● Folge 1: WALDWEG (1974)
mit Horst Tappert und Fritz Wepper
Gäste: Hilde Weissner, Wolfgang Kieling, Lina Carstens, Herbert Bötticher, Karl Lieffen, Walter Sedlmayr, u.a.
hergestellt durch die Telenova Film- und Fernsehproduktion | im Auftrag des ZDF | ORF | SRG
Regie: Dietrich Haugk
Ellen Theiss besucht eine Wirtschaftsschule außerhalb Münchens. Als sie eines Abends von einem Kinobesuch mit der S-Bahn zurückkommt, hat ihr Fahrrad einen Platten. Um keine weitere Zeit zu verlieren, nimmt sie die Abkürzung durch den Wald. Plötzlich sieht sie eine Person, die sie zu verfolgen scheint und rennt davon. Erleichtert bemerkt sie, dass es sich um Herrn Manger, einen ihrer Lehrer von der Schule handelt und sie gehen den Waldweg gemeinsam. An seinem Haus angekommen lockt er die ahnungslose Schülerin hinein und die Polizei findet sie am folgenden Tag ermordet auf. Oberinspektor Derrick und sein Assistent Inspektor Klein nehmen die Schule und die Personen aus dem Umfeld der Toten unter die Lupe, bis sich schließlich Zusammenhänge ergeben und sich ein Verdacht bestätigt...
Die Geburtsstunde der erfolgreichen Reihe "Derrick" bringt mit Folge 1 direkt und kompromisslos höchstes Niveau an fesselnder Krimi-Unterhaltung zu Tage, es wird schnell unmissverständlich klar, dass sich die Serie nicht als irgendein Plagiat zufrieden geben wird, sondern mit einem durchdachten Konzept für Aufsehen und seriöse Unterhaltung sorgen möchte. Ungewöhnlich für den Zuschauer ist hier die Tatsache, dass es nicht um obligatorisches Mörderraten gehen wird, denn das Verbrechen und dessen Urheber bekommt eine beängstigende und nicht minder erschreckende Silhouette und zerrt hier in Form von Wolfgang Kieling unheimlich an den Nerven. Man bekommt als Zuschauer Inhalte wie Verfolgung, Mord und Verbergen der Tat unmittelbar zu Gesicht und wird zum Mitwisser, dabei handelt es sich aber nicht um ein Servieren auf dem Silbertablett. Das mag vielleicht im ersten Moment nach mäßiger Spannung klingen, doch das ist hier keineswegs der Fall. Ganz im Gegenteil, der Verlauf der Geschichte forciert ein Gefühl von Unbehagen und lässt durchgehend mitfiebern, wie das neue, hochmotivierte und erfrischend wirkende Ermittlerduo den Fall aufrollen und den Verbrecher dingfest machen wird. Dieses Konzept der lückenlosen, ja exemplarischen Veranschaulichung mit Hilfe von denkwürdigen Bildern und packenden Szenen ist nicht nur ungewöhnlich, sondern bietet einen neuen Aspekt bezüglich der Durchleuchtung von Psyche und Agieren des Täters, ohne dabei großartig Position zu beziehen und zu ermahnen. Gut, das Thema rund um die Morde in einer Mädchenschule, in deren Umkreis ein Triebmörder sein Unwesen treibt, scheint wirklich zu genüge ausgeschlachtet worden zu sein, wirkt aber in dieser Folge Aufsehen erregend neu, beziehungsweise fast schon gefühlt innovativ, was natürlich der Umsetzung zu verdanken ist, außerdem in höchstem Maße den schauspielerischen Präzisionsleistungen. Hinzu kommt, dass gerade dieses Thema wohl immer irgendwie aktuell bleiben wird.
