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Die Beschissenheit der Dinge - Felix Van Groeningen (2009)
Verfasst: Di 1. Jan 2013, 22:32
von buxtebrawler
Originaltitel: De helaasheid der dingen
Herstellungsland: Belgien / Niederlande (2009)
Regie: Felix Van Groeningen
Darsteller: Kenneth Vanbaeden, Valentijn Dhaenens, Koen De Graeve, Wouter Hendrickx, Johan Heldenbergh, Bert Haelvoet, Gilda De Bal, Natali Broods, Pauline Grossen, Sofie Palmers, Guy Dermul, Jos Geens u. A.
In sehr bewegten Zeiten der Achtzigerjahre verbringt ein 13 Jahre alter Junge seine Jugend damit nach seinem Platz in der Familie zu suchen und dabei lebt er zusammen mit seinem Vater und dessen drei Brüdern bei seiner Großmutter. Die liebe Oma hat ihre Söhne nämlich bei sich aufgenommen, nachdem diese es alle fertigbrachten, ihre Ehen zu ruinieren. Die heruntergekommene Wohnung in diesem Männerhaushalt verhinderte es auch nicht, dass jeden Tag Parties gefeiert werden und die Frauen Tag und Nacht ein und ausgehen...
Quelle:
www.ofdb.de
Re: Die Beschissenheit der Dinge - Felix Van Groeningen (2009)
Verfasst: Di 1. Jan 2013, 22:33
von buxtebrawler
Basierend auf dem gleichnamigen, mir unbekannten Roman erschien im Jahre 2009 mit „Die Beschissenheit der Dinge“ der zweite Spielfilm des Regisseurs Felix Van Groeningen in belgisch-niederländischer Koproduktion.
Der 13-jährige Gunther (Kenneth Vanbaeden) wächst in den 1980ern in einem kleinen flämischen Ort bei seinem alkoholkranken Vater (Koen De Graeve, „Loft – Tödliche Affären“), dessen drei Brüdern und seiner für alle so weit es geht sorgenden Großmutter auf. Wilde Partys und Besäufnisse sind ebenso an der Tagesordnung wie Gewalt.
Der Belgier Van Groeningen lässt in seiner gewagten Mischung aus Sozialdrama, Milieustudie und Tragikomödie den erwachsenen, sich als Schriftsteller verdingenden und kurz vor einer (ungewollten) Familiengründung stehenden Gunther (als Erwachsener: Valentijn Dhaenens) zurückblicken auf die wilden 1980er, in denen er unter o.g. Umständen aufwuchs und in die Pubertät kam. Formal besteht der Film in erster Linie aus Rückblenden, hin und wieder unterbrochen von Gunthers Gegenwart. „Die Beschissenheit der Dinge“ kann anfänglich durchaus noch mit leichter Kost im Stile von Prollkomödien à la „Flodders“ verwechselt werden und scheint der ultimative Trinkerfilm zu sein, entfaltet jedoch schon bald seine ganze Ambivalenz: So ist es zwar durchaus amüsant, den Männern dabei zuzuschauen, wie sie Roy Orbison verehren, nackt Fahrradrennen gewinnen und um keine Party verlegen sind – und immerhin haben sie anderen Trinkern viel voraus, nämlich eine Familie, die allen Umständen zum Trotz zusammenhält. Andererseits wird aber auch die Schattenseite deutlich, die ein sozialverträgliches Aufwachsen Gunthers verhindert, zu handfesten Konflikten zwischen Gunther und seinem immer kränker werdenden Vater führt und der Familie schließlich Ärger mit dem Jugendamt einhandelt. Für Menschen, die im Alkohol ihren Kummer ertränken und irgendwann gar nicht mehr ohne können, ist das Leben eben keine einzige, fortdauernde Party – auch, wenn es auf den ersten Blick vielleicht danach aussehen mag. Fühlt man sich in seinem letzten bisschen Stolz, seiner „Familienehre“ angegriffen und verletzt, wenn Kritik laut wird und sich Außenstehende einmischen, explodieren diese menschlichen Zeitbomben.
Der erwachsene Gunther hadert noch immer mit seiner Sozialisation unter seinem mittlerweile verstorbenen Vater und seiner inzwischen dementen Großmutter, der er zu viel Dank verpflichtet ist. Van Groeningen zeigt behutsam und sensibel die Auswirkungen einer solchen Kindheit auf das Leben als Erwachsener und konkret den traumatische Anteil daran, der Gunther anders über eigene Beziehungen und eine eigene Familie denken lässt, als es zu entsprechenden Wendepunkten seines Lebens kommt. Die Fesseln der Vergangenheit abstreifen, Bindungen und Verpflichtungen eingehen, Verantwortung übernehmen? Gar nicht so einfach. Die Erzählweise fasziniert und fesselt enorm, da der Drahtseilakt gelang, aufgrund starker komödiantischer Momente zusammen mit den vier Brüdern über das Leben lachen zu können, wie sie es im Suff zu tun pflegten, und nichts ernstzunehmen. Man fühlt sich unweigerlich in eine gesellige Kneipenrunde versetzt oder an ähnliche Momente seines Lebens erinnert. Die einzelnen Charaktere werden nicht vorgeführt und ins Lächerliche gezogen oder abgewatscht. Auch in den absurden bis schmerzhaften Momenten wahrt „Die Beschissenheit der Dinge“ eine gewisse respektvolle Distanz, statt mit Klischees, Gut/Böse-Schemata und Eindimensionalität zu arbeiten, was das Ergebnis auf ärgerliche Weise verflacht und zu einem überflüssigen moralischen Zeigefinger gemacht hätte.
