L'Amour braque - Andrzej Zulawski (1985)
Verfasst: Fr 19. Aug 2011, 17:24
Frankreich 1985
Regie: Andrzej Zulawski
Darsteller: Sophie Marceau, Francis Huster,Tchéky Karyo, Christiane Jean, Michel Albertini, Jean-Marc Bory, Roland Dubillard, Saïd Amadis, Ged Marlon, Serge Spira, Julie Ravix, Marie-Christine Adam
Die Fakten:
Mit L’AMOUR BRAQUE inszenierte Andrzej Zulawski seinen dritten Spielfilm in Frankreich. Schon 1975, nachdem sein Zweitling DIABEL in Polen verboten und er als subversives Individuum ins Exil geschickt worden war, drehte er mit L’IMPORTANT C’EST D’AIMER seinen wohl bekanntesten und kommerziell erfolgreichsten Film, dessen Erfolg die Verantwortlichen im polnischen Kulturministerium Zulawski das Angebot unterbreiten ließ, er dürfe nach Polen zurückkehren und mit den Arbeiten eines weiteren Films seiner Wahl beginnen, mit dem er seine Reputation zurückerlangen könne. Zulawski ergriff die Chance und kehrte in die Heimat zurück, um ein Science-Fiction-Epos seines eigenen Großonkels zu verfilmen: die Mond-Trilogie von Jerzy Zulawski. Nachdem Zulawski zwei Jahre an NA SREBNYM GLOBIE arbeitete und bereits zwei Drittel fertig stellte, behinderte ein weiteres Mal das polnische Kultusministerium den Künstler. Die staatlichen Autoritäten, die wohl erst jetzt dessen ansichtig wurden, was Zulawski mit dem vorgeblichen Science-Fiction-Film tatsächlich kreierte, nämlich eine avantgardistische, depressive Neuverfilmung der gesamten Menschheitsgeschichte, die sich allen filmischen und politischen Regeln widersetzte, ließen die Dreharbeiten abrupt stoppen und Zulawski ein weiteres Mal außer Landes verweisen. Der Film blieb unvollendet, das bereits abgedrehte Material konnte nur mit Hilfe einiger Crewmitglieder vor der Vernichtung bewahrt werden, die dafür sorgten, dass die Negative nicht in falsche Hände gerieten. Während POSSESSION, sein erster Film nach diesem Desaster, in Westberlin entstand, begann mit LA FEMME PUBLIQUE 1984 Frankreich seine neue Filmheimat zu werden. L’AMOUR BRAQUE, 1985 veröffentlicht, markiert zugleich Zulawskis erste Begegnung mit Sophie Marceau, mit der eine langjährige Liebesbeziehung aufnahm.
1. L’AMOUR BRAQUE ist ein Gangsterfilm.
Die Story scheint in ihren Grundzügen klassisch: Micky, Sohn des Bosses eines gefürchteten Pariser Gangstersyndikats, hat sich in die Prostituierte Marie verliebt. Problem ist nur, dass die sich als Mätresse unter den Fittichen eines der vier Venin-Brüders befindet, die einer konkurrierenden, ebenso mächtigen Drogenbande vorstehen. Nachdem ein von ihm ausgeführter Bankraub erfolgreich abgeschlossen worden ist, begibt Micky sich mit seinen Komplizen zurück nach Paris, wo er Marie endlich aus dem Einfluss der Venin-Brüder freizukaufen bzw. freizuschießen plant. Schlussendlich läuft es auf Letzteres hinaus, als Micky mit seiner Bande eine Festlichkeit in einer prächtigen Stadtvilla der Venins stürmt, der auch Marie beiwohnt. Voller Übermut, sich aufgrund des erbeuteten Vermögens ihrer Liebe sicher wähnend, verwandelt er die Zusammenkunft in ein Massaker, flieht nach Handgranatenexplosionen, Schießereien und der Ermordung des Venins, der Marie als Konkubine hielt, mit dieser aus dem brennenden, halb in die Luft gejagten Gebäude, um in einer seinem Syndikat gehörenden Bar seinen Triumph zu feiern, was jedoch alsbald nicht nur durch das Auftauchen eines Polizeikommissars getrübt wird, der, obwohl er noch keine stichhaltigen Beweise dafür hat, Mickey sowohl hinter dem Banküberfall als auch hinter dem Anschlag auf die Venins vermutet, sondern auch durch