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Teorema - Geometrie der Liebe - Pier Paolo Pasolini (1968)

Verfasst: Mi 6. Feb 2013, 11:45
von jogiwan
Teorema - Geometrie der Liebe

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Originaltitel: Teorema

Alternativtitel: Theorem

Herstellungsland: Italien / 1968

Regie: Pier Paolo Pasolini

Darsteller: Silvana Mangano, Terence Stamp, Massimo Girotti, Anne Wiazemsky, Laura Betti

Story:

in attraktiver junger Mann tritt in das Leben einer Unternehmerfamilie und hat nacheinander mit allen Mitgliedern des Hauses eine sexuelle Beziehung. Mit dem tiefreligiösen Dienstmädchen, dem sensiblen Sohn, der sexuell frustrierten Mutter, der verängstigten Tochter und dem innerlich zerrissenen Vater. Für jeden ist es die Offenbarung und als er das Haus verlässt - so plötzlich und mysteriös wie er kam - hat er alle(s) verändert und hinterlässt eine große Leere. Die Mutter flüchtet in sexuelle Abenteuer mit jungen Männern, der Sohn verlässt die Familie, um Künstler zu werden, die Tochter versinkt in schwere Depression und der Vater befreit sich von allem materiellen Dingen, reißt sich die Kleider vom Leib und wandert nackt in die Wildnis. Das Dienstmädchen kehrt in ihr Heimatdorf zurück - und vollbringt dort ein Wunder... (quelle: dvd-cover)

Re: Teorema - Geometrie der Liebe - Pier Paolo Pasolini (1968)

Verfasst: Mi 6. Feb 2013, 11:51
von jogiwan
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Ein von einem überschwänglichen Postboten (Ninetto Davoli) überbrachtes Telegramm kündigt die Ankunft eines Fremden an und wirbelt daraufhin das Leben des Fabrikanten Paolo (Massimo Girotti) und seiner Familie gehörig durcheinander. Der charismatische Fremde verbringt die sommerlichen Tage in den geräumigen Häusern der angesehenen und wohlhabenden Familie mit dem Lesen von Büchern, rettet die lebensmüde und tiefreligiöse Hausangestellte Emilia (Laura Betti) vor dem Freitod, verführt diese und nacheinander auch die restlichen Mitglieder der angesehenen Familie. Als der mysteriöse Mann eines Tages wieder abreist, hinterlässt er eine Leere, die für die Zurückgebliebenen zur Qual wird.

Emilia verlässt die Familie um in ihrer alten Heimat religiöse Wunder zu verbringen, während die Tochter Odetta (Anne Wiazemsky) in einem Starrkrampf verfällt und in der Psychiatrie eingeliefert wird. Der Sohn Pietro (Andrés José Cruz Soublette) versucht sein Glück als abstrakter und selbst-geißelnder Action-Painter, während Mutter Lucia (Silvana Mangano), die aus ihrer gutbürgerlichen Lethargie gerissen wurde, ihr Glück in wahllosen Männerbekanntschaften sucht. Am schwersten trifft der Verlust jedoch Paolo, der tief in seiner Grundfesten erschüttert seine Fabrik den Arbeitern schenkt, sich am Mailänder Hauptbahnhof seiner Kleider entledigt und sich nackt auf den Weg durch eine spirituelle Reise in die Wüste aufmacht.

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Der am 2. November 1975 unter mysteriösen und nie gänzlich geklärten Umständen ermordete Regisseur, Schriftsteller und Publizist Pier Paolo Pasolini war Zeit seines Lebens eine umstrittene Person, die mit seinem kontroversen Schaffen gleich mehreren einflussreichen Mächten im Staat Italien ein Dorn im Auge waren. In seinen Filmen, Romanen und Publikationen beschäftigte sich der offen homosexuell lebende Mann mit Themen wie Religion, politische Macht, Kapitalismus und dem gutsituierte und bornierte Bürgertum, dass er nach eigener Aussage abgrundtief verabscheute und dem er mit recht drastischen Werken einen Spiegel vorhielt.