Obwohl bereits ein Mord geschehen ist, zieht es die lebenslustigen, jungen Mädchen trotz strikten Verbotes die Schule ohne Erlaubnis und bei Nacht zu verlassen, immer wieder in die Stadt, da es gewisse Schlupflöcher im System gibt. Sie lassen sich von einer Freundin als anwesend eintragen und zur unbehelligten Rückkehr ins Haus steht ein Fenster offen. Genau so war es auch in der Nacht geplant, als der nächste Mord geschehen sollte. Das Mädchen, dessen Fahrrad einen Platten hat, muss den Weg zu Fuß zurücklegen und den Waldweg benutzen. Wer diese Folge gesehen hat, weiß dass aus dem harmlos und fast idyllisch klingenden Wort "Waldweg" schnell ein Alptraum werden wird. Dunkelheit, schwere neblige Luft die man schneiden könnte und die Ahnung, dass ein Phantom plötzlich seine Hand nach einem ausstrecken könnte, genau so sieht die Angstvorstellung vieler Menschen aus, die hier in beklemmenden Bildern Wirklichkeit gewinnt. Dann taucht auf einmal der Mörder auf und verfolgt das Mädchen, sie rennt in Todesangst davon, doch bleibt plötzlich stehen und wirkt geradezu erleichtert. Sie kennt die Person, die sie nun begleiten wird, bis schauerliche Gewissheiten aufeinanderprallen werden und es zur Katastrophe kommt. Gerade diese Finesse der Inszenierung (oft angedeutet doch weniger häufig gezeigt): Vertrauen gegenüber dem Mörder erscheint derartig perfide, dass es trotz Veranschaulichung hochgradig spannend bleibt. Die sich anschließende Ermordungsszene in Zeitlupe kann man beinahe schon beispiellos nennen, Wolfgang Kieling darf alle verfügbaren Register ziehen und lehrt den Zuschauer das Fürchten, sein in Großaufnahme gezeigtes Gesicht wird zur entsetzlichen Fratze, die Mordlust und krankhaften Wahn offenbart.
Horst Tappert als Derrick und Fritz Wepper als Klein zeigen gleich zu Beginn, dass es sich um ein Erfolgsduo handelt, eine abgestimmte Mischung aus Kombinationsgabe, Routine und Vertrauen, die es jedem Verbrecher schwer machen wird. Neben resoluter Sachlichkeit bleibt ebenfalls Spielraum für (selbst)ironische Anmerkungen, die beiden wirken (logischerweise) noch etwas frischer und flexibler als 150 Folgen später und sammeln Sympathiepunkte beim Zuschauer. Gerade Horst Tappert, der hier und da auch mal gerne pokert wenn sich seines Erachtens zu wenig bei der Lösung des Falls tut, erscheint entfesselter, sogar ungeduldiger und fordernder. Feingefühl und Zurückhaltung gibt es lediglich situationsbedingt. Ein wirklich gut konstruiertes Team der ersten Stunde verspricht somit weitere, hochwertige Unterhaltung. Hilde Weissner als Leiterin der Schule leistet neben den übermächtigen Darbietungen eine ausgesprochen gute Interpretation. Sie erfährt nebenbei und viel zu spät, dass ihr System einige Lücken hat und das sich mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Lustmörder in ihrem Hause befindet. Sie transportiert ihre Fassungslosigkeit und ihre Hilflosigkeit gegenüber den Geschehnissen sehr präzise, auch temperamentvolle Zustände, die sich eine Frau in ihrer Position eigentlich nicht leisten kann, tragen im Rahmen der außerordentlichen Vorkommnisse zur hohen Glaubwürdigkeit bei. Das Lehrerkollegium ist gespickt mit kuriosen Gestalten und hier fällt besonders Herbert Bötticher positiv auf. Als Kielings Mutter sieht man die großartig aufspielende Lina Carstens, die sich in einem Vakuum aus Schweigen und Angst, Verzweiflung, Gewissen und Rechtfertigung wieder findet und unheimliche Qualen über sich ergehen lassen muss. Falls sie ihr Schweigen bricht, weiß der Zuschauer genau, dass für diese tragische Figur die Qual erst so richtig beginnen wird. Die gemeinsamen Szenen mit ihrem TV-Sohn sind hervorragend, denkwürdig und erschreckend zugleich. Sehr angenehm bei Folge 1 ist, dass sie nicht mit Geschützen der schweren Kindheit und Hausfrauenpsychologie auffährt. Der Mörder wird mit Hilfe eines Tricks gestellt, die Frage nach dem Warum bleibt natürlich bestehen, wird dem Zuseher aber nicht distanzlos aufgezwungen, die Empfindungen gegenüber den beteiligten Personen variieren und etablieren sich nur schwerfällig, es ist von Mitleid bis grenzenloser Verachtung alles gegeben. Ein fulminanter Einstieg!