Es gibt Filme, bei denen mag man seinen Augen kaum glauben, weil sie die Grundstatuten eines gesamten Genres - oder gleich mehrerer - lange bevor dieses Genre sich überhaupt selbst ausformuliert hat, vorwegnehmen, und dabei aus einer Epoche und einer globalen Ecke kommen, in der man nicht unbedingt damit gerechnet hätte – und dass der kürzlich von mir gesichtete MATKA JOANNA OD ANIOLÓW von Jerzy Kawalerowicz aus dem Jahre 1961 für mich zu dieser Handvoll von verwundernden Werken gezählt werden muss, beweist allein schon, dass ich ihn in diesem Einleitungssatz in einem Atemzug mit obiger These nenne.
Das, was MATKA JOANNA OD ANIOLÓW antizipiert, lässt sich, meine ich, in drei große Kategorien fassen. An erster Stelle steht für mich, dass Kawalerowiczs Film so etwas liefert wie die Blaupause des eigentlich erst in den frühen 70ern sein Goldenes Zeitalter erlebenden Nunsploitation-Genre, sprich: einer Reihe von vor allem in Italien produzierten Filme, die zumeist im Gewand historischer Kostüme und Kulissen meist ähnlich gelagerte, weil allesamt, ob nun bewusst oder unbewusst, von Denis Diderots im Jahre 1792 bzw. 1796 posthum erschienen Skandalroman LA RELIGIEUSE inspirierte Geschichten über gegen ihren Willen in Klöster verfrachtete junge Mädchen erzählen, die es dort entweder mit lesbisch-wollüstigen Äbtissinnen und Betschwestern, mit ihren eigenen aufwallenden Gelüsten, mit dem Leibhaftigen höchstpersönlich oder aber mit Jünglingen zu tun bekommen, die sie von außerhalb der Klostermauern becircen und ihnen zur abenteuerlichen Flucht verhelfen wollen – im besten Fall alles zugleich. Symptomatisch für das Genre ist, neben den bereits erwähnten Ausflügen in die europäische Vergangenheit, am häufigsten ins sechzehnte oder siebzehnte Jahrhundert, die große Bereitwilligkeit, weibliche Schamlandschaften in den Kamerafokus zu rücken, oftmals melodramatische Liebeseinsprengsel, die eine oder andere sadomasochistische Foltereinlage, und eine wenig unverblümte Kritik an der institutionalisierten Amtskirche, wenn nicht sogar am christlich-jüdischen Gottesbild selbst. Betrachtet man MATKA JOANNA OD ANIOLÓW rein auf seiner Handlungsebene, könnte man leicht auf die Idee kommen, der Film sei in der Hochphase der sündigen Nonnen knapp eine Dekade später entstanden:
In einem entlegenen Kloster irgendwo im polnischen Hinterland des siebzehnten Jahrhunderts sind sämtliche frommen Frauen, heißt es, von Teufeln besessen, die Mutter Oberin gar von zehn gleichzeitig, weswegen man den Priester Jozef Suryn mit dem Auftrag in die Gegend schickt, einer Gruppe ebenfalls herbeizitierter Bischöfe bei deren exorzistischen Praktiken zur Seite zu stehen, sowie seinen Vorgänger zu ersetzen, der, nachdem er den sexuellen Anfeindungen der teuflischen Äbtissin erlegen ist, seinen Reinigungstod auf dem Scheiterhaufen gefunden hat. Noch kann man den verkohlten Pfahl, an dem er gestorben ist, wie ein Mahnmal vor dem Kloster aufragen sehen, hinter dessen Mauern sich Suryn schon gleich nach seiner Ankunft von dem wahnsinnigen Gebaren der Nonnen überzeugen kann, die sich wie Kreisel in den Gängen drehen, seltsame Tierlaute ausstoßen, vor dem Weihwasser fliehen, als könne es sie verbrennen, und sich in Sprachen artikulieren, die sie gar nicht beherrschen dürften. Vor allem für die Mutter Oberin mit dem schönen Namen Joanna od Aniolów entbrennt er von Anfang an in einer Mischung aus Faszination, Abscheu und innigstem Mitleid: mal gleicht ihr Gesicht dem eines Engels, das ihn in salbungsvollen Worten um den Beistand Gottes anfleht, nur um sich im nächsten Monat in eine Höllenfratze zu verwandeln, die behauptet, sie spräche im Namen eines Dämons, der sich Hundeschwanz nenne. Nur eine