Marcus Stiglegger / Pelle Felsch (Hg.): Fulci - Filme aus Fleisch und Blut (2019)
Verfasst: Fr 22. Dez 2023, 15:39
Auf einer längeren Zugfahrt habe ich es endlich einmal geschafft, den bereits 2019 von Marcus Stiglegger und Pelle Felsch herausgegebenen Sammelband „Fulci – Filme aus Fleisch und Blut“ durchzuarbeiten – und mein Eindruck ist stark von Ambivalenz geprägt.
1. Wie zu erwarten, (jedoch nicht zu erhoffen war), handelt es sich bei dem Panorama, das die insgesamt 15 Artikel (inklusive Vor- und Nachwort) auffächern, nicht um eins, das dem Gesamtschaffen Fulcis gerecht werden möchte, sondern stattdessen um eins, das sich fast ausnahmslos entweder auf seine Splatterklassiker der frühen 80er oder seine Gialli der späten 60er und 70er Jahre beschränkt. Sämtliche Werke, die nicht zu einer dieser beiden Kategorien, (und damit – im weitesten Sinne – zum Genre der Phantastik) gehören, werden weitgehend ausgeblendet. Zwar versuchen Sven Safarow und Oliver Nöding in ihren „Meditationen über das Ende“ eine Ehrenrettung von Fuci-Spätwerken wie DEMONIA oder dem (herrlich metareflexiven!) UN GATTO NEL CERVELLO; zwar geht Patricia MacCormack in ihrem Schweifblick über „Lucio Fulcis Karriere“ auch kurz auf seine Komödien und Abenteuerfilme ein, (wobei sie diese bezeichnenderweise stets als Vorstudien seiner „besten Filme“, sprich, des Zombie-Treibens Anfang der 80er, deutet); zwar widmet Stefan Jung in seinen Ausführungen zu den literarischen Vorbildern Fulcis, „Gequälte Seelen“, auch den WOLFSBLUT-Adaptionen ein paar Zeilen, (die sich indes marginal gegenüber dem eigentlichen Thema des Artikels, Fulcis Poe-Rezeption insbesondere in THE BLACK CAT, ausnehmen) – alles in allem findet gerade Fulcis Oeuvre gerade der 50er und 60er aber so gut wie gar nicht statt, weder seine Western noch seine überdrehten Komödien noch sein Meisterwerk BEATRICE CENCI von 1969, das ich tatsächlich für den frühen Zenit von Fulcis Schaffen halte, (und für meinen persönlichen Lieblingsfilm Fulcis). Stattdessen werden die längst kanonisierten Werke wie L’ALDILÀ oder NON SI SEVIZIA UN PAPERINO gebetsmühlenartig, wenn auch zuweilen innovativ auf neue Aspekte hin abgeklopft – sei es nun, wie in dem Artikel von Michael Brodski, daraufhin, wie Fulci in seinen Gialli oder Horrorfilmen Kinderfiguren inszeniert, sei es, wie im verschriftlichen Disput zwischen Susanne Kappesser und Lioba Schlösser, bezüglich der Frage, ob Fulcis Gialli bloß sexistisch oder schon misogyn seien, sei es, wie in Pelle Felschs „Pforten zum Jenseits“, mit Fokus auf die Darstellung von Türen als Medien zur Grenzüberschreitung. Einmal mehr stützt diese Veröffentlichung meine These, dass Hierarchisierungs- und Kanonisierungsprozesse noch die schmalste Nische innerhalb der Nische erfassen: Es gibt diese circa zehn Filme Fulcis, die es sich lohnt, immer wieder zu betrachten, und die ihren Regisseur zum Autorenfilmer stempeln – aber wer tut sich schon freiwillig einen Musicarello mit Adriano Celentano wie I RAGAZZI DI JUKE BOX, ein im Kunstnebel versinkendes Sword-&-Sandal-Spektakel wie CONQUEST oder einen Sonntagsnachmittagsspaß wie OPERAZIONE SAN PIETRO an, in dem Heinz Rühmann als frommer Hobbydetektiv nach stibitzten Vatikan-Kunstgegenständen fahndet?