seinen eigenen Vater. Der ist überhaupt nicht davon angetan, dass Micky die Feindschaft der Venins nur wegen eines leichten Mädchens wie Marie riskierte, bezeichnet ihn als Verräter und setzt ihm nicht nur im metaphorischen Sinn die Pistole auf die Brust. Sein Sohn indes stellt seine Liebe über alles, ermordet schließlich seinen eigenen Vater, um nach einer weiteren Schießerei erneut zu fliehen und sich fortan allein der Vernichtung der Vernins zu widmen. Sein Hass auf diese hat nämlich noch einen anderen Grund, einen, den Marie ihm einflüsterte. Diese will Rache, möchte jeden einzelnen Venin tot sehen, haben diese doch in einem gemeinschaftlichen Akt ihre Mutter vergewaltigt, misshandelt und bei lebendigem Leibe verbrannt. Marie, deren Eltern zu diesem Zeitpunkt schon geschieden waren, und die bei ihrem Vater lebte, wurde zufällig Zeuge wie ihre Mutter als lebende Fackel, unter Drogen gesetzt, mit Exkrementen eingeschmiert und brutal zusammengeschlagen, aus dem Fenster ihres Hauses in den Garten stürzte. Ein halbes Kind noch, konnte sie den Venins nicht viel entgegensetzen, die sie fortan in ihre Gewalt nahmen, sie zur Hure ausbildeten und sie wie einen kostbaren Vogel in einem goldenen Käfig hielten bis Micky sie befreite. Dem Wahnsinn mehrmals gefährlich nahe, nutzt Mickey all seine Macht, um Maries größten Wunsch zu erfüllen und beginnt einen brutalen Rachefeldzug, der sich zu einem regelrechten Bandenkrieg auf den Straßen von Paris auswächst…
Was zunächst klingt wie ein konventioneller, relativ harter Gangsterthriller wird in der Inszenierung Zulawskis zu einem wirren Mosaikteppich, dessen Komplexität man wohl erst nach dem dritten oder vierten Sehen in seiner Gänze erfassen kann, wenn überhaupt. Radikal wird hier mit Erzählkonventionen gebrochen, die Geschichte nicht homogen, nicht als Ganzes erzählt, sondern als Ansammlung von Bruchstückchen, die nicht immer wirklich zusammenpassen, viele Freistellen lassen, Informationen viel zu spät oder viel zu früh preisgeben, sich dann aber wieder plötzlich völlig fließend miteinander verbinden. Beispielweise verweigert Zulawski seinen Figuren eine zuschauerfreundliche Einführung, sie sind einfach da, ohne Vorgeschichte, und agieren, als sei es selbstverständlich, dass der Zuschauer weiß, um wen es sich handelt und in welcher Beziehung sie zu den restlichen Protagonisten stehen. Die Geschichte schreitet in einem rasanten Tempo voran, im Grunde gibt es nur einen einzigen kurzen Moment der Ruhe, ansonsten reiht sich ein Geschehen an das nächste. Für die Story Essentielles offenbart sich oftmals in beiläufig geäußerten Nebensätzen, die man leicht überhört, oder gar gleich nur in zweideutigen Blicken, bestimmten Gesten, einem winzigen Detail, dem man zunächst keine Bedeutung beimisst, um später zu begreifen, wie wichtig es in Wirklichkeit ist. Bezeichnend hierfür ist beispielweise, dass der Zuschauer das Motiv Maries, warum diese die Venins unbedingt ermordet wissen will, erst ganz am Schluss erfährt, kurz bevor der Vorhang fällt, oder dass die Tatsache, dass der Kommissar, der sich an Mickys Fersen heftet, um ihn hinter Gitter zu bringen, in Wirklichkeit ihr eigener Vater ist, so beiläufig geäußert wird, dass sie eigentlich nie wirklich klar wird. Zulawski hat seine Gangstergeschichte nicht dekonstruiert, sondern gar nicht erst konstruiert. Er gleicht sie den Gewaltexzessen an, die seine Figuren feiern. Wenn es in L’AMOUR BRAQUE zur Sache geht, dann richtig. Zulawskis Gangstergestalten, allesamt überdreht, hysterisch, pausenlos am Rande des Deliriums, gebrauchen