Die Mama und die Hure - Jean Eustache
Verfasst: Mi 4. Jan 2012, 18:50
Originaltitel: La Maman et la Putain
Herstellungsland: Frankreich 1973
Regie: Jean Eustache
Darsteller: Bernadette Lafont, Jean-Pierre Léaud, Françoise Lebrun, Isabelle Weingarten, Jacques Renard, Jean-Noël Picq, Jessa Darrieux, Geneviève Mnich, Marinka Matuszewski, Jean-Claude Biette, Pierre Cottrell, Jean Douchet
Der Name Jean Eustache wird wohl den wenigsten Cineasten heute noch etwas sagen. Unverdientermaßen, wie ich finde, denn obgleich sein Oeuvre ein eher überschaubares ist, trägt es doch einen Reichtum in sich, wie sie manche Regisseure in einer jahrzehntelangen Erfolgskarriere nicht hervorzubringen vermögen. Eustache, Jahrgang 1938, kann man in gewisser Weise als eine Randfigur der Nouvelle Vague bezeichnen. Trat er vor 1973, dem Jahr, in dem mit LA MAMAN ET LA PUTAIN sein erster Langspielfilm erschien, künstlerisch in Erscheinung, dann zumeist in Kurzfilmen, von denen er fünf Stück zwischen 1963 und 1971 drehte, als Cutter von Luc Moullets UNE AVENTURE DE BILLY LE KID und, in einer winzigen, in den Credits nicht aufgeführten Rolle, als Schauspieler in Jean-Luc Godards WEEK END. Auch nach LA MAMAN ET LA PUTAIN sollte sein Werk keinen erheblichen Zuwachs mehr bekommen. Neben einem einzigen weiteren Spielfilm, MES PETITES AMOUREUSES von 1974, inszenierte Eustache nur noch vier weitere Kurzfilme und eine Episode fürs französische Fernsehen, bevor er 1981, nur wenige Wochen vor seinem 43. Geburtstag, und nach einem Autounfall teilweise gelähmt, durch Suizid aus dem Leben schied.
Zu dem Zeitpunkt, als LA MAMAN ET LA PUTAIN erschien, lag die Hochzeit der französischen Nouvelle Vague schon mehr als zehn Jahre zurück. Mit Ausnahme von Godard, der dem kommerziellen Kino nach seinem bis dato wohl radikalsten Werk WEEK END, in dem er den Tod des zeitgenössischen Films proklamierte, für etwa ein Jahrzehnt komplett den Rücken zukehrte, waren die meisten Regisseure wie Claude Chabrol, Eric Rohmer oder Francois Truffaut, die noch Ende der 50er in den Cahiers du Cinema leidenschaftlich gegen das den Markt beherrschende Mainstream-Kino ihrer Väter schrieben, längst unauffällig, aber stetig in das marktwirtschaftliche System hineingewachsen. Auch eine Gegenbewegung zu dem allmählichen Verebben der Neuen Welle hatte es 1973 schon gegeben, eine lose Gruppierung, die unter dem Namen Zanzibar sowohl auf das absehbare Ende der Nouvelle Vague wie auch auf die Ereignisse des Mai 1968 reagierten, und dabei unkonventionelle, sich dem Massengeschmack verbissen widersetzende Filmkunstwerke wie Serge Bards DÉTRUISEZ-VOUS von 1969, Patrick Devals ACÉPHALE, ebenfalls von 1969, und ein Jahr zuvor Philippe Garrels LE RÉVÉLATEUR hervorbrachten, Filme, die in allem, von ihrer Laufzeit, ihrer Verbindung von Bild und Ton (in den Frühwerken Garrels fehlte dieser beispielweise gänzlich) bis hin zu ihren poetisch verschlüsselten oder politisch überfrachteten Inhalten eine kontinuierliche Praxis der Abgrenzung betrieben.
