Weiße Lilien - Christian Frosch
Verfasst: Sa 7. Jan 2012, 10:18
Weiße Lilien
Herstellungsland: Deutschland/Luxemburg/Österreich/Ungarn 2007
Buch und Regie: Christian Frosch
Darsteller: Brigitte Hobmeier, Johanna Wokalek, Martin Wuttke, Xaver Hutter, Erni Mangold, u.a.
Atemberaubendes Kino deutsch-österreichischer Provenienz bietet Christian Frosch mit "Weiße Lilien". Ursprünglich sollte der Film "Yoon 20/11" heißen, nach dem Türschild einer jungen Frau, die zu Beginn Selbstmord begeht. Die Polanskis "Le locataire" ähnliche Ausgangslage, dass Hannah, eine junge Angestellte, die Wohnung einer Selbstmörderin bezieht, führt auch hier letztlich zu einem Leben voller Unklarheit über real und irreal, Gut und Böse, Wahrheit und Lüge. Das legt den Gedanken an das Verunsicherungskino David Lynchs nahe, doch so viel zu Beginn: Christian Frosch hat es mit seinem überaus bemerkenswerten Film nicht nötig, sich mit irgendwelchen fremden Federn zu schmücken.
Überall in Neustadt tun sich Verschwörungsszenarien auf, kafkaesk zudem kann man die Struktur der Siedlung nennen, die von einem nebulös funktionierenden Sicherheitsdienst bestimmt wird, in dem auch Hannah arbeitet. Soziale Unterschiede manifestieren sich in Statussymbolen: Hunde, Golf, Bücher und vor allem das begehrte und rationierte Wasser im Überfluss leisten sich die höheren Schichten, während insbesondere die Kinder der unteren Schichten an den Rand des Siedlungslebens gedrängt werden. Ein bitterer Kommentar zu unserer Gegenwartsgesellschaft, in der Kinderreichtum zunehmend als Anzeichen sozialen und geistigen Prekariats verunglimpft wird. Ein toter Hund erhält nahezu ein Staatsbegräbnis, während man einen toten Jungen, der von Hunden angefallen wurde, erst mal achtlos im Wasser treiben lässt.
Jedoch verweilen Froschs Drehbuch und Regieführung niemals dröge auf diesen Anklagemomenten. Der Film legt ein hohes Tempo vor, generiert Spannung ebenso wie Unsicherheit und reiht in Gestalt von Giovanni A. Scribano - Ausstattung - und Busso von Müller - Kamera - grandiose Eindrücke in feinstem 2,35:1-Format aneinander. Die sympathische, zur Drehzeit etwa 30-jährige Hauptdarstellerin Brigitte Hobmeier trägt mit ihrer unkomplizierten Ausstrahlung, ihrem vollen sommersprossigen Gesicht und ihrer unbekümmerten Freizügigkeit viel zur Wirkung ihrer Bilder bei, die sie ein Leuchten in die oft dunklen, tristen Gänge bringen lassen.
Ganz anders im Fall von Johanna Wokalek, die schmal, etwas verhaltener, aber auch schelmisch Hannahs Gegenpart Anna interpretiert. Dass es sich hier um eine Alter-Ego-Beziehung handelt, macht der Film recht früh mit Spiegelungen, Blicken durch Glasscheiben aufs Gegenüber und unerwartetem Auftauchen von Anna klar. Aber es gibt noch ein Tertium Ego in Gestalt der Selbstmörderin Yoon, über deren Motive wir weitgehend im Dunkeln gelassen werden. Trotzdem spielt ihre Präsenz, die Präsenz von jemandem, der dieses Leben verlassen hat, ohne mit ihm abgeschlossen zu haben, eine große Rolle, Yoon scheint Hannah zu beobachten und ihren Weg mitzubestimmen, bis sich im Finale der Kreis schließt und wir ein Déjà-vu erleben, das aber letztlich doch keines ist. Nicht zu vergessen: die beim Dreh fast 80-jährige Erni Mangold, deren so kontrolliert und dominant auftretende Figur auch in einem überaus zwielichtigen Verhältnis zu Hannah und Anna steht, und Walfriede Schmitt, die in Kombination mit einem lustigen Günther Kaufmann für kurze Frist den Wohlfühlfaktor in Hannahs unsicherer Welt bildet.