2. Wie ebenfalls zu erwarten, (und ebenfalls nicht zu erhoffen), ist die Qualität der dargebotenen Artikel sehr schwankend, wobei der Band vor allem unter seinem ostentativ schizophrenen Charakter leidet: Im Grunde wirkt es so, als ob die Herausgeber sich nicht hätten entscheiden können, ob sie ein rein von subjektiven Eindrücken, - teilweise, wie im Falle, von Fulcis Hofkomponist Fabio Frizzi oder seinem zeitweiligen Regieassistent Michele de Angelis, die beide zum Interview gebeten wurden, mitunter von persönlichen Erinnerungen - getragenes Abfeiern Fulcis als Auteur, Meisterregisseur, bedeutender Grenzgänger des Kinos abliefern wollen, oder ob das Ganze nicht doch eine explizit akademische Aufarbeitung des Phänomen Fulcis sein soll. Dementsprechend fallen die einzelnen Artikel entweder in die eine oder andere Kategorie, was ein homogenes Gesamtbild flächendeckend torpediert: Der Filmgelehrte Christian Keßler erzählt im gewohnten Plauderton, (und zuweilen das eigentliche Thema seines Textes, nämlich „eine Jugend im Schatten der Zensur“, aus den Augen verlierend), wie er sich fühlt, wenn er sich – natürlich – Fulcis Splatterexzesse anschaut; auch Stiglegger und Felsch offerieren im den Sammelband eröffnenden Dialog primär autobiographische Bezüge und sattsam bekannte Gemeinplätze zu Fulcis Oeuvre der frühen 80er; Jörg von Bincken nutzt große Teile seines eigentlich wissenschaftlich motivierten Beitrags zur „Ästhetik des Ekels“ bei Fulci, um in immer ausgefalleneren, blumigen Umschreibungen zu sezieren, welche widerstreitenden Gefühle in ihm die zerfließenden, zerreißenden, zerfasernden Körper in den einschlägigen Fulci-Schockern auslösen, (was letztlich eine nahezu unfreiwillig komische Wirkung erzielt). Demgegenüber stehen wiederum Artikel, die Fulci nüchtern-distanziert mit medien- und kulturwissenschaftlichem Instrumentarium zu Leibe zu rücken versuchen. Weniger gelungen empfand ich hierbei die Texte von Pelle Felsch, der in seinem Artikel im Grunde vorwiegend Sequenzen aus Fulci-Filmen, in denen Türen eine Rolle spielen, nacherzählt oder von Stefan Jung, dessen Artikel stilistisch und inhaltlich unausgereift wirkt, (wenn er beispielsweise mit einem völlig deplatzierten Lobgesang auf Raimund Harmstorf endet); mit Gewinn gelesen habe ich wiederum Jakob Larischs profunde, mit zahlreichen Gesetzesparagraphe untermauerten Anmerkungen zur Zensurgeschichte von Fulcis Filmen in der BRD oder – für mich der mit Abstand klügste Beitrag – Sabrina Mikolajewskis Ausführungen zu „freien Körpern und blutenden Leinwänden“, in dem die Autorin pointiert diverse Fäden spinnt zwischen Fulcis Body Horror und Positionen aus der abendländischen Philosophie- und Kulturgeschichte – allen voran zu Antonin Artaud, den sie über den Umweg von Deleuzes und Guatteris Konstrukt des „organlosen Körpers“ ins Boot holt, (und damit, neben Paul Drogla, selbst auf dem internationalen Akademieparkett eine der wenigen ist, die überhaupt jemals ernsthaft die übrigens von Fulci selbst in Interviews erwähnte Beziehung zwischen seinem Filmschaffen und den transgressiven Texten Artauds ins Blickfeld gerückt haben).
3. Apropos Avantgarde: Mit besonderem Luchsauge schaue ich mir im Kontext eines Projekts, das mich mutmaßlich noch jahrelang verfolgen wird, seit geraumer Zeit ja an, wann, wo und auf welche Weise italienisches Genrekino mit der Avantgardebewegung des (französischen) Surrealismus zusammengebracht wird. Auch in vorliegendem Sammelband wimmelt es von Zuschreibungen, Fulcis Filme seien „surreal“, „surrealistisch“, „am Surrealismus orientiert“, ohne dass diese Behauptungen jemals tiefschürfend erläutert werden würden, (höchstens von Mikolajewski, wenn man in Betracht zieht, dass Artaud zeitweise zum erlauchten Surrealistenclub um André Breton gehört hat; auf diese Verbindung geht die Autorin jedoch nicht explizit ein). Der Begriff „surreal“ wird vielmehr als bloße Worthülse im Sinne von „traumlogisch“, „befremdlich“, „phantastisch“ usw. verwendet; eine Rückbindung an die konkrete historische Kunstbewegung findet nur beiläufig statt, wenn zum Beispiel Leonhard Elias Lemke ein Gemälde Dalís erwähnt, das man kurz in UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA zu sehen bekommt). Vollkommen übers Ziel hinaus schießt dabei Jörg von Bricken, der gar nicht müde wird, davon zu schreiben, Fulcis Ästhetik sei „surreal anmutend“, seine Filme würden eine „surreale Pracht“ entfalten, seine Bilder sich „als eigenständige, surreale Bild-Sensationen“ aus dem „narrativen Raum“ befreien – und der, als er diese Zuschreibungen doch einmal näher beleuchten möchte, kolossalen Schiffbruch erleidet. Wenn er nämlich schreibt, dass die „Rede von ,Über-Realem‘“ darauf hinweise, „dass das reale Ekelhafte im filmischen Bild des Ekelhaften an Form und Wirkung noch überboten und überhöht wird“, also Surrealismus mit einem gesteigerten Realismus gleichsetzt, verkennt er doch ziemlich die Intention von Künstlern und Literaten wie Breton, Aragon oder Dalí, denen es ja eher darum ging, innerhalb der vorgefundenen Realität nach Momenten und Artefakten des Magischen, Wunderbaren zu suchen, sprich, diese sozusagen zu „verzaubern“, und die nicht unbedingt einem reinen Naturalismus huldigten.
