Das Netz der 1000 Augen
Le secret / Il segreto
Frankreich / Italien 1974
Regie: Robert Enrico
Jean-Louis Trintignant, Marlène Jobert, Philippe Noiret, Jean-François Adam, Solange Pradel, Antoine Saint - John, Michel Delahaye, Maurice Vallier, Frédéric Santaya, Jean-Claude Fal, Patrice Melennec, Pierre Danny
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OFDB
Italo-Cinema.de (Frank Faltin)
Paranoia. Das Gefühl, verfolgt zu werden. Hinter jedem Zufall und jedem dummen Ereignis steckt Absicht. SIE wollen einem habhaft werden. SIE wollen den gebeutelten Menschen fangen einsperren foltern töten. War da gerade ein Geräusch? Sie kommen. Kommen SIE?
David geht es so. David ist aus einem Gefängnis entflohen, in dem er eingesperrt und gefoltert wurde, weil er, wie er sagt, etwas gesehen hat, was er nicht hätte sehen dürfen. David flieht durch das Land und kommt bei Thomas und Julia unter, einem Paar, das auf einem einsamen Hof irgendwo in den Cevennen im Südwesten Frankreichs lebt. Er ist Schriftsteller, sie bildhauert, und das Leben könnte schön sein. Schön und ruhig. Und vielleicht ein wenig langweilig. Aber da ist David, und David weckt Gefühle und Gedanken, die lange verschüttet zu sein scheinen. Thomas ist eigentlich ein abenteuerlustiger welcher, und er ist sofort bereit, sich mit Haut und Haaren der Hilfe des fremden Mannes zu verschreiben. Es lockt die weite Welt, die Aufregung, das Ungewisse. Staatliche Institutionen verfolgen einen Mann, und was ist schon der Staat für jemanden, der weitgehend autark in der Einöde lebt? Julia sieht das anders, Julia hat sich in diesem ruhigen und einsamen Leben mit dem Mann den sie liebt wohlig eingerichtet. Aber was bleibt ihr übrig? Sie geht mit David und Thomas raus aus der Idylle, sie wollen nach Spanien, nachdem das Militär sie bereits eingekesselt hatte und auf ihrem eigenen Grund und Boden auf sie geschossen hat. Ein Versehen, natürlich. Die Straßensperren auf dem Weg zur Grenze wirken sehr zielgerichtet, das Boot, mit dem sie nach Spanien wollten, ist zerstört, und es stellt sich die Frage, ob David der entlaufene Psychopath ist, als der er von der Presse geschildert wird, oder ob er wirklich ein Geheimnis kennt, dessen Wissen sein Leben und das Leben aller ihm nahestehenden Menschen gefährdet. Thomas ist auf jeden Fall entschlossen, das Abenteuer bis zum Schluss durchzustehen. Und nach dem ersten Toten ist Julia entschlossen, das Abenteuer zu beenden: Sie schreibt ihrem Bruder wo sie sich befindet …
Paranoia. Das Gefühl, verfolgt zu werden. Warum muss das Militär genau jetzt auf dem Hof von Thomas Krieg spielen? Warum ist das Boot kaputt? Was macht der Waldarbeiter dort am Strand? Warum sind die Reifen des Transporters alle aufgeschlitzt? OK, letzteres weiß der Zuschauer, im Gegensatz zu Thomas und David, aber es gibt wirklich der merkwürdigen Zufälle einige, und DAS NETZ DER 1000 AUGEN baut geschickt eine Atmosphäre der Unsicherheit auf, in der man nie weiß ob oder ob nicht. David könnte tatsächlich, so wie die Zeitung schreibt ein netter und harmloser Mann sein, der nur dann zur Waffe greift wenn er sich in die Enge getrieben fühlt. Doch Thomas‘ Pistole hat er sich mit bemerkenswerter Sicherheit und Schnelligkeit angeeignet. Und seine Angst scheint echt, genauso wie der Wunsch, seinen Peinigern nicht lebendig in die Hände zu fallen.
