Poe im (frühen) Kino, Folge 7:
Ich kann mir gut vorstellen, dass mancher die eher wilde Produktionsgeschichte von Jess Francos 1982 veröffentlichter vermeintlicher Poe-Verfilmung LA CHUTE DE LA MAISON USHER interessanter finden wird als das eigentliche Werk selbst. Zunächst hat Jess Franco nämlich in seinem Heimatland und in seiner Heimatzunge einen altmodischen Gruselfilm gedreht, der zwar das eine oder andere Motiv mit Poes Kurzgeschichte THE FALL OF THE HOUSE OF USHER teilt, letztendlich aber, trotz seines Titels EL HUNDIMIENTO DE LA CASA USHER, eine dann doch mehrheitlich freie Adaption derselben darstellt. Dem Geschmack der französische Produktionsfirma Eurociné hat der fertige Film offensichtlich jedoch nicht wirklich entsprochen, weswegen man das Material, ohne Franco in die Modifikationen zu involvieren, zunächst kürzte und die entstandenen Leeren schließlich mit Bildern ausstopfte, die man aus zwei unterschiedlichen Quellen geschöpft hat. Bei einer von beiden handelt es sich um eins von Francos frühsten Schauerwerken, GRITOS EN LA NOCHE von 1962, in dem, wie in EL HUNDIMIENTO DE LA CASA USHER, Howard Vernon die Hauptrolle spielt, nur eben in einer um zwanzig Jahre jüngeren Ausgabe seiner selbst. Die übrigen Zusatzszenen hat man in Frankreich eigenhändig und eigenmächtig mit drei Schauspielern in einem Keller nachgedreht und sich nicht erst die Mühe gemacht, das Bildformat demjenigen, das Franco verwendete, einigermaßen anzupassen. Unter dem Titel LA CHUTE DE LA MAISON USHER – und ich frage mich, ob die Jean-Epstein-Anspielung Absicht oder Willkür ist – hat der heutige Filmkonsument nunmehr ein in Worten kaum zu beschreibendes Stückwerk vorliegen, das zwar nicht einhundertprozentig Francos an Kuriositäten nicht armem Konto angekreidet werden darf, sich nichtsdestotrotz aber, meine ich, nahtlos in die Hochphase einfügt, die der spanische Avantgardefilmemacher Anfang der 80er durchlebte, wo er den Kinos unsterbliche Klassiker des Surrealismus wie beispielweise LA TUMBA DE LOS MUERTOS VIVIENTES oder LA MANSIÓN DE LOS MUERTOS VIVENTES schenkte.
Dass LA CHUTE DE LA MAISON USHER, seinem Namen zum Trotz, mit Poe nicht viel zu tun hat, beweist allein schon eine kurze Vorstellung der Figuren, die im augenscheinlich mediterranen und nicht neuenglischen Schlösschen ihr Unweisen treiben, in dem der Film kammerspielartig nahezu komplett spielt. Da wäre zunächst Usher, in Francos Paralleluniversum seines Zeichens nicht der letzte Spross eines degenerierten Adelsgeschlechts, sondern ein ehemaliger Professor und Wissenschaftler, der aufgrund seiner Studien zur Unsterblichkeit zum Gespött seiner Kollegen geworden und von der Universität in Bratislava vertrieben worden ist. Dr. Eric Vladimir Usher (!) lebt zurückgezogen auf seinem Anwesen und erfreut sich eines Geisteszustandes, der – immerhin kann man das als halbwegs authentisch im Sinne Poes verstehen - zerrütteter kaum sein könnte. Nur mit Mühe scheint der Greis sich selbst im Spiegel erkennen, ansonsten schleicht er fortwährend brabbelnd durch die weitläufigen Gemächer, in denen er, wäre nicht seine treue Hausdienerin Helen, unweigerlich verloren gehen würde. Kontakt zur Außenwelt besteht einzig in den regelmäßigen Besuchen seines Hausarztes Dr. Seward (!), dessen Heilkünste sich jedoch darauf zu beschränken scheinen, ihm von Zeit zu Zeit den Puls zu fühlen und ihm zu bestätigen, dass seine Nerven überspannt seien. Was Dr. Seward weder weiß noch ahnt, der Zuschauer jedoch sogleich auf dem Silbertablett serviert bekommt, ist, dass Usher in den Katakomben