Die in den 1980ern spielenden Szenen erscheinen farblich abgeblasst, fast, als würde man sich heutzutage auf nicht sonderlich gut gealtertem Material gedrehte Filme jener Dekade ansehen. Die Schauspieler sind fast allesamt derbe Charakterfressen, die schlichtweg perfekt in ihre Rollen passen und denen zuzusehen eine irrsinnige Freude bereitet. Ambiente, Einrichtungen und Mode wurden recht detailgetreu nachempfunden und es herrscht ein wunderbarer Vokuhila-Overkill, der nur im ersten Moment eigenartig wirkt – schnell hat man sich als Zuschauer gefangen nehmen lassen von der 80er-Ästhetik, zu der diese Frisur ganz selbstverständlich dazugehörte. Die insbesondere den Gegenwartsbildern eigene Melancholie, stark gefördert von traurigen Klaviermelodien, läuft nie Gefahr, in kitschige Gefilde abzugleiten und schließt den Kreis zum Familienidol Roy Orbison, zu dessen Repertoire nicht wenige melancholische Rock- und Pop-Songs gehörten.
Fazit: Technisch einwandfreies, schauspielerisch grandioses, die gesamte Bandbreite zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt abdeckendes, harsch realistisches Stück aus dem Leben, das sich an Überlebende der Unterschicht-Untiefen der 1980er richtet, aber auch parabelartig auf viele andere Biographien und Situationen übertragen werden kann. Ein psychologisch intelligentes und ebensoviel Freude wie Kummer bereitendes Stück europäischen Kinos, in dem sich viele Zuschauer wiedererkennen dürften. Zugleich ein Film, der zunächst noch unbemerkt so sensibel erzählt wird, dass er lange nachklingt und vielleicht dem einen oder anderen Dämon der Vergangenheit ein neues Antlitz verleiht, mit dem es sich besser fertigwerden lässt.
Re: Die Beschissenheit der Dinge - Felix Van Groeningen (2009)
Verfasst: Mi 2. Jan 2013, 09:37
von Arkadin
Den wollte ich auch noch gucken und nach Deiner Besprechung umso mehr.
buxtebrawler hat geschrieben: in einem kleinen flämischen Ort
Das müsste aber in Flandern spielen.
Re: Die Beschissenheit der Dinge - Felix Van Groeningen (2009)
Verfasst: Mi 2. Jan 2013, 10:59
von buxtebrawler
Arkadin hat geschrieben:Das müsste aber in Flandern spielen.
Keine Ahnung, in der Wikipedia steht was von flämisch.
Re: Die Beschissenheit der Dinge - Felix Van Groeningen (2009)
Verfasst: Mi 2. Jan 2013, 12:47
von buxtebrawler
buxtebrawler hat geschrieben:Arkadin hat geschrieben:Das müsste aber in Flandern spielen.
Keine Ahnung, in der Wikipedia steht was von flämisch.
Nachtrag: Flandern und die flämische Region scheinen ein- und dasselbe zu sein.
Re: Die Beschissenheit der Dinge - Felix Van Groeningen (2009)
Verfasst: Mi 2. Jan 2013, 13:45
von Arkadin
buxtebrawler hat geschrieben:buxtebrawler hat geschrieben:Arkadin hat geschrieben:Das müsste aber in Flandern spielen.
Keine Ahnung, in der Wikipedia steht was von flämisch.
Nachtrag: Flandern und die flämische Region scheinen ein- und dasselbe zu sein.
Hast recht. Hatte ich mit Wallonien verwechselt. Ich war ja im Sommer in Belgien/Flandern und da sind die DVDs in den Geschäften ganz streng danach getrennt, ob die aus Flandern oder Wallonien kommen, und der "Beschissenheit.." stand immer unter Flandern und die Brüder Dardenne unter Wallonien.
Re: Die Beschissenheit der Dinge - Felix Van Groeningen (2009)
Verfasst: Mo 14. Jan 2013, 16:09
von untot
Wunderbarer Film, der einerseits trostloser und tragischer nicht sein könnte, auf der anderen Seite aber so warmherzig und voll von Leben ist, das es einem vor Rührung die Tränen in die Augen treibt.
Das hier ist eine von den Perlen die man nur sehr selten findet.
8/10