Nonne, Malgorzata, scheint immun gegen die Attacken des Erzfeindes, dafür gleicht sie die fehlende Besessenheit aber dadurch aus, dass sie sich zu jeder sich bietenden Gelegenheit in das unweit des Klosters gelegene Gasthaus stiehlt, wo ein polnischer Edelmann, seit er das erste Mal Bekanntschaft mit ihr geschlossen hat, immer öfter absteigt, um sie sich in feucht-fröhlicher Runde auf den Schoß zu setzen und dort anrüchige Lieder singen zu lassen. Alsbald eröffnet er ihr, er wolle sie aus dem Kloster befreien, er würde mit einem Gehilfen und drei Pferden kommen, und das dritte sei für sie, um sie in die Freiheit als seine Ehegattin zu führen. All diesen unchristlichen Entwicklungen steht Suryn relativ hilflos gegenüber. Als seine inständige Gebete nichts helfen und der Besuch eines ortsansässigen Rabbis ebenso enttäuschend ausfällt, fasst der von Selbstzweifeln und seelischen Erschütterungen geplagte Geistliche einen folgen-schweren Plan, um Joannas Körper als Heimstatt für ihre Teufel unbewohnbar zu machen…
Schon an dieser knappen Inhaltsangaben dieses freilich wesentlich komplexeren, vielschichtigeren Filmes lassen sich all die Überschneidungen erkennen, die zu späteren Nonnen-Exploitern wie zum Beispiel Domenico Paolellas LE MONACHE DI SANT’ARCANGELO (1973) oder Sergio Griecos LE SCOMUNICATE DI SAN VALENTINO (1974) bestehen - man könnte die einzelnen Motive wie eine Entführung aus dem Kloster, besessenen Nonnen, eine verführerische Äbtissin abarbeiten, als seien es Zutaten auf einer Rezepturliste. Was MATKA JOANNA OD ANIOLÓW von späteren, inhaltlich ähnlich ausgerichteten Produktionen unterscheidet, das ist zunächst seine Ästhetik und dann die spezifische Art und Weise wie Kawalerowicz mit seinem sensationsträchtigen Stoff umgeht. MATKA JOANNA OD ANIOLÓW ist gefilmt in kontrastreichem Schwarzweiß, seine Tonspur bleibt bis auf eine Ausnahme von jeglicher Musik verschont, der generelle Stil ist ein naturalistischer, fast schon objektiver, der die Suryn begegnenden Ereignisse schildert, ohne sie wirklich zu bewerten oder zu kommentieren. Hierzu im Kontrast steht indes, dass Kawalerowicz es liebt, vor allem die Sicht des Priesters andauernd mittels subjektiver Kamera einzunehmen. Wenn Suryn beispielweise zu Beginn den Gasthof betritt, tun wir das mit ihm, aus der Perspektive seiner eigenen Augen, zu der die Kamera wird, in die die anderen Schauspieler direkt hineinsprechen und hineinblicken. In vielen Szenen entsteht somit eine Wirkung, als sei man mitten hineingeworfen in die graue, nackte, bedrohliche, jedoch irritierenderweise außerordentlich lichtdurchflutete Welt, die der Film zeichnet, und erlebe zeitgleich mit dem Priester den allmählichen Zusammenbruch des Klosterlebens, das er eigentlich hatte retten sollen. Dadurch aber, dass Suryn nun wirklich keine Figur ist, der man vorwerfen könnte, sie zeichne sich durch besondere Aktivität und Tätigkeit aus, bleibt man trotzdem zumeist in der Position eines reinen Beobachters, der wehrlos und fassungslos mit ansehen muss wie um ihn herum die vermeintlich sichere Ordnung des Weltgefüges auseinanderbirst. (Für einen ästhetischen Vergleich bietet es sich übrigens an, Kawalerowiczs Film mit Ken Russells Skandalepos THE DEVILS von 1971 gegenzuschauen, da beide auf dem gleichen historisch verbürgten Stoff basieren, nämlich eine Hexenverfolgungswelle zwischen 1630 und 1632 im französischen Poitiers. Russells bis zur Genialität überinszeniertes Meisterwerk greift als Vorlage auf ein Theaterstück des britischen Dramatikers John Whiting zurück, der darin wiederum den Historienroman THE DEVILS OF LOUDON, einem der unbekannteren, aber besten Texte von Aldous Huxley, für die Bühne adaptierte. Erzählt wird die Geschichte über ein