Neben seinem wohl bekanntesten Werk „Die 120 Tage von Sodom“, in dem er in schwer erträglichen Bildern eindringlich den Missbrauch von Gewalt durch staatliche und kirchliche Würdenträger dokumentiert und wohl nicht wenigen Zuschauern die Lust auf das weitere Output des strittigen Regisseurs verleidet hat, bietet die Filmografie Pasolinis aber noch viele weitere Werke, deren (Wieder-)Entdeckung sich lohnt. Der rätselhafte „Teorema“, in dem Pasolini den Kosmos einer gutbürgerlichen Familie in sperriger Erzählweise analysiert und auseinandernimmt ist nicht minder provokativ ausgefallen und konfrontiert den Zuschauer zwangsläufig mit Themen wie Religion, Sexualität und Erlösung, die den Zuschauer weit länger beschäftigen, als der in der schönen Bildern erzählte Streifen andauert.

Das Werk aus dem Jahr 1968 beginnt mit dokumentarisch anmutenden Bildern und ein Interviewer stellt den versammelten Arbeitern einer Mailänder Fabrik die Frage, was sie davon halten würden, wenn ihnen der Kapitalist die Firma schenken würde. Dieser erhält später in seinem Heim den Besuch von einem charismatischen Besucher, mit dessen Ankunft der Film von Sepia-Optik zur Farbe wechselt. Weder Name, Herkunft noch Ziel des mysteriösen Besuchers werden näher erläutert und dennoch verändert die Zeit, die der gebildete Mensch im familiären Umfeld des Fabrikbesitzers verbringt, das Leben aller Beteiligten auf recht drastische Weise.

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Der Streifen ist dabei recht sperrig erzählt, metaphorisch und strotzt vor Symbolik, die Personen und Handlung auch vielschichtige Weise interpretierbar machen. Jede der steht wohl sinnbildlich für eine bestimmte Bevölkerungsschicht, deren Leben, Streben und Wertvorstellungen durch die Gesellschaft in der sie sich bewegen geformt wurde und durch den Einfluss des mysteriösen Mannes eine unumkehrbare Wandlung erfahren. Ein Zurück scheint es für die Figuren auch nicht zu geben und wer sich erst einmal innerlich gegen die Normen der Gesellschaft gewandt hat, scheint es in selbiger auch keinen Platz mehr zu geben und der Betroffene endet wahlweise in der Isolation oder Psychiatrie, sucht Zerstreuung oder auf sonstige Weise nach einer Möglichkeit, sein Leben weiter zu führen.

Es dürften schon sehr viele persönliche Einflüsse und Anschauungen in dem Werk gelandet sein, dass Pasolini zuerst auch für die Theaterbühne konzipierte, später in Romanform und letztendlich auf die große Leinwand brachte. In Venedig uraufgeführt wurde das Werk mit seiner scheinbar hypnotischen Erzählweise auch rasch zur Zielscheibe von kirchlicher und staatlicher Kritik und war zwischenzeitlich sogar in seinem Heimatland verboten. Dabei ist der Streifen alles andere als plakativ und die Dialog-arme Inszenierung, in denen Blicke, Gesten und die Räume in denen sie sich bewegen, mehr über die Figuren aussagen, als sie selbst, wirken auf den ersten Blick wenig provokant.

Trotzdem verfehlt „Teorema“ seine Wirkung nicht und da der Streifen auf grelle Effekte nahezu verzichtet und auch das Thema Homosexualität zwar andeutet, aber nicht gezeigt wird, nimmt Pasolini etwaigen Kritikern auch rasch den Wind aus den Segeln. Auch die Thematik der religiösen Wunder wird ohne jegliche Form der Wertung gezeigt und was man in der Figur des Besuchers zu erkennen glaubt, bleibt dann ebenfalls dem jeweiligen Zuschauer überlassen und vom Laster, Wissen und Erleuchtung bis hin zum wiedergekehrten Heiland ist wohl jegliche Interpretation denkbar.