4. Auch in anderen Texten lassen sich etliche schiefe Formulierungen, Zeichensetzungsfehler, Wortauslassungen etc. finden, lesbar sind sie jedoch, mal mehr, mal weniger, allesamt. Dem Fass den Boden schlägt allerdings der Beitrag von Patricia MacCormack aus, ihres Zeichens immerhin Philosophieprofessorin in Cambridge, der bereits aus dem Jahre 2004 stammt, und den Stiglegger/Felsch für ihren Band erstmals ins Deutsche übersetzt haben. Wie man es hat absegnen können, dass der Text in dieser Form zwischen zwei Buchdeckel gerät, ist mir, ehrlich gesagt, ein Rätsel: Schon im Original dürften MacCormacks Ausführungen eher zu jenem Sektor akademischen Schreibens zählen, der darauf bedacht ist, so unverständlich wie möglich zu sein, indem mit Fachbegriffen, Schachtelsätzen, hermetischen Referenzen regelrecht um sich geschmissen wird; was die deutsche Übersetzung indes mit der sicherlich bereits schwer goutierbaren Vorlage anstellt, tendiert teilweise schon in die Richtung dadaistischer Sprachspiele. Ein besonders himmelschreiendes Beispiel im Unterkapitel zu Fulcis Horrorfilmen: „Das Projekt, die besten von Fulcis Filmen, seine blutigen Horrorfilme, zu beschreiben, ist paradox: Wenn man diese Filme beschreiben müsste, könnte man sie als Werke der Armut sehen, die unter den Zwängen der Zeichenhaftigkeit der Bilder, der Narration und ihrer Eigenschaft, als leserlicher Text gesehen zu werden, zu leiden. Um die Macht von Fulcis besten Filmen zu erklären, muss ich zunächst die scheinbar selbstverständlichen Paradigmen des Kinos reflektieren. Hier bitte ich den Leser, diese Konzepte je nachdem nachzuvollziehen oder zu verwerfen, wie es eben für das filmische Vergnügen notwendig ist. Dies beinhaltet das Loslassen von dem linearen Narrativ als eine Verzeitlichung des Sehgenusses, die die Vergangenheit ansammelt, um die Gegenwart zu kontextualisieren und eine zu erwartete Zukunft auszulegen: Bilder als Aufzeichnung von Bedeutung, Zeichen zum Lesen oder Interpretieren; Zeichen als integraler Bestandteil der Handlung, sowohl im Film grundsätzlich als auch im Horror insbesondere als das, was konzeptuell charakterisiere werden muss, um bedeutungsvoll zerstört zu werden; Erzählung als verständlicher Kontext der Handlung; Exploitation, die um ihrer selbst willen existiert oder die traditionellen Achsen der Unterdrückung in der Gesellschaft bekräftigt und intensiviert; Splatterszenen als weniger fokussierte Vermittlung von visuellem Ausdruck; Vergnügen als angenehm, Abstoßung als unerträglich; Gewalt erscheint von Natur aus aggressiv; Horror, der sich ausschließlich mit den Begriffen zurückgekehrter Repression, Infantilismus oder Katharsis auseinandersetzt. Ich bitte den Leser, in der Tradition von Jean Francois Lyotards ,Ökonomie des libidinösen Vergnügens‘, die Aufmerksamkeit vom Warum oder dem, was die Bilder bedeuten, hin zu ihrer Wirkung zu verlagern.“ Im Ernst: Hätte man dieses Satzmonstrum bei Deepl eingespeist, wäre möglicherweise eine sinnstiftendere Übersetzung dabei herauskommen – wobei aber freilich die Autorin schon im Original ja offenbar einem einfachen Sachverhalt, nämlich das Style-over-Substance-Prinzip in Fulcis Horrorfilmen, so kompliziert wie möglich Ausdruck verleihen möchte. Auf diese Weise geben sich haarsträubende Übersetzung und konfuser Originalinhalt über 15 Seiten hinweg die Klinke in die Hand - und mir kribbelte irgendwann der Bauch vor Lachen, als habe sich in ihm eine der siebten Pforten der Hölle geöffnet!
Alles in allem halten sich für mich Hui! und Pfui! die Waage, und die Erkenntnis bleibt: Sowohl eine genaue Darstellung der Artaud-Rezeption bei Fulci, ein umfassender Überblick über sein Gesamtwerk, eine Untersuchung, die den Einflüssen des Surrealismus auf das italienische Genrekino jenseits plakativer Modebegriffe nachgeht sowie überhaupt ein Standardwerk zu Fulci in deutscher Sprache, all das steht weiterhin noch aus...