seines Schlosses ein Geheimnis versteckt hält, das sich hauptsächlich aus den oben erwähnten nachträglich eingefügten Szenen zusammensetzt. Dort lagert nämlich nicht nur sein totes Töchterchen Melissa, sondern sind in Zellen ebenfalls Haufen junger Mädchen untergebracht, deren Blut, soweit ich das begriffen habe, dazu dienen soll, besagte Melissa sowohl erst einmal zum Leben zu erwecken als auch dann am Leben zu erhalten. In Melissa wiederum ist ein gewisser Morpho verschossen, Ushers blindes, hünenhaftes Faktotum, das seine Zeit damit zubringt, die schlafende Schöne zu tätscheln, zu liebkosen und zu bewachen. Mathias, eine weitere Dienerfigur, erweckt den Eindruck, eher unfreiwillig im Keller zu leben. Er befolgt Ushers Anweisungen zwar, wird jedoch immer mal wieder in eine Einzelzelle gesperrt oder brutal kasteit. Der Zuschauer erlebt diesen überschäumenden Cocktail aus befremdenden, irgendwie unausgearbeitet wirkenden Ideen aus dem Augenpaar des nominellen Helden Alan Harker (!), der zu Beginn des Films als Reinkarnation des namenlosen Ich-Erzählers in Poes literarischer Vorlage zu Ross in die Einöde reitet, in die ihn sein ehemaliger Professor per Brief eingeladen hat – obwohl der sich bei ihrem ersten Zusammentreffen nur mit Mühe dazu durchringt, Harker überhaupt zu erkennen. Usher scheint jedenfalls zu planen, Harker, der wohl einer seiner talentversprechendsten Studenten gewesen ist, in seine Experimente einzubinden, letztlich scheitert das Ganze aber an seinem allgemein katastrophalen Geistes- und Gesundheitszustand und Harker muss einige Tage tatenlos auf dem Schloss verbringen, in deren Verlauf ihm mehr und mehr bewusst wird, dass er mitten in einen Alptraum geraten ist.
Man merkt vielleicht, wie schwer es mir fällt, den reinen Inhalt von LA CHUTE DE LA MAISON USHER annähernd präzise wiederzugeben. Tatsächlich besitzt der Film die konsequent anti-narrative Eigenart, im Grunde nichts zu erzählen, keine nachvollziehbare Story zu liefern, zu keinem Zeitpunkt an die menschliche Logik zu appellieren, sondern stattdessen reichlich wahllos wirkende Bilder aneinanderzureihen, deren Inhalte zwar in einem räumlichen, zeitlichen, personellen Bezug zueinander stehen, in Wirklichkeit allerdings völlig austauschbar sind, so sehr ächzen und knarzen sie unter der Leere, die sie transportieren. LA CHUTE DE LA MAISON USHER ist ein Film, in dem so gut wie gar nichts Beschreibbares passiert. Die skizzenhaften Zeilen einen Absatz höher müssten in Anbetracht der Ereignislosigkeit und Handlungsarmut des Films bereits als eine ausführlichere Inhaltsangabe betrachtet werden. Viel Zeit schlägt Franco beispielweise damit tot, seinen Helden Harker durch die lichtallergischen Korridore des Usher-Anwesens spazieren zu lassen, noch mehr Zeit verschenken, als würden sie sie im Überfluss besitzen, die Eurociné-Schergen mit ihren vollkommen sinnfreien Eigeneinsprengseln, die unter anderem mehrere Szenen beinhalten, in denen Morpho die scheintote Melissa liebevoll und zärtlich an keineswegs unzüchtigen Körperstellen streichelt, und ein weiterer Batzen Zeit wird schlussendlich von dem Schwarzweiß-Bilderreigen aus GRITOS EN LA NOCHE erfolgreich abgetan, den man uns in LA CHUTE DE LA MAISON USHER als Rückblenden verkauft, die mittels der off-Stimme Ushers zugegebenermaßen und vor allem im Vergleich geschickt in die Haupthandlung eingebunden werden, zu dieser wiederum aber nichts beitragen als dass sie eben etwas Abwechslung, etwas Leben in die Totenstarre bringen, in der der Film sonst wie eine schlafende Eidechse verharrt.