Feuerwerfer, um ihre Feinde auszuschalten, schmücken die nächtlichen Straßen Paris mit ganzen Reihen explodierender Autos, erledigen sich hinterrücks mit gezielten Kopfschüssen, das alles in solch einer übertriebenen Weise, dass es nicht schwer fällt, das Ganze sowohl als Genrereflexion als auch als Genreparodie zu lesen. L’AMOUR BRAQUE ist eben nicht Hollywood, auch wenn der Film sich vordergründig dessen Mittel bedient, um seine anstrengende Geschichte mit Actionszenen aufzulockern. Zulawskis Action ist aber immer schmerzhaft, hat immer mehr von einem Weltuntergang als von einer professionell inszenierten Schießerei, bei der der Zuschauer sich zurücklehnen und abschalten kann, weil er weiß, dass das alles, was er da sieht, sowieso nicht echt ist.
2. L’AMOUR BRAQUE ist eine Dostojewskij-Verfilmung.
Nach dem Banküberfall zu Beginn macht Micky im Zug nach Paris die Bekanntschaft mit dem Ungarn Léon, vor Kurzem erst aus einer psychiatrischen Anstalt entlassen worden, und nun auf dem Weg zu seinen letzten lebenden Verwandten, seiner Tante und seiner Cousine, die ihn nach Frankreich einluden. Léon, das ist nicht schwer zu erkennen, ist identisch mit dem Fürsten Myschkin in Dostojewskijs Roman DER IDIOT. Hier wie dort setzt die Handlung in einem Zug ein, hier wie dort schwören die sich Kennenlernenden, bei Zulawski Micky und Léon, bei Dostojewskij Myschkin und sein zukünftiger Widerpart Rogoshin, tiefe Freundschaft, was sie unter anderem mit dem Austausch zweier Kreuze besiegeln, die sie sich um die Hälse hängen, hier wie dort verlieben sich die beiden Freunde in die gleiche Frau, was zu einem tragischen Finale führt. Dass Zulawskis Anleihen bei Dostojewskij, die sich auch in einigen Nebenfiguren niederschlagen, die er direkt aus DER IDIOT übernahm und in seinen eigenen Genrekontext versetzte, nicht dem Zufall geschuldet sind, unterstreicht der Regisseur selbst noch einmal deutlich, wenn er in den Credits von L’AMOUR BRAQUE schreibt, dass er den Film als Hommage an den großen Schriftsteller verstanden wissen will. Wie Fürst Myschkin gleicht Léon, die Hauptfigur in L’AMOUR BRAQUE, einem naiven, noch unbedarften Kind, das allein der Stimme seines Herzens gehorcht, die ihn wiederum zu Marie ruft. Von verschiedenen Seiten, von seiner Tante, seiner Cousine, von Micky als Idiot verhöhnt, übt er doch auf alle Protagonisten eine unheimliche Anziehungskraft aus. Micky beispielweise kann kaum von ihm lassen, möchte ihn unbedingt in seinem Gefolge haben, wenn er die Venins ausmerzt. Léon, der die ganze Zeit einzig darum bestrebt ist, mit seiner Liebe zu Marie klarzukommen, betrachtet das Chaos um sich herum durch eine kindliche Brille, was ihn ihm einerseits vollkommen ausliefert, ihn schutzlos werden lässt, und ihn andererseits weit über alle andern Figuren stellt. Er überblickt das Geschehen von oben, von einer unschuldigen Warte aus, mit einer Leidenschaft, die einfacher nicht sein könnte, will er doch nichts mehr als endlich mit seiner Marie zusammenkommen. Zulawski hat demnach nicht den gesamten IDIOTEN in seinen Film einfließen lassen. Offenbar ging es ihm mehr darum, die Figur des Idioten fassbar zu machen und von dem ausufernden Text einzig den Hauptstrang beizubehalten, der aber L’AMOUR BRAQUE dann auch wie ein roter Faden durchzieht. Witzig wird das allein schon dadurch, dass er noch in seinem vorherigen Film LA FEMME PUBLIQUE von einem manischen Regisseur erzählte, der genau an diesem Versuch scheitert: einen Dostojewskij-Roman, dort DIE DÄMONEN, zu verfilmen und das nicht mit dem Leben zu bezahlen.