Das Gefühl, verfolgt zu werden. Das Auto hinter dem eigenen, wie lange fährt das da schon? Der Film spielt in genau dieser Stimmung der Unsicherheit und Angst, und zieht den Zuschauer damit langsam und zielsicher in ein Netz, in dem er sich nicht mehr bewegen kann, und nur noch auf die Erlösung wartet. Die Erlösung in Form der Verfolger. Aber DAS NETZ DER 1000 AUGEN hat noch eine andere Ebene, eine vielschichtigere und politische Ebene, deren Erkenntnis ich dem hervorragenden Text vom Bretzelburger zu verdanken habe, der mich tatsächlich erst auf diese Ebene stoßen musste.
Mitte der 70er-Jahre war das gesellschaftspolitische Klima in Europa noch ein ganz anderes als heute. Menschen diskutierten über Politik, sie stritten darüber, sie mischten sich ein. Und einige gingen in den Untergrund und versuchten, mit Waffengewalt die bestehende Gesellschaft zu verändern. Es gab viele, die diesen letzten Schritt der Aufgabe der bürgerlichen Existenz nicht gehen wollten oder konnten, die aber den Kämpfern im Untergrund durchaus wohlwollend gegenüber standen. Die Wohnungen oder Autos bereitstellten, und heimlich eine bestimmte Art der Opposition zum Staat aufbauten. Sympathisanten nannte man diese Menschen damals, weil sie den Ideen der in den Untergrund abgetauchten gegenüber aufgeschlossen waren.
DAS NETZ DER 1000 AUGEN stellt nun drei archetypische Menschen jener Zeit in Relation. Da ist David, der Mann auf der Flucht. Möglicherweise ein Terrorist, möglicherweise ein Geistesgestörter, vielleicht auch etwas dazwischen oder jemand ganz anderes. Erst die allerletzen Bilder des Films werden uns darüber Aufschluss geben. Dann ist da Thomas, der dem Flüchtenden Unterschlupf und Logistik zur Verfügung stellt. Der Sympathisant, der Verfolgten hilft, auch wenn deren Motive völlig unklar sind. Und natürlich Julia, die Bürgerliche, die sich von der eventuellen Gesetzlosigkeit zwar kurzzeitig angezogen fühlt, aber beim genaueren Nachdenken, und vor allem beim Verlassen ihrer Komfortzone (so würde man es heute ausdrücken) in scharfe Opposition zu dem Verfolgten geht.
Somit stellt der Film ein filmüblich komprimiertes Modell der europäischen Gesellschaft der Mitt-70er dar, und wie von so vielen Linken damals gefühlt, steht dieser Gesellschaft der Staat als namen- und konturlose Bedrohung gegenüber. Ein Moloch, der seine Bürger anscheinend bedroht und im Bedarfsfall verfolgt. Sie möglicherweise grundlos verfolgt, nur weil sie … Eine andere Meinung haben? Sich einmischen? Eine andere Vorstellung von Leben haben als es Staat und Gesellschaft vorgeben?
Robert Enrico zeichnet ein genaues Bild dieser Gesellschaft und dieser Zeit, heruntergebrochen auf drei Menschen und eine unbekannte Bedrohung. Und wenn man diese Ebene erkennt, dann zieht sich der Magen des Zuschauers schnell zusammen. Dann wird aus dem klaustrophoben Paranoiathriller, dessen Erzählrichtung lange Zeit so unklar erscheint, schnell eine bittere Anklage auf die Mechanismen der damaligen(?) Zeit, in Verbindung mit einer Analyse der Gesellschaft und ihrer Befindlichkeiten. Und dann schmerzt DAS NETZ DER 1000 AUGEN erst so richtig, wenn man sich heute(!) nach der Sichtung eines 50 Jahre alten Films fragt, inwieweit diese Mechanismen und Befindlichkeiten sich denn geändert haben. Oder auch nicht …
http://bretzelburger.blogspot.com/2011/ ... z-der.html
6/10