Francos beliebtestes Stilmittel, um seinen Film zu füllen, sind in LA CHUTE DE LA MAISON USHER Dialoge. Ich mag es nicht beschwören, doch rein gefühlstechnisch ist das vorliegende Machwerk der vielleicht geschwätzigste Franco-Film, den ich jemals gesehen habe. Der Anteil an gesprochenem Wort kratzt für mein Empfinden gar schon bedenklich am Plaudertaschen-Thron beispielweise eines Eric Rohmer. Während Rohmers Figuren ihre Münder aber zumeist bewegen, um interessante Introspektiven ihrer Gefühlsleben zu bieten, die in den besten Momenten gut und gerne als philosophische Reflexionen durchgehen könnten, jonglieren Francos Charaktere, vor allem Dr. Eric Usher, mit dem von ihnen Gesagten wie mit zufällig auf dem Boden herumliegend gefundenen Gegenständen. Eine meiner liebsten Szenen ist mit Sicherheit die, in der sich Antonio Mayans und Howard Vernon im Treppenhaus des Schlosses zum ersten Mal gegenüberstehen, ersterer am Fuße der Stufen im Halbschatten an der Wand lehnend, letzterer am Kopf der Stiege und sie nur langsam, beschwerlich herabsteigend. Franco wendet das klassische Schuss-Gegenschuss-Prinzip an, um zwischen Usher und Harker hin und her zu pendeln, ordnet die Szene demnach visuell klar, nur um sie mit dem, was über die Lippen der beiden Protagonisten kommt, komplett ins Gegenteil zu verkehren. Minutenlang muss Harker beteuern, dass er ein ehemaliger Student Ushers sei, dass der ihn handschriftlich zu sich gerufen habe, dass er ihn doch erkennen müsse, während der Professor ihn abwechselnd der Lüge bezichtigt, behauptet, ihn niemals zuvor gesehen zu haben, ihm mit typischem mad-scientist-Gegacker zuruft, dass er noch Großes mit ihm vorhabe, oder solche Aussagen tätigt wie die, dass Studenten generell allesamt Idioten seien. Ich weiß nicht, inwieweit die Franzosen bei ihrer Synchronisation den Originalwortlaut von Francos spanischem Original verändert haben, doch in der von mir gesichteten französischen Fassung ist gerade diese Szene derart vollgepackt mit Widersprüchen, wirren Phrasen und kaum erklärbaren Merkwürdigkeiten, dass sie jeden Cent wert ist, den man möglicherweise für die Anschaffung von LA CHUTE DE LA MAISON USHER ausgegeben hat. Bis Ushers Hausdame, unter deren Rock sich niemand Geringeres als Lina Romay verbirgt, das Wortgefecht der Männer unterbricht, dürfen wir dem Beweis beiwohnen, dass Franco wohl einer der wenigen Regisseure überhaupt ist, die in der Lage sind, selbst eine eigentlich vollkommen banale, ästhetisch und inhaltlich unaufgeregte Treppenszene in einen Schmelztiegel zu verwandeln, in dem noch der allerletzten Fetzen ratio gekocht wird bis nichts als ein paar Dampffäden von ihm übrigen bleiben, die einen delirierenden Schleier über die Welt legen.
Interessanterweise zeigt der Film sich ganz allgemein, was seine Tonkulissen betrifft, außerordentlich avanciert. Eine weitere meiner liebsten Szenen zeigt Harker bei seiner Ankunft vor den Pforten des Schlosses. In Großaufnahme hebt er das Gesicht ein bisschen, um die Außenmauern zu inspizieren. Das geschieht jedoch nicht in völliger Stille, wird stattdessen mit einer Art Mischung aus Gegrunze und Gemurmel unterlegt, so, als würde Harker in seinem Innern Selbstgespräche führen und sie für sich selbst grummelnd bestätigen. Später, als Dr. Seward einmal mehr zu Besuch weilt und mit Harker eines der für den Film konstitutiven Endlosgespräche führt, scheint das Schloss plötzlich in seinen Grundfesten zu wanken und ein Krächzen wie von einem sturmgeplagten Schiff erfüllt die Tonspur. In Wirklichkeit geschieht natürlich nichts dergleichen und Francos Versuch, trotzdem diese Illusion zu erwecken, indem ein bisschen, nicht mal besonders heftig, an der Kamera gerüttelt wird, ist derart fadenscheinig, dass sie niemanden täuschen kann. Dennoch ist das solch ein Moment, in dem der Film sämtliche Trümpfe ausspielt, die er als Film nun einmal besitzt. Seward und Harker heben die Blicke zum Dach, wo es ächzt und knarrt und sich sonst nichts tut – und wir kaufen Franco wider besseres Wissens ab, dass das Gebäude wirklich kurz davor steht, in sich zusammenzustürzen. Wenn nun aber niemand plappert und wenn niemand grunzt, stöhnt oder pausenlose Monologe hält, ist LA CHUTE DE LA MAISON USHER mit seinem Soundtrack zugekleistert: schwermütige Streichermusik ist praktisch in jeder Szene zu hören.