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Darstellerisch ist der Streifen dann auch sehr gut und der englische Darsteller Terence Stamp, der im gleichen Jahr auch in Fellinis „Toby Dammit“ Beitrag zum Episoden-Horror „Außergewöhnliche Geschichten“ zu sehen war, agiert als zentrale Figur auch sehr charismatisch. Nicht minder intensiv ist die Darstellung von Laura Betti als Emilia, die scheinbar stoisch ihr groteskes Schicksal erträgt und ebenfalls grandios sind auch Silvana Mangano als gelangweilte Dame des Hauses und Massimo Girotti, der gegen Ende seine innere Zerrissenheit und Hilflosigkeit auch entsprechend glaubwürdig verkörpert.

Das DVD-Doppelpack aus dem Hause CMV-Laservision ist ebenfalls sehr schick geraten und bringt das anspruchsvolle Werk für die aufgeschlossene Arthouse-Fraktion in guter Bildqualität. Der Ton ist vielleicht nicht gänzlich geglückt und bietet auf der deutschen Tonspur bzw. in einer kurzen Szene einen Musik-Aussetzer, was zwar etwas ärgerlich ist, aber Filmfans im Gegensatz zum Inhalt des Filmes aber sicher keine schlaflosen Nächte bereiten sollte. Neben einer hübschen Verpackung in Leder-Optik und samtigen Innenleben gibt es auch noch ein Booklet mit kurzem Text von Silvia Szymanski.

Auf der zweiten Scheibe finden sich neben einer Trailershow zu weiteren Filmen aus der anspruchsvollen Ecke des Berliner Labels zwei Kurzfilme der italienischen Dokumentarfilmerin Roberto Torre aus dem Jahre 2009, die sich direkt und indirekt mit Regisseur beschäftigen. In „Die letzte Nacht des Pier Paolo Pasolini“ interviewt die Regisseurin den für die Tat verurteilen Mörder und damals noch minderjährigen Stricher Pino Pelosi, der in den vergangenen Jahren bereits mehrfach seine ursprüngliche Aussage geändert hat und abermals die These des Auftragsmordes untermauert und zwei mittlerweile verstorbene Personen der Tat beschuldigt.

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Die zweite Kurz-Doku mit dem Titel „I Tiburtino Terzo“ handelt hingegen über das Leben von Straßenjungs, schweren Kalibern und einem Stricher aus dem Problemviertel am Stadtrand von Rom aus dem der Mörder Pelosi stammt, die in einzelnen und unkommentierten Statements ihr bewegtes Leben beschreiben. Dieses ist eher mäßig interessant und erst gegen Ende macht die ganze Sache eher ungelenk einen Schwenk in Richtung Pasolini, wenn Regisseurin Torre ihre Interview-Partner über Pasolini befragt. Da es sich zumeist um jugendliche Interviewpartner handelt, sind auch die Antworten wenig erschöpfend, sodass diese Doku insgesamt eher nicht so der Bringer ist.

„Teorema“ gilt nicht nur als Pasolinis persönlichstes und bestes Werk, sondern ist auch ein interessantes und verfilmtes Rätsel voller Symbolik, eindrucksvoller Momente und grandioser Schauspieler, die den Zuschauer im Verlauf der immer grotesker werdenden Handlung zwangsläufig mit existenziellen Fragen konfrontiert. Obwohl wenige Worte gesprochen werden und die Handlung im Grunde alles andere als zugänglich ist, wirkt jede einzelne Szene wohlüberlegt, durchkomponiert und sinnvoll und bietet ein Gesamtergebnis, das man als Fan derartiger Werke keinesfalls entgehen lassen sollte. Pasolinis Streifen ist jedenfalls grandios und die VÖ ist im Großen und Ganzen ebenfalls schön ausgefallen, sodass diese trotz kleinerem Tonfehler und dem eher durchschnittlichen Bonusmaterial und leicht erhöhtem Preis durchaus empfohlen werden kann.