3. L’AMOUR BRAQUE ist ein Liebesfilm
Wie viele anderen Filme Zulawskis handelt auch L’AMOUR BRAQUE von der Liebe in einer Welt kurz vor ihrem Untergang, in einer Welt, die keinen Gott mehr kennt, keine sonstigen moralischen Instanzen, die ihr von oben etwas Sinn einträufeln würden, einer im Grunde leeren Welt, in der jede Emotion jede Sekunde in ihr Gegenteil umschlagen kann. Trotz alldem bietet L’AMOUR BRAQUE eine ganze Palette von verschiedenen Liebesformen, die allerdings, und das ist das Bittere, allesamt schlussendlich nur auf eins hinauslaufen: die reine Destruktion, nicht nur der beteiligten Gefühle, sondern auch der Welt, die sie umschließt. Mickys Liebe zu Marie ist eine zutiefst leidenschaftliche. Selbst seinen eigenen Vater schießt er lieber über den Haufen als sich von Marie zu trennen. Er will sie besitzen, so wie man einen kostspieligen Gegenstand besitzt, mit dem man sein Wohnzimmer ausstaffiert. Seine Liebe zu Léon ist da schon reiner, weil ohne jegliche sexuelle Motivation. Er liebt ihn auf den ersten Blick, er liebt ihn selbst dann noch, als er weiß, dass er sich in Marie verliebt hat und bereit wäre, sie Micky wegzunehmen, wenn sich nur die Gelegenheit dazu bieten würde. Léons Liebe zu Marie ist noch reiner, noch kindlicher. Sie entjungfert ihn und Léon blutet, als sei er defloriert worden. Wo genau Maries Gefühle in dieser Dreieckskonstellation zu verorten sind, wird nie wirklich klar. Von sich selbst sagt sie fortwährend, sie sei eine Lügnerin, eine Hure, nicht mehr, und könne nicht aus ihrer Haut. Um ihre Rache zu bekommen, wirft sie sich Micky an den Hals. Vor ihrer Liebe zu Léon flieht sie, vielleicht weil sie zu tief geht. Als dessen Cousine Aglae ihr anbietet, ihr den Aufenthalt des letzten lebenden Venins mitzuteilen, wenn sie dafür alle Besitzansprüche an Léon aufgeben würde, und ihn ihr überlasse, die ihn ihrerseits besitzen möchte, tut sie das bereitwillig. Ausgelaugt, erschöpft kauert sie in einer anderen Szene hinter ihm und flüstert drei Worte mechanisch, emotionslos vor sich hin, als habe sie sie auswendig gelernt und wolle der ganzen Welt beweisen, wie gut sie sie nun endlich beherrsche: Je t’aime, Je t’aime, Je t’aime. Die einzige Ruhepause in L’AMOUR BRAQUE, die paar Minuten, in denen der Film Paris verlässt und den Zuschauer freigibt von den sich überschlagenden Storyentwicklungen, den Drogenräuschen, den Gewaltorgien, den emotionalen Detonationen ist zugleich eine der schönsten Liebesszenen der Filmgeschichte. Marie entscheidet sich mit Léon abzuhauen. In der Schweiz, in einer abgelegenen Almhütte, die sie aus ihrer Kindheit kennt, ein Ort ihrer Vergangenheit, kuscheln sie sich in die Illusion, sie könnten ihrer Leben entfliehen, sich in einem Kokon verstecken, der nie zerbrechen wird. Es treibt Tränen in den Augen, wenn sie allein, in vollkommener Stille, auf einer Wiese sitzen, und dem Schweigen lauschen, die plötzlich von dem Geräusch eines Düsenjets zerrissen wird, als Marie sagt, da draußen, da, wo sie herkommen, würde ein Krieg toben, ob Léon ihn denn nicht höre. Eine Szene später hat Micky die Liebenden in ihrer Abgeschiedenheit aufgestöbert, nimmt die sich nicht wehrende Marie mit zurück nach Paris und tötet Léon nur wegen seiner eigenen Liebe ihm gegenüber nicht. Was folgt, ist das gleiche Chaos wie zuvor, nur noch düsterer, noch selbstzerstörerischer, noch hoffnungsloser. Ein Ausbruch scheint nur für kurze Zeit möglich. Das, vor dem man flieht, die Welt, die man kennt, das, was man ist, holt einen immer und überall ein, selbst auf der entlegensten Alm.
