Zirneklis / Spider - Vasili Mass (1991)
Verfasst: Fr 21. Sep 2012, 16:01
Regie: Vasili Mass
Herstellungsland: Lettland
Entstehungsjahr: 1991
Darsteller: Romualds Ancans, Aurelija Anuzhite, Saulius Balandis, Liubomiras Lauciavicius, Mirdza Martinsone, Algirdas Paulavicius
Mit ZIRNEKLIS (eingedeutscht wohl so viel wie "Die Spinne") liegt mir heute ein lettischer Spielfilm von 1991 vor, auf den ich kürzlich zufällig stieß, als mir ein Rohling in die Hände fiel, auf dem man mir einst Kuriositäten aus den ehemaligen Ostblockländern brannte. Dass es sich bei ZIRNEKLIS tatsächlich um eine Kuriosität handelt, kann ich nun nur euphorisch bestätigen. Dieser Film ist sicherlich kein Meisterwerk, aber empfehlen kann ich ihn dennoch uneingeschränkt, da die beiden Aspekte, aus denen er sich hauptsächlich speist, in ihrer spezifischen Verflechtung für mich bislang ungesehen waren.
ZIRNEKLIS erinnert von seiner "Geschichte" her, falls man den fragmentarischen Plot, der hauptsächlich aus Traum- und Stimmungsszenen besteht, denn nun wirklich so nennen will, und auch in seiner Inszenierungsweise stark an den tschechischen Kultfilm VALERIE A TÝDEN DIVU von Jaromil Jires. Auch in ZIRNEKLIS steht ein junges Mädchen (mit Namen Vita!) im Mittelpunkt, das gerade seine erste Monatsblutung ereilte und in einer Welt lebt, in der sie den sie umgebenden Erwachsenen oftmals wie unlösbaren Rätseln gegenübersteht. In dieser emotional sowieso schon aufregenden Zeit bringt Vitas Schulpriester sie nun mit einem ominösen Maler zusammen, der darauf besteht, sie unbedingt als Modell für sein nächstes Bild, eine Mariendarstellung, zu gewinnen. Der Priester hat nichts einzuwenden, Vitas Mutter erst recht nicht, und so findet sich das Mädchen alsbald in einem unheimlichen Atelier wieder, wo indes schnell klar wird, dass der Künstler mehr als nur ein hübsches Model in ihr sucht. Vor seinen sexuellen Avancen und beunruhigenden Visionen, in denen sie glaubt, seine Kunstwerke, die an die garstigsten Höllenvisionen eines Hieronymus Bosch erinnern, würden zum Leben erwachen, flüchtet sie sich zurück nach Hause, wo ihre zerrüttelte Seele aber noch lange nicht zur Ruhe kommt. Vita fühlt sich verfolgt von Spinnen, die sich allesamt in den grausigen Maler verwandeln, der ihr nach Leben und/oder Unschuld trachtet. Der Arzt, zu dem ihre besorgte Mutter sie bringt, diagnostiziert einzig ihre überreizte Psyche und rät zu Ruhe und Erholung. Da kommt der Mutter die Idee, ihre Tochter zu Verwandten nach Riga zu schicken. Dort, auf dem Land, unweit des Meeres in einem prächtigen Herrenhaus, scheint ihr der perfekte Ort, Vita wieder zur Vernunft zu bringen.
Von dieser Story ausgehend entwickelt sich der Film zeitgleich in zwei recht konträre Richtungen. Zum einen ist er verträumt und verspielt wie VALERIE in ihren besten Momenten. Regisseur Mass versteht es, berückende Landschaftsaufnahmen zu photographieren, er filmt seine Schauspieler oft im Gegenlicht, was den Bildern die Aura von Photos vergleicht, die kurz vorm Verbleichen oder Sich-Auflösen stehen, er lässt sich alle Zeit der Welt, um Vita in stummen, rein über ihre Atmosphäre funktionierenden Szenen durch Wälder spazieren zu lassen, sie in ein Zwiegespräch mit ihrem eigenen Spiegelbild zu versetzen oder ergötzt sich einfach daran, sie bei irgendwelchen Kleinigkeiten zu beobachten. ZIRNEKLIS ist darin ein poetischer Film, Lyrik in Bildern, die nur selten unter ihrem wohl nicht allzu hohen Budget leiden, da Mass es zudem versteht, aus den wenigen Mitteln ein Maximum an Qualität zu schöpfen. So wie VALERIE lebt auch Vita in ihrer eigenen Welt, von der aus man gemeinsam mit ihr die der Erwachsenen in einer kindlich-verzerrten, überhöhten Perspektive wahrnimmt. Wie in jeder coming-of-age-Geschichte ist die subjektive Sicht der Heldin die alleinige relevante, wodurch jeder Gegenstand automatisch den Nimbus eines Symbols erhält, und die Grenzen zwischen Realität und Traum konsequent und permanent verwischen.