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Re: Teorema - Geometrie der Liebe - Pier Paolo Pasolini (1968)

Verfasst: Mi 6. Feb 2013, 13:04
von buxtebrawler
Danke für die ausführliche Filmvorstellung, jogi.

Puh, der scheint dann ja doch sogar noch anstrengender zu sein, als ich dachte. :-?
Mal gucken, ob ich mich da irgendwann mal rantraue. :|

Re: Teorema - Geometrie der Liebe - Pier Paolo Pasolini (1968)

Verfasst: Mi 6. Feb 2013, 13:10
von jogiwan
buxtebrawler hat geschrieben: Puh, der scheint dann ja doch sogar noch anstrengender zu sein, als ich dachte. :-?
Mal gucken, ob ich mich da irgendwann mal rantraue. :|
Solltest du! Der Film selbst ist überhaupt nicht anstrengend oder gar langatmig - ganz im Gegenteil. Aber hinterher ratterts ganz schön... zumindest war das bei mir der Fall!

Re: Teorema - Geometrie der Liebe - Pier Paolo Pasolini (1968)

Verfasst: Mi 6. Feb 2013, 13:30
von Arkadin
jogiwan hat geschrieben:
buxtebrawler hat geschrieben: Puh, der scheint dann ja doch sogar noch anstrengender zu sein, als ich dachte. :-?
Mal gucken, ob ich mich da irgendwann mal rantraue. :|
Solltest du! Der Film selbst ist überhaupt nicht anstrengend oder gar langatmig - ganz im Gegenteil. Aber hinterher ratterts ganz schön... zumindest war das bei mir der Fall!
Oh, ich fand den durchaus ziemlich anstrengend. Im Sinne von rätselhaft, verschachtelt und nicht leicht erklärbar. Defintiv kein Film für's nebenbei schauen. Er zwingt den Zuschauer ständig am Ball zu bleiben und das Gezeigte, aber trotzdem nicht immer Sichtbare, für sich selbst zu ordnen und zu interpretieren. Ich sitze schon seit Tagen an einer Review, aber es will einfach nicht richtig fließen. Sicherlich ist es von Vorteil, wenn man sich vor und nach dem Film etwas in Passolinis Gedankenwelt einliest.

PS: Tolle Review, jogi :thup:

Re: Teorema - Geometrie der Liebe - Pier Paolo Pasolini (1968)

Verfasst: Sa 9. Feb 2013, 17:33
von Salvatore Baccaro
Dies ist eine der ergreifendsten Szenen der Filmgeschichte:

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Noch "anstrengender" ist übrigens der gleichnamige literarische Text, den Pasolini vor oder parallel zum Film anfertigte, eine höchste intellektuelle Ansprüche noch überbietende Mischung aus philosophischem Essay, Lyrik und ein paar lose hingestreuten Handlungsfragmenten, wie man sie im Film wiederfindet...

Re: Teorema - Geometrie der Liebe - Pier Paolo Pasolini (1968)

Verfasst: Sa 23. Feb 2013, 12:13
von Arkadin
Ein geheimnisvoller Fremder (Terence Stamp) tritt in das Leben des Fabrikanten Paolo (Massimo Girotti) und seiner Familie ein. Er rettet die tiefgläubige Hausangestellte Emilia (Laura Betti) vor dem Selbstmord und hat Sex mit ihr. Nach und nach verführt er Mitglieder der angesehenen Familie und schläft mit ihnen. Als er eines Tages ebenso plötzlich, wie er gekommen ist, wieder abreist, hinterlässt eine große innere Leere bei den Familienmitgliedern, deren Leben dadurch völlig aus der Bahn gerät…

Der Film „Teorema“ aus dem Jahre 1968 trägt sein Anliegen schon im Titel. Pasolini baut hier eine theoretische Versuchsanordnung auf und inszeniert, was seinem Theorem nach passieren wird, wenn ein fremdes Element in die starre, tote Welt der Bourgeoise eindringt. Das macht es auch sehr schwer, diesen Film zu schauen. Ein oberflächliches Betrachten der Vorgänge führt nur zu immer größer werdenden Fragezeichen. Nein, in einen Film wie „Teorema“ muss man sich hinein graben. Pasolini macht es dem Zuschauer nicht leicht. Er gibt ihm keinerlei Hilfestellungen, wie das Gesehene zu interpretieren ist. Der Zuschauer muss beobachten, das Gesehene für sich bewerten und seine eigenen Schlüsse ziehen.