Xaver Hutter als triebhaft gewalttätiger Ehemann, Gabriel Barylli als empfindsamer Bildungsbürger, Martin Wuttke als leicht schmieriger Geheimdienstfunktionär sowie Peter Fitz als steinern auftretender Siedlungspatriarch ergänzen das brillante Ensemble. Verschiedene Formen von Macht werden durch diese Figuren verkörpert: rohe Gewalt, kultivierte Aristokratie, Intrigantentum und autoritäre Traditionsverkörperung. Demokratisch bestimmte Selbstverwaltung sieht man immer nur als zartes Pflänzchen, kurz davor, zertreten zu werden. Bis die Eskalation von außen und innen zugleich naht.
Das Thema des Siedlungskomplexes, dessen Grundlage die futuristischen Wohntürme von Alt-Erlaa in der Nähe von Wien bilden, findet sich schon in David Cronenbergs "Shivers". Auch hier erliegt ein kleines Utopia mit seinen ganzen Hoffnungen, seiner erträumten Modellhaftigkeit dem Umsichgreifen des in glibbriger Form fleischgewordenen Triebs, der binnen Kurzem die Krise herbeiführt - während in "Weiße Lilien" soziale Verwerfungen, skrupellose Machenschaften und nicht zuletzt der Druck einer offenbar immer chaotischer werdenden Außenwelt für ein tumultuöses Schlussszenario sorgen.
In vielen Szenen, ja auch in ganzen Motiven, in Bildern und Stimmungen, mag "Weiße Lilien" seine Einflüsse haben und Zitate anbringen. Aber alles in allem hat Frosch hier seine eigene Mischung aus positiver und negativer Utopie geschaffen, die thrillerhaft spannend, aber auch fantasiereich und anregend geraten ist. Ein Film, den zu entdecken sich mehr als lohnt.
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Den Film würde ich zwar nicht als "Europloitation" bezeichnen, aber ich musste jetzt einfach mal etwas Werbung dafür machen.
Herstellungsland: Deutschland/Luxemburg/Österreich/Ungarn 2007
Buch und Regie: Christian Frosch
Darsteller: Brigitte Hobmeier, Johanna Wokalek, Martin Wuttke, Xaver Hutter, Erni Mangold, u.a.
Atemberaubendes Kino deutsch-österreichischer Provenienz bietet Christian Frosch mit "Weiße Lilien". Ursprünglich sollte der Film "Yoon 20/11" heißen, nach dem Türschild einer jungen Frau, die zu Beginn Selbstmord begeht. Die Polanskis "Le locataire" ähnliche Ausgangslage, dass Hannah, eine junge Angestellte, die Wohnung einer Selbstmörderin bezieht, führt auch hier letztlich zu einem Leben voller Unklarheit über real und irreal, Gut und Böse, Wahrheit und Lüge. Das legt den Gedanken an das Verunsicherungskino David Lynchs nahe, doch so viel zu Beginn: Christian Frosch hat es mit seinem überaus bemerkenswerten Film nicht nötig, sich mit irgendwelchen fremden Federn zu schmücken.
Überall in Neustadt tun sich Verschwörungsszenarien auf, kafkaesk zudem kann man die Struktur der Siedlung nennen, die von einem nebulös funktionierenden Sicherheitsdienst bestimmt wird, in dem auch Hannah arbeitet. Soziale Unterschiede manifestieren sich in Statussymbolen: Hunde, Golf, Bücher und vor allem das begehrte und rationierte Wasser im Überfluss leisten sich die höheren Schichten, während insbesondere die Kinder der unteren Schichten an den Rand des Siedlungslebens gedrängt werden. Ein bitterer Kommentar zu unserer Gegenwartsgesellschaft, in der Kinderreichtum zunehmend als Anzeichen sozialen und geistigen Prekariats verunglimpft wird. Ein toter Hund erhält nahezu ein Staatsbegräbnis, während man einen toten Jungen, der von Hunden angefallen wurde, erst mal achtlos im Wasser treiben lässt.