Für Eustaches Spielfilmdebut sind diese Entwicklungen insoweit wichtig, da in LA MAMAN ET LA PUTAIN, meiner Meinung nach, Elemente beider Bewegungen zusammenfallen. Auf den ersten Blick überwiegen dabei die Nouvelle-Vague-Tendenzen, wohl auch weil die Hauptrolle des Alexandre mit niemand geringerem als Jean-Pierre Léaud besetzt wurde, der mit seinen Rollen in Filmen vor allem von Truffaut und Godard zu einer der Ikonen der französischen Neuen Welle avancierte, und hier eine Figur gibt, die überdeutlich auf die frühsten filmischen Gehversuche der Cahiers-du-Cinema-Kritiker zurückverweist. Ob nun in Jacques Roziers ADIEU PHILIPPINE, in einem von Godards ersten Kurzfilmen CHARLOTTE ET VÉRONIQUE, OU TOUS LES GARCONS S’APPELLENT PATRICK oder, in einem historischen Kontext, in Truffauts JULES ET JIM, ein beliebtes Thema der Neuen Welle ist die Beziehung zwischen jungen Männern und jungen Frauen, das Wechselverhältnis zwischen Jäger und Beute, erzählt in einer lockeren, amüsanten, frischen Sprache, die sich die noch etwas naive Sicht der Jugendlichen auf die Welt so sehr aneignet, dass man sich selbst als Teil von ihr fühlt. Auch Alexandre in LA MAMAN ET LA PUTAIN ist solch ein Aufreißer klassischer Schule, ein junger Mann, der keinem geregelten Leben nachhängt, von der Hand in den Mund lebt, sich keine gesteigerten Gedanken über seine Zukunft macht, sondern stattdessen seine Tage damit verbringt, sich besonders provokante oder schräge Sprüche auszudenken, mit denen er sich in den Mittelpunkt stellen und als Intellektuellen ausweisen kann, mit seinen nicht minder selbstverliebten und arroganten Freunden ziellose Diskussionen zu führen, oder, sein Hauptzeitvertreib, nach Mädchen zu suchen, mit denen er sich in kurze, aber intensive Affären stürzen kann. Der Fakt, dass er verheiratet ist, stört ihn dabei nicht im Geringsten, vielmehr verbindet ihn eine Art Hass-Liebe mit seiner Gattin, die über alle seine Fehltritte bestens unterrichtet ist, und, wenn sie nicht gerade mit ihm streitet, zuweilen gar mit seinen neusten Eroberungen zusammen am Frühstückstisch sitzt, sich gemeinsam mit Alexandre über die Mädchen lustig macht oder ihn vor ihnen in peinliche Situationen bringt. Ihre offene Beziehung erscheint dadurch zunächst als eine durchaus empfehlenswerte Alternative zur spießbürgerlichen Ehe. Sowohl Alexandre wie Marie können sich vollends ausleben und bleiben dennoch miteinander verbunden. Einen Umschwung gibt es, nachdem Alexandre von seiner vorherigen Liebschaft Gilberte, die sich freiwillig in eben solch eine Spießbürgerehe begibt, sitzengelassen wird und er das nächstbeste Mädchen in seinem Stammcafé anspricht, eine Polin namens Veronika Osterwald, von Beruf Krankenschwestern, die von nun an Gilberte ersetzen soll. Bis dahin ist LA MAMAN ET LA PUTAIN voll mit typischen Nouvelle-Vague-Ingredienzien. Alexandre schießt Filmzitate und filmhistorische Anspielungen aus seinem Mund wie Godard zu seinen besten Zeiten, befinden sich die Protagonisten nicht gerade in ihren Wohnungen, sitzen sie in Cafés herum und plaudern über alle wichtigen und unwichtigen Themen des Lebens, die Flipperautomaten in der Ecke wurden da natürlich auch nicht vergessen. An der Schnittstelle zwischen Godard, an den die mannigfaltigen Referenzen an zeitgenössische Politik, Kunst, Kultur, Literatur und Kino erinnern, und Rohmer, mit dem ich zwangsläufig die endlosen Passagen in Verbindung bringe, in denen die Figuren versuchen, ihre eigenen (Liebes-)Gefühle zu analysieren und verbal auf den Punkt zu bringen, ist LA MAMAN ET LA PUTAIN an der Oberfläche wohl genau das, was sich mancher mit Entsetzen unter einem dialoglastigen französischen Arthouse-Film vorstellt.