von Teufeln heimgesuchtes Nonnenkloster und vor allem den armen, von Oliver Reed kongenial interpretierten Pater Grandier, den Russell zur halben Christusfigur macht, von Anfang bis Ende, sprich: von den ersten Besessenheitserscheinungen innerhalb der Klostermauern bis zu Grandiers Flammentod. Daran knüpft MATKA JOANA, obwohl früher entstanden, wie ein Sequel an: Grandier, das ist eben jenes Häuflein Asche, das Suzyn noch unter dem hölzernen Pfahl in Sichtweite des Klosters bemerkt. Somit erhält Kawalerowiczs Film schon von Anfang an den Stempel einer Geschichte, die weitererzählt, obwohl die eigentlichen Haupterzählstrange sich bereits in Flammen und Prozessen aufgelöst haben. Stilistisch liegen zwischen MATKA JOANA und THE DEVILS aber noch mehr Welten. Russells grellem hyperästhetischem Pop-Art-Zauber könnte kein formvollendeterer Gegensatz entgegengestellt werden als die sonnenhellen, kummervollen (Seelen-)Bilder Kawalerowiczs.) Dass Kawalerowicz mit der Illustration von Sex und Gewalt geizt, und dass sein Film niemals auch nur unfreiwillig den Anschein erweckt, es ginge ihm darum, die geschilderten klösterlichen Ausschweifungen zu Schauzwecken für ein Publikum zu instrumentalisieren, das schon zufrieden ist, wenn es einen blanken Nonnenbusen erblickt oder einen von Inquisitionspeitschen zerfetzten blanken Nonnenrücken, dürfte sich, gerade in Anbetracht des historischen Kontexts, in dem der Film entstanden ist, von selbst verstehen.
Überhaupt nicht verstehe ich aber, weshalb – und das wäre die zweite antizipatorische Leistung des Films – es scheinbar innerhalb der Filmgeschichte bislang nicht als offenes Geheimnis gilt, dass MATKA JOANNA OD ANIOLÓW nicht nur die künstlerisch vollendete, seriösere Frühform der Nonnen-Exploitation darstellt (ähnlich wie es Ingmar Bergmans JUNGFRUKÄLLAN (1960) für das sogenannte Rape-n-Revenge-Genre beanspruchen kann, und Carl Theodor Dreyers VREDENS DAG (1943) für den sogenannten Hexenjägerfilm), sondern dass auch einer der erfolgreichsten und berühmtesten Horrorfilme überhaupt, William Friedekins THE EXORCIST (1973), seine wirkungsvollsten Szenen offenbar direkt aus Kawalerowiczs Meisterwerk entlehnt hat. Nicht nur, dass es hier wie dort ein von Glaubenszweifeln, d.h. mit eigenen inneren Dämonen beladener Priester ist, der einem besessenen, auf seine Hilfe angewiesenes Geschöpf – hier eine Nonne, dort ein kleines Mädchen – erlösen soll, sogar die ikonisch gewordenen Körperverrenkungen, mit denen Linda Blairs Charakter ihre arme Mutter erschreckt, werden in MATKA JOANNA OD ANIOLÓW nicht nur vorweggenommen, sondern schon in ihrer höchsten Vollendung zelebriert. Schon in der ersten Filmhälfte hat man sämtliche Nonnen in der Klosterkirche versammelt. Anwesend sind Leute aus dem nahen Dorf, Schaulustige auf der Empore, zwischen den Säulen oder im Chorgestühl. Außerdem vor Ort stehen natürlich die päpstlichen Bischöfe bereit, bewehrt mit Bibeln und Weihwasserkelchen, die die Infizierten mit frommen Litaneien zum Gesunden bringen wollen. Wie ein unbeteiligter Betrachter wohnt Suryn, und wir mit ihm, den folgenden knapp zehn Minuten bei, in denen Kawalerowicz so ziemlich alles auffährt, was man an Besessenheitstänzen aus späteren kinematographischen Teufelsaustreibungsspektakeln kennt. Vor allem Lucyna Winnicka als Joanna tut sich darin davor, wilde Blicke in die Kamera zu werfen, die einem durch Mark und Bein fahren, eine irre Choreographie aufzuführen, bei der sie ihren Körper wie eine Waffe gegen sich selbst richtet, und mit kleinen Gesten oder Lautäußerungen ein Maß an Verstörtheit heraufbeschwört, das, meine ich, die vergleichsweise plakativeren, gröberen Effekte in THE EXORCIST spielerisch in die Schatten verweist.