Jedoch verweilen Froschs Drehbuch und Regieführung niemals dröge auf diesen Anklagemomenten. Der Film legt ein hohes Tempo vor, generiert Spannung ebenso wie Unsicherheit und reiht in Gestalt von Giovanni A. Scribano - Ausstattung - und Busso von Müller - Kamera - grandiose Eindrücke in feinstem 2,35:1-Format aneinander. Die sympathische, zur Drehzeit etwa 30-jährige Hauptdarstellerin Brigitte Hobmeier trägt mit ihrer unkomplizierten Ausstrahlung, ihrem vollen sommersprossigen Gesicht und ihrer unbekümmerten Freizügigkeit viel zur Wirkung ihrer Bilder bei, die sie ein Leuchten in die oft dunklen, tristen Gänge bringen lassen.
Ganz anders im Fall von Johanna Wokalek, die schmal, etwas verhaltener, aber auch schelmisch Hannahs Gegenpart Anna interpretiert. Dass es sich hier um eine Alter-Ego-Beziehung handelt, macht der Film recht früh mit Spiegelungen, Blicken durch Glasscheiben aufs Gegenüber und unerwartetem Auftauchen von Anna klar. Aber es gibt noch ein Tertium Ego in Gestalt der Selbstmörderin Yoon, über deren Motive wir weitgehend im Dunkeln gelassen werden. Trotzdem spielt ihre Präsenz, die Präsenz von jemandem, der dieses Leben verlassen hat, ohne mit ihm abgeschlossen zu haben, eine große Rolle, Yoon scheint Hannah zu beobachten und ihren Weg mitzubestimmen, bis sich im Finale der Kreis schließt und wir ein Déjà-vu erleben, das aber letztlich doch keines ist. Nicht zu vergessen: die beim Dreh fast 80-jährige Erni Mangold, deren so kontrolliert und dominant auftretende Figur auch in einem überaus zwielichtigen Verhältnis zu Hannah und Anna steht, und Walfriede Schmitt, die in Kombination mit einem lustigen Günther Kaufmann für kurze Frist den Wohlfühlfaktor in Hannahs unsicherer Welt bildet.
Xaver Hutter als triebhaft gewalttätiger Ehemann, Gabriel Barylli als empfindsamer Bildungsbürger, Martin Wuttke als leicht schmieriger Geheimdienstfunktionär sowie Peter Fitz als steinern auftretender Siedlungspatriarch ergänzen das brillante Ensemble. Verschiedene Formen von Macht werden durch diese Figuren verkörpert: rohe Gewalt, kultivierte Aristokratie, Intrigantentum und autoritäre Traditionsverkörperung. Demokratisch bestimmte Selbstverwaltung sieht man immer nur als zartes Pflänzchen, kurz davor, zertreten zu werden. Bis die Eskalation von außen und innen zugleich naht.
Das Thema des Siedlungskomplexes, dessen Grundlage die futuristischen Wohntürme von Alt-Erlaa in der Nähe von Wien bilden, findet sich schon in David Cronenbergs "Shivers". Auch hier erliegt ein kleines Utopia mit seinen ganzen Hoffnungen, seiner erträumten Modellhaftigkeit dem Umsichgreifen des in glibbriger Form fleischgewordenen Triebs, der binnen Kurzem die Krise herbeiführt - während in "Weiße Lilien" soziale Verwerfungen, skrupellose Machenschaften und nicht zuletzt der Druck einer offenbar immer chaotischer werdenden Außenwelt für ein tumultuöses Schlussszenario sorgen.
In vielen Szenen, ja auch in ganzen Motiven, in Bildern und Stimmungen, mag "Weiße Lilien" seine Einflüsse haben und Zitate anbringen. Aber alles in allem hat Frosch hier seine eigene Mischung aus positiver und negativer Utopie geschaffen, die thrillerhaft spannend, aber auch fantasiereich und anregend geraten ist. Ein Film, den zu entdecken sich mehr als lohnt.
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Den Film würde ich zwar nicht als "Europloitation" bezeichnen, aber ich musste jetzt einfach mal etwas Werbung dafür machen.