Indes sind wir im Jahr 1973 und Eustache versucht zu keinem Zeitpunkt, die Uhren zurückzudrehen und eine Vergangenheit in die Gegenwart zu holen, die sich nicht reproduzieren lässt. Dreieinhalb Stunden dauert LA MAMAN ET LA PUTAIN und macht damit schon allein an seiner Laufzeit deutlich, dass dem Zuschauer einiges abverlangt werden wird. So wie viele Filme der Zanzibar-Bewegung konsequent unterhalb der üblichen Neunzig-Minuten-Marke blieben, nimmt sich Eustache subversiv so viel Zeit für sein Werk wie sie mancher Hollywood-Monumentalfilm nicht braucht, um seine Story zu entwickeln. Dabei ist die von LA MAMAN ET LA PUTAIN problemlos in wenigen Sätzen zusammenzufassen. Was Eustache zeigt, ist Alltag, nichts Besonderes, eben das, was im Leben Alexandres so vor sich geht, das alles relativ ungefiltert, zuweilen in Echtzeit, wenn die Figuren Single-Schallplatten auflegen und die Kamera ihnen emotionslos dabei zusieht wie sie nichts weiter tun als Musik zu hören. Die Einstellungen sind dabei das genaue Gegenteil zu Schnittfeuerwerken wie in JULES ET JIM oder À BOUT DE SOUFFLE. Statisch, lang, ungerührt beobachtet die Kamera das überschaubare Ensemble, und vermittelt damit einen Realismus, der in den Frühtagen der Nouvelle Vague eben nicht angestrebt wurde. Einen Soundtrack gibt es nicht. Wenn wir Musik hören, dann nur die, die auch die Protagonisten hören. Viele Dialoge scheinen improvisiert, sprunghaft, eben aus dem Leben gegriffen, mitunter langweilig und anstrengend, wenn Alexandre zu einer neuerlichen Tirade ansetzt. Interessanterweise erinnert LA MAMAN ET LA PUTAIN in all diesen realistischen Komponenten frappierend an den ebenfalls 1973 in die Kinos gelangten DU CÔTÉ D’OROUET von Jacques Rozier, in dem dieser ganz so, als gäbe es keine Kinokonventionen, mit einem ähnlichen inhaltlichen Minimalismus und einem Laufzeitmonumentalismus, wenn auch nur von zweieinhalb Stunden, nichts weiter zeigt als ein paar Freundinnen, die ihren Sommerurlaub in einem Strandhaus an der Küste Frankreichs verbringen. Hier wie dort regiert das Unspektakuläre, das, was im Gros der Filmproduktionen nie gezeigt werden würde, da man es als viel zu belanglos erachtet. DU CÔTE D’OROUET und LA MAMAN ET LA PUTAIN haben keine ausgeklügelten Storys zu bieten, sie agieren eher wie Dokumentationen, die eine inszenierte Realität so naturgetreu wie möglich abzubilden versuchen. Dabei ist Roziers Film indes der wesentlich amüsantere und vergnüglichere. Zwar schwingt auch in ihm die Stimmung an einem Punkt plötzlich um und führt zu einem, wie ich finde, der emotionalsten und traurigsten Momente der Filmgeschichte, mit der Düsternis, die Eustache in seinem Spielfilmdebut versprüht, kann er da aber nicht mithalten. Mir zumindest ging es so, dass mir zu Beginn der Blick verstellt wurde von all den vertrauten Nouvelle-Vague-Elementen, dass mir gar nicht auffiel, wie depressiv, finster und hoffnungslos LA MAMAN ET LA PUTAIN in seinem Herzen ist. Wenn man Léaud ein, zwei Stunden zugehört, mit der Figur des Alexandre eine gewisse Zeit verbracht hat, schwindet die anfängliche Sympathie, die man noch für ihn hatte, allmählich, und Eustaches Film scheint immer verzweifelter, immer reduzierter zu werden. Hier kommt nun Zanzibar ins Spiel, vor allem LE RÉLÉVATEUR, der mir nicht nur in dem Sinn kam, weil Eustache und Garrel die gleiche Schauspielerin, Bernadette Lafont, einsetzten. Vergleichbar sind die kontrastreichen