4. L’AMOUR BRAQUE ist ein politischer Film.
Léons Vater starb im Gefängnis, erzählt er Micky gleich bei ihrem ersten Treffen. Als politischer Aktivist hat man ihn in Ungarn hinter Gitter gesteckt und ihn dort elendig sterben lassen, woraufhin seine Mutter, gebürtige Französin, aus Kummer über den ungerechten Tod ihres Mannes nicht mehr weiterleben konnte. Léon, wohl aufgrund dieser Familiengeschichte in der Psychiatrie gelandet, konnte Ungarn nur aufgrund der Einladung seiner Tante verlassen, hat es einzig hinter dem Eisernen Vorhang hervorgeschafft, weil Verwandte aus dem Ausland seine Ausreise unterstürzten. Das alles ist kein Zufall. Zulawski, selbst zweimal aus seiner Heimat ausgewiesen, selbst zweimal als Systemfeind deklariert, weiß, wovon er spricht, wenn er in so ziemlich jedem seiner im Ausland gedrehten Filme Elemente einbringt, die auf Osteuropa verweisen, sei es nun der junge Tscheche in LA FEMME PUBLIQUE, der von einer Untergrundorganisation dazu verleitet wird, ein Attentat auf einen Kardinal zu verüben, oder die ständigen Blicke auf die Grenzposten der Berliner Mauer in POSSESSION: ständig wendet Zulawski sich seiner verlassenen Heimat zu, betrachtet sie sich von außen, jetzt, wo er sie verloren hat. Gleichzeitig zeichnet ihn jedoch auch aus, dass er jedes System, in dem er drehte, sei es nun Kommunismus oder Kapitalismus, auf die gleiche unerbittliche Weise in seinem Kern attackierte, es entlarvte, seine Fehler aufzeigte und seine Mechanismen ins Groteske übersteigerte. Wie in seinem ersten in Frankreich entstandenen Werk L’IMPORTANT C’EST D’AIMER ist sein Feindbild in L’AMOUR BRAQUE der Konsumwahn, der Gedanke, dass alles und jeder käuflich ist, dass es nur Geld bräuchte, und schon habe man ein geheimes Wort, mit dem man alle Türe öffnen könne. Wie von Sinnen verschleudern Micky und seine Bande ihre Diebesbeute. Geld hat keinen Wert mehr. Es wird in Kamine geworfen, um das Feuer anzustacheln. Selbst Marie glaubt er sich nun leisten zu können, wo er ein gemachter Mann ist. Man verkauft Drogen, man verkauft Waffen, man verkauft seinen eigenen Körper, ob nun wie Marie, um damit Sex mit Fremden zu haben, oder wie Aglae, die ein aufgehender Filmstar Frankreichs ist, und schon einige freizügige Rollen in eher zwielichtigen Projekten bekleidete. Mit LA FEMME PUBLIQUE hat L’AMOUR BRAQUE auch gemein, dass Zulawski den Gedanken an eine wirkliche Gesellschaftsumwälzung, eine wahre Revolution, so wie sie im Lehrbuch steht, für ein Hirngespinst zu halten scheint. Eine kleine Gruppe Intellektueller möchte die Theateraufführung von Tschechows DIE SEEMÖWE, in der Aglae die Hauptrolle spielt, und auch einer der Venins mitmischt, als politisches Kampfmittel nutzen. Der an einen Rollstuhl gefesselte Wortführer der Organisation träumt von einem echten See auf der Bühne. Nach dem Stück müsse man nur dafür sorgen, dass der überlaufe und schon könne man die versammelte bourgeoise Zuschauerschaft in seinen Fluten ertränken. Ganz am Ende jammert er enttäuscht, dass die Geldmittel nicht ausreichten, ihm