Poor Things - Yorgos Lanthimos (2023)
Verfasst: Do 25. Jan 2024, 10:26
Originaltitel: Poor Things
Produktionsland: Großbritannien 2023
Regie: Giorgos Lanthimos
Cast: Emma Stone, Willem Dafoe, Mark Ruffalo, Ramy Youssef, Christopher Abbott, Hanna Schygulla, Margaret Qualley, Kathryn Hunter
Dieses Jahr hat es in seinen ersten Wochen nicht gut mit mir gemeint, was gehypte aktuelle Filme betrifft.
Da wäre zum Beispiel Emerald Fennells SALTBURN, von dem man lesen kann, dass er schockierende Sexszenen aufbiete, wie man sie noch nie zuvor im Kino gesehen habe, dass es die klügste kinematographische Kapitalismuskritik mindestens seit PARASITE sei, dass er die Grenzen des Mainstream-Films in tausend Teile sprenge mit seiner avantgardistischen Bildsprache, seiner komplexen Handlung, seinen unvorhersehbaren Plot Twists – und der mich eigentlich weitgehend durch vereinzelte cringey Momentaufnahmen überzeugte, während ich ihn ansonsten laufzeittechnisch viel zu überladen fand, und mich bei den Skandalszenen das Gefühl beschlich, das seien recht selbstzweckhafte Provokationen, die der angestrebten, unterm Strich sowieso auch ziemlich zahmen, Gesellschaftskritik eher schaden als auf die Sprünge helfen.
Da wäre außerdem PRISCILLA, laut Kinoplakat angeblich Sofia Coppolas bis dato bester Film, dessen Anliegen es ist, die Lebens- und Leidensgeschichte von Elvis Presleys gleichnamiger Gatte zu schildern, und nach einem starken Auftakt, bei dem der Popstar seine spätere Ehefrau während des Militärdiensts in Westdeutschland kennenlernt, schließlich, sobald Priscilla im Goldenen Käfig von Graceland angelangt ist, im Grunde den immer gleichen Konflikt auf die immer gleiche Weise erzählt, ohne dass ich das Gefühl hätte, das klaustrophobische Potential, das zweifellos irgendwo in dem Biopic verborgen steckt, sei völlig ausgeschöpft worden – ein klaustrophobisches Potential, das zumal von der Bildgestaltung unterbunden wird, die ich zumeist ausgesprochen fad fand.
Da wäre zuletzt SILENT NIGHT, gelabelt als John Woos funkensprühendes Hollywood-Comeback, der sich als recht konventioneller Rachethriller mit haufenweise Toten und Schusswechseln und Carcrashs entpuppt, und als Alleinstellungsmerkmal einzig für sich beanspruchen kann, dass seine Hauptfigur – ein Vater, der sich mit der Mafia anlegt, nachdem sein kleiner Sohn bei einer Auseinandersetzung zwischen verfeindeten Clans von einem Querschläger getötet worden ist – zu Beginn des Films seine Stimme verliert, und sich SILENT NIGHT, dem Titel entsprechend, somit als veritabler Stummfilm, sprich, komplett ohne Dialoge entfaltet, was auf dem Papier allerdings reizvoller klingt als es dann tatsächlich umgesetzt wurde, und zuweilen fast schon den Eindruck eines wenig überzeugenden Gimmicks erweckt, angesichts dessen man sich Vibenius‘ THRILLER herbeisehnt.
Wenigstens auf Giorgos Lanthimos ist indes Verlass, wohl einem der wenigen, (wenn nicht der einzige?), mir bekannten Regisseure, die es auf wundersame Weise fertiggebracht haben, die in ihren sperrigen, verstörenden Frühwerken aufscheinenden Avantgarde-Sensibilitäten in den Mainstream hinüberzuretten, und zu zeigen, dass es doch irgendwie möglich ist, innerhalb des Hollywood-Systems Filme zu drehen, denen zumindest ich nicht viel vorwerfen kann. POOR THINGS, sein neuster Streich, bildet da keine Ausnahme, und schafft faszinierend den Spagat, einerseits ein Film zu sein, der ein Massenpublikum durch grandiose Schauspielleistungen (Emma Stone!), pfiffige Witze, eine atemlose Erzählweise, verblüffende Bilder, relevante Themen wie Geschlechterfragen, (weibliche) Selbstbestimmung, Klassendenken für sich gewinnen kann, und andererseits für die verschrobene Arthouse-Crowd ein Füllhorn an Dingen auszuschütten, unter denen Hühner mit Bulldoggen- und Schweineköpfen, zusammengenäht von Willem Dafoe als exzentrischem Mediziner, Hanna Schygulla als Goethe-Leserin und Kreuzfahrtreisende Martha von Kurzroc, Detailaufnahmen von seziert werdenden Leibern, ein Marathon an Fetisch-Sexszenen wie eine Hommage an Bunuels BELLE DE JOUR, sowie Gehirntransplantationen von Ziegen zu Menschen noch nicht alles sind, worauf man sich freuen kann.
Inhaltlich erzählt POOR THINGS, basierend übrigens auf einem mir unbekannten Roman des schottischen Schriftstellers Alasdair Gray, natürlich viel über die Stellung der Frau (nicht nur) im viktorianischen England, stellt Fragen nach der Natur des Menschen, fächert nahezu ein ganzes Panorama auf, wie Menschen seinerzeit (und heute noch) miteinander leben, miteinander schlafen, einander die Existenz schwermachen – und zieht das Ganze, weshalb ich die Bezeichnung „feministische Frankensteiniade“, die ich irgendwo gelesen habe, durchaus passend finde, an der Lebensgeschichte einer jungen Frau auf, die per moderner Wissenschaft von den Toten zurückgeholt wird, und sich von einem geistlosen Automat allmählich hin zu einer Sozialistin mausert, deren hehres Ziel es alsbild ist, die verrottete, verklemmte Gesellschaft zu einer gerechteren zu machen.
Ästhetisch liebt Lanthimos die scharfen Kontraste: Der Anfang, schwarzweiß, atmet den Geist des klassischen Universal-Horrors: Dafoe als Dr. Baxter auf der Suche nach frischen Leichen zum Experimentieren; ein unterirdisches Labor; eine Erweckungsszene als Reminiszenz an den FRANKENSTEIN von James Whale; im späteren Farbteil kommen Steampunk-Vibes auf, wenn Lissabon als futuristische Metropole gezeichnet wird; wird der Kontrast Arm/Reich im Kreuzfahrtschiff-Segment abgehandelt, als wolle uns Lanthimos Östlunds überlangen TRIANGLE OF SADNESS ersparen; zelebriert der Film förmlich seine theatralischen Dialoge, seine artifiziellen Studiokulissen, seine knallbunten CGI-Landschaften, dass man schon von einer (ironischen) Überdeterminiertheit sprechen kann. Ebenso schätzt Lanthimos aber auch die Unschärfen: Viele Halbtotalen oder Totalen sind mit einem befremdlichen Bullaugen-Effekt photographiert, bei dem die Ränder des Kaders verschwimmen, einzig der Mittelpunkt der Bildkomposition bleibt klar und deutlich zu erkennen, man das Gefühl, die Leinwand würde sich einem regelrecht entgegenwölben.
Verdauen muss ich das Ganze noch, vielleicht mal den zugehörigen Roman lesen, vielleicht nochmal schauen, und auch wenn KYNODONTAS und THE LOBSTER wohl meine liebsten Lanthimos-Filme bleiben werden, ist das doch ein Vergnügen gewesen, nach dem ich in zahlreiche begeisterte, strahlende Gesichter gucken durfte, unter anderem mein eigenes.