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Nacht fiel über Gotenhafen - Frank Wisbar (1960)

Verfasst: Do 15. Aug 2024, 06:43
von Maulwurf
 
Nacht fiel über Gotenhafen
Deutschland 1960
Regie: Frank Wisbar
Sonja Ziemann, Gunnar Möller, Erik Schumann, Brigitte Horney, Mady Rahl, Erich Dunskus, Willy Maertens, Edith Schultze-Westrum, Wolfgang Preiss, Tatjana Iwanow, Christine Mylius, Aranka Jaenke, Dietmar Schönherr, Georg Lehn, Hela Gruel, Carl Lange, Peter Voß, Günter Pfitzmann, Thomas Braut, Wolfgang Stumpf, Raymond Joob, Carla Hagen, Ursula Herwig, Marlene Riphahn, Martin Hirthe, Til Kiwe, Karl Heinz Kreienbaum, Melanie Aschenbrandt, Erwin Linder, Max Wittmann


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Einerseits läuft der Untergang der Wilhelm Gustloff im Januar 1945 als größte Schiffskatastrophe eines einzelnen Schiffes, mit geschätzt mehr als 9.000 Toten und 1.239 Überlebenden (1). Andererseits ist ein Film, der 15 Jahre nach dem Ereignis, in einer Zeit der Restauration und des öffentlichen Unwillens, sich mit dem erlittenen Terror auseinanderzusetzen, ist so ein Film auch immer mit einem gewissen Geschmäckle umgeben. Kann so ein Film funktionieren, sowohl auf cineastischer Ebene wie auch als zeithistorisches Dokument?

Um die Antwort bereits vorneweg zu nehmen, er kann. Es mag hier vielleicht nicht alles Gold sein, aber sowohl als Kriegsdrama wie auch als Dokumentation der tatsächlichen Ereignisse arbeitet Frank Wisbar hier auf einem sehr hohen Niveau. Einzig die Liebesgeschichte mag vielleicht nicht so ganz passen, dürfte aber aus cineastischen Gründen als unverzichtbar laufen.

NACHT FIEL ÜBER GOTENHAFEN beginnt im Jahr 1939 bei einer KDF-Vergnügungsreise auf der Wilhelm Gustloff. Maria (Sonja Ziemann), Radiosprecherin in Berlin, vergnügt sich beim Tanz mit zwei ihrer Kollegen, Kurt Reiser (Gunnar Möller) und Dr. Beck (Wolfgang Preiss), und auch der junge und forsche Offizier Schott (Erik Schumann) hat mehr als nur ein Auge auf sie geworfen. Aber ihr Herz sagt ja zu Kurt, dessen Frau sie dann auch wird, während Schott, der einen Kuss von Maria erzwungen hat, von ihr ob dieses Affronts brüsk abgewiesen wird. Auf der Brücke trifft derweil die Nachricht zu einer sofortigen Kursänderung ein: Der Krieg hat begonnen.

Wir begegnen Maria wieder zu Silvester 1943 in Berlin. Sie lebt unter der Knute ihrer hypochondrischen und garstigen Schwiegermutter, während Kurt als Soldat irgendwo da draußen ist. Ihre einzige Freundin ist die Nachbarin Edith (Mady Rahl), eine Modezeichnerin, die aber alsbald Munition in Geschosshülsen packen soll, und vor dieser Aufgabe nach Ostpreußen flüchtet, wo ihr Vater einen kleinen Hof hat. Auf der Party dieser Silvesternacht trifft Maria wieder auf Schott, und nach der Verabschiedung Ediths finden sich die beiden durch ein paar unglückliche Umstände in Ediths Wohnung wieder. Ein gemeinsames Glas Cognac, Schotts Wunsch nach mehr, Marias Abwehr, doch plötzlich ist Fliegeralarm, der Dachstuhl brennt, Schott ist der Retter in der Not, und nach dieser gemeinsam durchstandenen Schreckensnacht ist Maria schwanger. Die Schwiegermutter wirft sie natürlich hochkant raus, und Maria geht zu Edith nach Ostpreußen, wo sie freudestrahlend aufgenommen wird. Sie lebt auf dem Gut der Frau Baronin (Brigitte Horney), genannt die Generalin, spielt Bridge, hilft wo sie kann, und sieht der Geburt ihres Kindes mit einem lachenden und einem weinenden Auge entgegen, derweil Kurt auf Heimatbesuch in Berlin die Wahrheit erfährt und umgehend die Scheidung will.