ZIRNEKLIS, in seinem Kern ein Märchenfilm, der von dem Machtkampf zwischen guten und bösen Mächten um den Körper oder die Seele Vitas handelt (repräsentiert durch den mysteriösen Maler, der sich zeitweise in ein Spinnenungetüm verwandelt, und den lauteren Priester, der Vita immer wieder in letzter Sekunde aus dessen Fängen rettet), hat allerdings eine ganze Reihe von Szenen zu bieten, die ihn nicht unbedingt dafür prädestinieren, dass ich ihn meinen Kindern irgendwann einmal zwischen CINDERELLA und DAS SINGENDE, KLINGENDE BÄUMCHEN zeigen würde. Wo VALERIE stellenweise schon sehr düster und horrorhaft anmutet, dabei aber stets stimmungsvoll und dezent bleibt, muss es für Mass mehr als einmal der Holzhammer sein, mit dem er seinem Zuschauer derart heftig eins über die Stirn zieht, dass zumindest ich mich partiell in einen späteren Fulci-Film geraten fühlte. So erlebt Vita Traumszenen, in denen Mitglieder ihrer Familie von was auch immer regelrecht zerfressen werden: ihre Körper lösen sich in widerlichen Schleim auf, dass es nur so zischt und blubbert, oder sie zerplatzen gleich ganz. Gerade in diesen völlig übertriebenen, graphischen Szenen, die in enormem Widerspruch zum traumwandlerischen Rest stehen, meinte ich doch den billigeren Italo-Horror der späten 80er, frühen 90er wiederzuerkennen. ZIRNEKLIS hat dann diese grell-bunte Luigi-Cozzi-Ästhetik, diese Lust an sich zersetzenden Körpern, wie sie Fulci in manchem Spätwerk bekundete, mitunter auch die Surrealität von unbekannteren Werken wie Gigagnis IL NIDO DEL RAGNO. Mass lässt es sich nicht mal nehmen, in einer weiteren Taumszene seine Hauptdarstellerin mit einem riesigen Spinnenmonstrum kopulieren lassen (während ich nur spekulieren kann, ob das *tatsächlich* eine Anspielung auf meinen liebsten Film, nämlich Zulawskis POSSESSION, sein soll). Hinzukommt, dass ZIRNEKLIS sich für seine Handlung, wie bereits angedeutet, kaum schert. Alles, was außerhalb von Vitas Kopf passiert, ist nur bloßes Beiwerk, eine zufriedenstellende Lösung im Finale, die den vorherigen Film auch nur halbwegs erklären würde, fehlt gänzlich, und damit reiht sich ZIRNEKLIS auch hiermit in jene Gruppe italienischer Horrorfilme ein, die ich so sehr schätze, weil sie keiner Logik folgen und im Grunde konzentriertesten Surrealismus bieten.
Dennoch muss Kritik sein, und die schreit nach einem weiteren Vergleich mit VALERIE. Während dieser ganz klar auch ein gesellschaftskritisches Ziel verfolgt, ein durchaus politischer Film ist, entstanden als letzter Ausläufer des niedergeschmetterten Prager Filmsfrühlings, entpuppt sich ZIRNEKLIS unterm Strich als recht konservatives, repressives Werk. Valerie, vom Beichtvater belästigt und beinahe vergewaltigt, und Vita, die in ihrem Pfarrer einen Beschützer vor den dämonischen Mächten, die sie bedrohen, hat, stehen an zwei entgegengesetzen Zimmerecken und finden eigentlich nur auf optischer, nicht auf inhaltlicher Ebene zueinander. Entsprechend endet ZIRNEKLIS wie ein kitschiger Sonntagabendfilm der Öffentlich-Rechtlichen. Vita und ihr Cousin, in den sie sich inzwischen verliebte, sind vereint und sie können dem Sonnenuntergang entgegenschlendern. Es ist zumindest interessant, dass ein Film, der offenkundig so sehr auf Konventionen pfeift und etwas wahrlich Eigenständiges liefert, sich letztlich brav bis ins Mark erweist, und sich ohne große Probleme als pro-katholisches Statement lesen lässt, in dem Vita nicht durch wilde Sexphantasien mit Tierwesen ihre Erfüllung findet, sondern einzig in der monogamen Beziehung zu einem Menschenmann.