Schwarzweißbilder, die beklemmende Stimmung, die in LA MAMAN ET LA PUTAIN immer mehr zunimmt, ein unheimliches Gefühl, das nie ganz fassbar wird, aber immer unbewusst spürbar bleibt. Von seiner Ästhetik her ist Eustache wesentlich näher bei Garrel als bei Godard. Wo der jedoch in seinem Frühwerk komplett auf Ton verzichtet, überlädt Eustache seinen Film mit Monologen und Dialogen, die einem irgendwann nur noch als leere Blasen erscheinen, stumpfes Geplapper, das Stille füllen soll, die sonst unerträglich wäre. Gegenseitiges Machtausüben, eine tiefe Hoffnungslosigkeit, unerfüllte Sehnsüchte, die Sinnlosigkeit des irdischen Daseins, Sexualität werden thematisiert, letztere so explizit wie es die Nouvelle Vague sich nie getraut hätte. Wo die jungen Aufreißer Truffauts und Rohmers zumindest auf der reinen Bildebene keusch und züchtig bleiben, geht Eustache unverspannt mit dem Thema Sex um. Alexandre dringt in Veronika ein, während die einen Tampon trägt, und sich beschwert, dass er irgendwo in ihrem Körper verschwinden könne, wenn er nicht sofort aufhöre, sie zu penetrieren. Ständig kreisen die Dialoge um Sexualität, jeder der Hauptdarsteller darf sich einmal nackt zeigen, die Sexszenen sind durch nichts verziert und dadurch realistischer als vergleichbare Darstellungen des Mainstream-Kinos der frühen 70er.
Dennoch bietet selbst der Sex keine Befreiung von irgendetwas. Im Finale sitzen nackte, schutzlose Körper vor einem, Alexandre, Marie, Veronika, die nicht recht zu wissen scheinen, was sie mit sich anfangen sollen. Jeder fasst mal den einen, dann den andern an, auf der Suche nach irgendetwas, bis Veronika einen sicherlich zehnminütigen Monolog hält, in dem sie dem Zuschauer ihre zutiefst pessimistische Weltsicht verrät, ein Seelenstriptease, bei dem es schwerfällt, zuzuhören, selbst wenn man weiß, dass es eine Schauspielern ist, die ihn ausführt. Noch später fällt alles von Alexandre ab, was ihm bis dahin Sicherheit gab. Alexandre, der eben nicht wie einer der jungen Wilden von vor zehn Jahren wirkt, sondern wie ein Mann des Jahres 1973, der genügend Truffauts und Godards gesehen hat, dass er die dort gebotenen Männerbilder automatisch verinnerlichte und versucht, seinen Vorbildern nachzueifern, erinnert mit seinem ganzen Verhalten an Szenen aus Godards erstem Spielfilm, wenn Belmondo bewusst die Gestik und Mimik seines Idols Bogart zu imitieren versucht. Er ist nicht echt, spielt eine Rolle, was die Nouvelle Vague einerseits endgültig in die Vergangenheit verweist, als etwas, das tot ist und nur noch nachgeahmt werden kann, und LA MAMAN ET LA PUTAIN damit andererseits zu einem selbstreflexiven Film macht, der keinen wirklichen Endpunkt, aber auch keinen Neuanfang darstellt, sondern irgendetwas dazwischen oder am Rande. Das wahre Gesicht Alexandres lässt Eustache uns erst ganz am Ende seiner dreieinhalb Stunden sehen, wenn er nach einem Liebesgeständnis an Veronika regelrecht zusammenbricht. Während seine Liebste sich im Off übergeben muss, sitzt Léaud so verzweifelt wie man ihn nie zuvor gesehen hat auf gefliestem Boden. Dann endet der Film einfach, so wie er einfach irgendwann begonnen hat. Es wirkt, als hätten Eustaches Kameras schlicht kein Filmmaterial mehr. LA MAMAN E LA PUTAIN bleibt damit ein schmaler Ausschnitt aus einem Leben. Er hat keinen Anfang, kein Ende. Was er beweist, ist, dass es das nicht unbedingt braucht, um ein großer Film zu werden.