Genau diese Szene war es, die mich auf die Spur der dritten antizipatorischen Leistung des Mütterchen Johannas brachte. Obwohl der Film mich, hätte ich in der Geschichte des Kinos nach einem Vorbild für ihn suchen muss, wohl vor allem an das Werk Carl Theodor Dreyers erinnert – besonders ORDET (1955) und VREDENS DAG (1943) fallen mir, aus inhaltlichen wie ästhetischen Gründen, ein -, und Dreyer, wie man weiß, einem Stil verpflichtet ist, den man als ruhig-besonnenen, elegisch, reduziert bezeichnen könnte, besteht im Herzen von MATKA JOANA OD ANIOLÓW für mich doch ein Spannungsverhältnis darin, dass die unaufgeregte, stille, zurückgenommene Inszenierung mit gelegentlichen Ausbrüchen von Hysterie, Wahnsinn und Chaos korrelieren – und letztere sind für mich, zumindest in dem Ausmaß wie sie mir Kawalerowicz hier teilweise vorführt, untrennbar mit dem Werk Andrzej Zulawskis verbunden. Dessen Oeuvre ist voll von Frauenfiguren wie Matka Joana, Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs, Frauen wie Isabella Adjani in POSSESSION oder Valerie Kaprisky in LA FEMME PUBLIQUE, besessen von sich selbst, von der Welt, von Zulawkis eigener Besessenheit, mit der er seine im wahrsten Sinne des Wortes entfesselte Kamera eine Apokalypse nach der andern bebildern lässt. Gerade seinen zweiter Spielfilm DIABEL (1972) rief mir MATKA JOANA OD ANIOLÓW immer wieder vor Augen, vielleicht vor allem deshalb, weil beide in früheren Jahrhundert spielen, beide ein Nonnenkloster zum Schauplatz wählen, und ansonsten karge Landstriche, in der Melancholie und Schwermut ihr Zelt aufgeschlagen haben. Natürlich muss man Zulawski lassen, dass seine filmischen Exzesse vor und nach ihm nie erreicht worden sind. Er steht singulär in der Geschichte des Kinos, und scheut den direkten Vergleich mit Vorherigem und Nachkommendem. Dennoch lässt sich der Eindruck nicht abschütteln: hätte Dreyer in den frühen 60ern ein Drehbuch von Zulawski verfilmt, wäre möglicherweise ein ähnlicher Film wie vorliegender dabei herausgekommen. Gerade die Exorzismusszene wirkt tatsächlich wie eine homogene Mischung der Regiestile beider Künstler. Wir haben die Großaufnahmen, die assoziativen Montage, die Schicksalsschwere von Dreyers LA PASSION DE JEANNE D’ARC (1928), und die bewegliche Kamera, die schauspielerischen Epilepsieanfälle, die physischen und psychischen Extremzustände, mit denen Zulawski sich von seinem ersten bis zu seinem letzten Film beschäftigt hat. (Von dem Doppelgängermotiv, das Zulawskis Oeuvre wie ein roter Faden durchzieht, und das in einer der besten Szenen von MATKA JOANA OD ANIOLÓW zum Tragen kommt, ganz zu schweigen.)
Gleich dreimal hat mich MATKA JOANA OD ANIOLÓW somit überrascht. Zum einen dadurch, dass in ihm all das steckt, was der Nonnensexfilm wenige Jahre später zu eigenen exploitativen Kunstform erheben sollte. Dann noch deshalb, weil er mir vollends bewiesen hat, was für ein im Grunde unorigineller Film THE EXORCIST eigentlich ist. Und schließlich, weil er mir eine bislang undenkbare Symbiose der Eigenheiten zweier von mir sehr geschätzter, wenn nicht sogar geliebter Filmemacher, nämlich Carl Theodor Dreyer und Andrzej Zulawski, vorgeführt hat. Daneben ist Jerzy Kawalerowiczs Werk aber einfach auch ein seltengroßartiger Film, der ganz unabhängig von all dem funktioniert, was früher war und später kommen sollte: keine leichte Kost, das bestimmt nicht, für den einen vielleicht aufgrund seiner langsam Erzählweise anstrengend, für den andern aufgrund seiner trostlosen Atmosphäre, vor allem aber eine zutiefst intelligente, künstlerisch vollendete Auseinandersetzung mit Fragen der Humanität, der Religion und der Philosophie. Seine letzte Szene jedenfalls hat mich so sehr berührt wie schon lange keine letzte Szene mehr…