Die Geburt des Kindes ist dann im Herbst 1944, und im Januar soll Taufe sein. Doch die Rote Armee beginnt mit ihrer Winteroffensive, und eine Welt rast dem Abgrund entgegen. Alle Bewohner des Dorfes müssen flüchten, und Kurt, der mit seinen Kameraden auf dem Rückzug gerade vorbeikommt, kümmert sich um Maria und ihre Freunde. Doch nach einem Artilleriebeschuss ist Kurt schwer verletzt und landet delirierend mitsamt dem Treck in Gotenhafen. Dank Schott, der als Oberleutnant auf der Wilhelm Gustloff Dienst tut, kommen alle Menschen aus dem Dorf auf dem Schiff unter, und sogar Kurt bekommt einen Platz. Am 30. Januar 1945 legt das Schiff mit über 10.000 Menschen an Bord (gebaut war es für 2.000 Passagiere) ab in Richtung Swinemünde.

Man merkt schon, die Exposition ist lang, sehr lang, und Wisbar hat im Drehbuch viele lange und umständliche Wege eingebaut, um dem Zuschauer die Personen nahezubringen, um Identifikationsfiguren aufzubauen, und um die Zeit zwischen Kriegsausbruch und Ende Januar 1945 aus menschlicher und cineastischer Sicht überzeugend darstellen zu können. Entsprechend sind es die vielen kleinen Details, die ein Zeitbild ergeben, welches, je nachdem wie sich der Zuschauer darauf einlassen mag, uninteressant bebildert ist oder sogar hochgradig beeindrucken kann. Da ist der Gutsverwalter Marquardt (Erich Dunskus), Ediths Vater, der anno 14/18 das Schießen gelernt hat, und jetzt im Volkssturm noch mal ran muss. Herr Volkssturm nennt ihn sarkastisch die Generalin, aber ihren Respekt verwehrt sie ihm nicht. Der Stationsvorsteher Pinkoweit (Georg Lehn), der seinen Dienst auch dann noch ernst nimmt, wenn die Russen schon vor der Tür stehen. Der Oberleutnant Dankel (Günter Pfitzmann), der im Etablissement Lustige Witwe tatenlos mitansieht wie die Wirtin von der SS abgeführt wird, und hinterher(!) eine bittere und selbstanklagende Rede über die Feigheit spricht, auch und gerade über die eigene Feigheit. Der Zwangsarbeiter Gaston (Dietmar Schönherr), die Bürohilfen Monika und Inge, die auf der Gustloff Dienst tun - So viele kleine Schicksale, die im Zusammenhang dann so ein großes und übermächtiges Bild ergeben. Frau Kahle, die ebenfalls ein Kind bekommt ohne dass ihr Mann in der Nähe ist, und die immer für Maria da ist, und sei es beim Säugen des kleinen Jungen. Die Frau, die am Ende im Schiff ertrinkt, und der Funker, dessen letzte Worte an die Außenwelt sind, dass er sich jetzt in den Tod verabschiedet …

Trotz, oder vielleicht gerade auch wegen, der scheinbar umständlich erzählten Geschichte, erschafft Wisbar tatsächlich einen Bilderbogen über mehrere Jahre Kriegsgeschehen, und rührt damit oft genug die Herzen der Zuschauer an. Wisbar beging nicht den Fehler, sich auf den Untergang des Schiffes zu konzentrieren, dies wäre mit schlecht gemachten Tricks, jeder Menge Geschrei und dramatischer Musik auch sicher nicht überzeugend geworden. Da müssen wir erst auf James Camerons TITANIC warten, um dem Bilderrausch eines untergehenden Schiffes restlos verfallen zu können. Stattdessen wird in GOTENHAFEN eine Liebes- und Kriegsgeschichte erzählt, in der eben als dramatischer Höhepunkt ein Schiff untergeht. Ein Vorgehen, welches in manchen Momenten etwas kolportagehaft wirkt (wie etwa die Konstellation der Figuren, sowie deren immer wiederkehrendes Aufeinandertreffen, auch aus einem Roman von Hedwig Courths-Mahler stammen könnte), in anderen Momenten hochdramatisch und ergreifend ist. Die Musik passt vielleicht nicht immer, und untermalt sogar den Untergang mit etwas arg pathetischem Heldengetöse wo Stille vielleicht eher angebracht gewesen wäre. Aber das ist dann schon Jammern auf hohem Niveau …