seinen See zu gewähren. Das ist alles, was die Charaktere an Revolution anzubieten haben. Wie sie sich in LA FEMME PUBLIQUE darin erschöpft, dass sie in einem Film, quasi von der Leinwand herab diskutiert wird, hat sie in L’AMOUR BRAQUE nichts weiter zu tun als ein paar gelangweilten Angehörigen der gesellschaftlichen Oberschicht als müßiger Zeitvertreib, lustige Gedankenspielerei zu dienen. Ebenso gelangweilt und monoton rattert ein Radiomoderator an einer anderen Stelle eine Liste von all den Ländern runter, in denen zurzeit kriegerische Auseinandersetzungen herrschen. Selbst die sind leere Hülsen, deren Namen man unter Umständen noch nie gehört hat oder nicht mal richtig aussprechen kann.
5. L’AMOUR BRAQUE ist ein Experimentalfilm.
Absurdes Theater ist wohl der Terminus, der am besten umschreibt, was einem die durch die Bank weg grandiosen Schauspieler in L’AMOUR BRAQUE anzubieten haben. Nicht nur weil Zulawski mit der Tschechow-Aufführung selbst auf das Theater verweist, wirkt so ziemlich jede Szene, ausgenommen das Alpen-Intermezzo, als befänden sich die Figuren auf einer Bühne und nicht im wirklichen Leben. Gesprochen wird konsequent in kryptischer Poesie. Selten trägt das, was die Münder der Figuren verlässt, eine klare Information für den Zuschauer mit sich. Meist umschreiben sie ihre Situation metaphorisch, verlieren sich in literarischen Anspielungen, zitieren und komponieren Lyrik, die der schon an sich komplexen und vor allem komplex inszenierten Handlung eine zusätzliche Schwierigkeit hinzugibt. Auch narrativ scheut Zulawski sich nicht, alles daran zu setzen, nicht auf ausgetretenen Pfaden zu wandern. Die Szenen sind kurz, wie aufflackernde Lichter, hastig und ungezügelt. Seine Darsteller schauen direkt in die Kamera oder spucken sie gleich voller Verachtung an. Typisch Zulawski ist natürlich, dass seine Figuren jede Emotion ausagieren müssen. Zulawski schafft es dadurch, dass seine Darsteller permanent unter Strom stehen, von Fieberwahn zu Fieberwahn taumeln, ihr Innerstes nach außen zu kehren. Man schreit sich an, man erleidet epileptische Anfälle, man zertrümmert sein Umfeld, man schüttet sich so viel Zucker in den Kaffee, dass die Tasse überschwappt, man fällt übereinander her. Zwangsläufig hat dieser Wahnsinn eine Wirkung auf den Zuschauer. L’AMOUR BRAQUE ist, wie fast jeder Zulawski, anstrengend, verlangt einem vieles ab, fordert viel von seinem Publikum, gibt ihm dafür allerdings eine Grenzerfahrung, sofern er bereit ist, sich auf ihn einzulassen, sich mitreißen zu lassen, sich freiwillig dafür zu entscheiden, den Wahnsinn seiner Figuren zu teilen. Darüber, dass er ein Film ist, reflektiert L’AMOUR BRAQUE im Finale dann selbst unverblümt. Während eines Schwarzbilds hört man Léons Stimme. In einem normalen Film, sagt er, würde er nun, wo alle tot sind, nur er noch nicht, wohl ebenfalls seinen eigenen Rachefeldzug starten. Zulawski indes entscheidet sich, sein Werk in den letzten Minuten völlig ins Abstrakte abgleiten zu lassen. Mit klopfendem Herzen bleibt man zurück.