürften ihre helle Freude hieran haben.

Vermutlich sollte der Film genauso werden, wie er geworden ist und ist dafür wirklich gut, aber für Vadder sein‘ Sohn ist das eher nix – Scorsese hin, Winona her…
Apropos: Scorsese widmete den Film seinem während der Postproduktion verstorbenen Vater.