Und überhaupt dieses Heldengetöse: Im Booklet der Filmjuwelen-Veröffentlichung kann man lesen, dass der Autor Reiner Boller die Vergangenheitsbewältigung der 50er-Jahre, Filme wie CANARIS oder DES TEUFELS GENERAL, eher kritisch sieht: „Viel zu sehr wird dort das Heldenepos beschworen und das Kriegsgeschehen meistens als Erlebniswelt für Männer geschildert.“ (2) Wenn man darüber nachdenkt ist das richtig: DER STERN VON AFRIKA ist, genauso wie etwa ROMMEL RUFT KAIRO, Hurra-Kino der kriegerischen Sorte, abenteuerlich und aufregend, ganz auf die mittlerweile nachgewachsene Generation zugeschnitten, die das Grauen des Krieges selber nicht miterlebt hat. Aber selbst Filme wie CANARIS und DES TEUFELS GENERAL, die sich in Bezug auf die Vergangenheitsbewältigung einen durchaus kritischen Anstrich geben, schreien das Hohelied des aufrechten deutschen Offiziers heraus, der seine Pflicht gegenüber dem Vaterland mit Freude und Todesmut erfüllt. Sind die Filme von Frank Wisbar, die Trilogie HAIE UND KLEINE FISCHE, HUNDE WOLLT IHR EWIG LEBEN? und eben NACHT FIEL ÜBER GOTENHAFEN denn anders?

Ich behaupte nein, denn bei allem Realismus, trotz der dargestellten Grausamkeiten und den zum Teil entsetzlichen Schicksalen geht auch hier der deutsche Soldat immer noch tapfer und mutig seinem Schicksal entgegen. Der Sinn des Kampfs um Stalingrad wird in HUNDE nicht wirklich in Frage gestellt, und das Beispiel des sterbenden Funkers, genauso wie das der Offiziere der Wilhelm Gustloff, die sich heldenhaft für Frauen und Kinder opfern, ist bei allem Anspruch an die Realität immer noch eine Idealisierung deutscher Soldatentugenden. Erst Wolfgang Staudte wird im gleichen Jahr wie GOTENHAFEN den Soldaten (vor allem der Jahre 1944/45) als das zeigen was er meistens wirklich war – Als ein schmutziges kleines Bündel, bestehend aus Hunger, Dreck, Verzweiflung und Angst. Und dieser Film, KIRMES, fiel bekanntlich bei Kritik und Publikum restlos durch. Am Image der deutschen Wehrmacht darf eben nicht gekratzt werden, das mussten die Veranstalter der Wehrmachtsausstellung in den 90er-Jahren genauso erleben wie eben Wolfgang Staudte.

Frank Wisbar setzt sich also mit seiner Trilogie gekonnt zwischen die Stühle: Auf der einen Seite ist es großartig mitanzusehen, wie der Kamerad von Kurt Reiser sich um seine Männer kümmert und gleichzeitig noch Kurt darin unterstützt, seine Frau zu retten, genauso wie Oberleutnant Dankel zwar immer wieder ironische Kommentare über sein verlorenes Auge raushaut, aber darüber nicht ein einziges Mal verzweifelt. Schnaps und gute Laune, das sind Dankels Maximen, und so scheinen es alle Männer in seinem Umfeld zu sehen.
Auf der anderen Seite dann aber auch wieder das Leiden der Zivilbevölkerung, die originalen Wochenschaubilder der Flüchtlingstrecks, des brennenden Berlin oder der russischen Soldaten, die sich wie die Wilden über Edith hermachen wollen (und das ist jetzt nicht ironisch gemeint: Diese Bilder erzeugen auch heute noch ein unschönes Gefühl im Magen, und wie das den Menschen im Kino 1960 ergangen sein mag möchte ich erst gar nicht wissen). Harte und realistische Bilder, die Schmerz erzeugen und Unbehagen auslösen.

An NACHT FIEL ÜBER GOTENHAFEN kann man einiges bekritteln: Die stellenweise recht maue Dramaturgie, die manchmal etwas dürftigen Dialoge (Wolfgang Preiss dürfte mit seiner Rolle nicht wirklich zufrieden gewesen sein), die schlecht bemäntelte Heroisierung germanischer Tugenden und die nicht immer passende Musik stehen beeindruckenden und eindringlichen Szenen gegenüber, die auch heute noch zu Tränen rühren können, und die das gerade in unserer Zeit so oft gebrauchte Wort Flüchtling in einen Kontext setzen, über den sich das Nachdenken lohnt. Der Film packt das Publikum beim Schlafittchen, und er zieht vor allem den heutigen Zuschauer tief in eine schreckliche und bei aller Heroisierung erdrückende Welt und haut ihm entsetzliche Einzelschicksale um die Ohren dass ihm Hören und Sehen vergehen. Der militärische Teil betont das zivile Drama und erzeugt damit eine bittere und grausame Stimmung. NACHT FIEL ÜBER GOTENHAFEN ist sicher kein Anti-Kriegsfilm, aber er ist ein großartiges Drama mit großartigen Darstellern vor dem Hintergrund einer schlimmen Zeit, und als solches ein absolut sehenswerter Film.

(1) (1) https://de.wikipedia.org/wiki/Wilhe ... f_(Schiff)
(2) Reiner Boller: Entstehung und Dreharbeiten, im Booklet der DVD-Veröffentlichung NACHT FIEL ÜBER GOTENHAFEN von Filmjuwelen

8/10