Ich muss zugeben, dass ich intellektuell ab einem bestimmten Punkt aus LA CHUTE DE LA MAISON USHER ausgestiegen bin, ich dem Film einfach nicht mehr folgen konnte. Wenn eine Frau auftaucht, die scheinbar eine gespenstische Existenz führt und bei der es sich möglicherweise um Ushers verstorbene Gattin handelt, und wenn Harker, obwohl er die eingesperrten Kellermädchen entdeckt hat, nichts zu ihrer Rettung unternimmt, sich vielmehr von Helen einreden lässt, er habe nur eine besonders lebhafte Halluzination gehabt, und wenn Usher einmal davon spricht, er wolle seine tote Tochter zurück ins Leben holen, um quasi im nächsten Satz von Experimenten mit Embryo-Zelle zu reden, und eine Szene später behauptet, einhundert Jahre alt zu sein und seinen Alterungsprozess künstlich mit Menschenblut aufgehalten zu haben, dann sei meinem Verstand verziehen, wenn er dem Francos und der Eurociné-Leute folgt, und sich kapitulierend ausklinkt. In der von mir gesichteten Fassung ist LA CHUTE DE LA MAISON USHER ein wahres Meisterwerk darin, auf jedwede Logik zu pfeifen und die Langeweile zur Kunst zu erheben, vergleichbar höchstens mit einer Handvoll von Francos eigenen Filmen und dem einen oder anderen etwa zeitgleich entstandenen Erzeugnis aus der Schmiede Joe D’Amatos. LA CHUTE DE LA MAISON USHER ist definitiv kein Spielfilm im klassischen Sinne, erinnert, ob nun gewollt oder ungewollt, an einen Fiebertraum, der in Zeitlupe abrollt, voller ungelöster Rätsel und Antworten auf Fragen, die man gar nicht gestellt hat. Oder, um ein Bild zu bemühen, das noch mal die Brücke zu Poe schlägt: man stelle sich vor, dessen THE FALL OF THE HOUSE OF USHER liege aufgeschlagen auf Francos Nachttisch. Darüber hat der bereits mehrere Groschenheftchen geworfen, eine zerfledderte Ausgabe von Bram Stokers DRACULA, und Bierdeckel, auf die er stichpunktartig Geistesblitze notiert hat, die manchmal offensichtlich zu ganz anderen Filmen zu gehören scheinen, von französischer Hand sind dann noch einige ältere Drehbücher Francos fallengelassen worden, und vor allem eigene Bierdeckel voller eigener Ideen, sodass man die Geschichte Poes am Ende nur noch ganz entfernt, sozusagen an den Rän-dern, durchschimmern zu erahnen meint.
Andererseits hat LA CHUTE DE LA MAISON USHER meine Augen für ein Faktum geöffnet, das ich bislang nur unterschwellig erahnt habe, nämlich was für ein brillanter Schauspieler Howard Vernon doch ist. Schon bei meiner kürzlichen Erstsichtung von COMMANDO MENGELE bin ich ziemlich hingerissen gewesen von dem gnadenlosen Overacting, mit dem Vernon dem KZ-Verbrecher Leben einhaucht. Seine Darstellung Dr. Eric Vladimir Ushers nun schlägt in eine ähnliche Bresche bzw. ist für mich vielleicht sogar der noch eindeutigere Beweis dafür, dass wir es hier mit einem schlicht großartigen Mimen zu tun haben. Es gibt da eine Szene etwa nach fünfundfünfzig Minuten im Film, die genauso spektakulär ist wie die übrigen: Vernon sitzt an einem Tisch, litaneit vor sich hin und wird hinterrücks von seinem Hausmädchen angeredet. Es ist nur ein äußerst kurzer Moment, nicht länger als ein Lidschlag, in dem Vernon sein Talent widerspruchslos unter Beweis stellt: er schreckt zusammen und stößt dabei einen halblauten, halbgelallten Schrei aus, in dem er die gesamte Verwirrtheit seines Charakters transportiert. Erst nachdem ich den Film für ein paar Minuten angehalten hatte, um meinen vor Lachen hüpfenden Bauch zu beruhigen, konnte ich wieder genügend Atem schöpfen, die restliche halbe Stunde zu ertragen. Wenn es demnach einen Grund geben sollte, sich LA CHUTE DE LA MAISON USHER anzusehen – außer dem freilich, dass es einfach ein sehenswerter Film ist -, ist es definitiv Vernons Schauspielkunst, die nahezu jede Szene bis weit über die Ränder hinaus erfüllt bzw. sprengt. Doch mit Poe hat das Ganze, wie gesagt, freilich nichts zu tun.