Pasolini hat sich lange und intensiv mit diesem Stoff beschäftigt, der auf einem seiner Theaterstücke beruht und später von ihm auch in einen Roman umarbeitet wurde. Zieht man die vielen Jahren in Betracht, die der Stoff Pasolini begleitet hat und führt sich vor Augen, dass „Teorema“ all die Themen berührt, die Pasolini zeit seines Lebens wichtig war – der Kampf gegen die Bourgeoisie, der Kommunismus, der Hass auf die Kirche und die eigene Homosexualität – so kann man mit Fug und Recht behaupten, dass „Teorema“ Pasolinis persönlichster Film ist.

Die Bourgeoisie, das ist einmal der Fabrikbesitzer Paolo, der sich zunächst selbst als kranke, hilflose Person imaginiert und dem die Begegnung mit dem Fremden neue Kraft und Lebenswillen gibt. Ein Mann, der nicht zu seinen Begierden steht, an den Umständen leidet und ohne Ziel im Leben ist. Schlaflos irrt er morgens durch die Räume seines geräumigen Hauses, auf der Suche nach irgendetwas, von dem er nicht weiß, was es ist. Nach der Begegnung mit dem Fremden wirft er allen Ballast von sich. Er verschenkt seine Fabrik, verlässt die Familie und entledigt sich am Ende seiner Kleider. Nur seine Begierde bleibt ungestillt. Als er einem attraktiven jungen Mann auf die Bahnhofstoilette folgen will, verlässt ihn in letzter Sekunde der Mut. So bleibt er dann allein und nackt in einer öden Wüste zurück. Allein mit dem Schmerz und dem Zorn über seine eigene Feigheit, den letzten Schritt zur Selbsterfüllung nicht gegangen zu sein. Und auf der verzweifelten Suche nach einer Erlösung.

Seine wunderschöne, aber frigide Frau Lucia (Silvana Mangano), die nicht nur optisch einer edlen Porzellanpuppe gleicht, erlebt mit dem Fremden ihre sexuelle Befreiung. Doch sie kann damit nichts anfangen. Statt zu ihren Lüsten und Bedürfnissen, die sie nach dem Besuch des Fremden hemmungslos auslebt, zu stehen, findet sie sich im Korsett der – von der Kirche und der Gesellschaft auferlegten – Moral eingeschnürt. Unfähig ein freies Leben zu führen. Erschüttert von Schuldgefühlen.

Der Fremde wird in der allgemeinen Rezeption des Filmes als Gott oder Engel (manchmal auch „Lichtbringer“ Luzifer, der den Menschen die Selbsterkenntnis brachte) angesehen, der vom Himmel herabgestiegen ist, um unter den Lebenden zu weilen, und sie auf diese Weise tief zu berühren. Bleibt man bei dieser Lesart, so fühlt man sich an die Szene aus „Das Leben des Brian“ erinnert, in der ein Leprakranker sich lauthals darüber beschwert, dass Jesus ihn ohne zu fragen geheilt, und damit seiner Lebensgrundlage beraubt hätte. Ebenso heilt der Fremde die Familie gegen deren Willen. Er reißt sie aus ihrer Erstarrtheit, konfrontiert sie mit ihren innersten Wünschen und einem von allen bürgerlichen Zwängen befreiten Leben. Doch die Familie kann mit diesem Geschenk nichts anfangen. Statt sich zu befreien, sind sie nur verwirrt und werden letztendlich in eine tiefe Verzweiflung gestürzt.

Die Tochter verfällt vor Sehnsucht nach dem Fremden in einen Starrkrampf und wird in eine Irrenanstalt eingeliefert. Sie ist unfähig, die Leere in ihr mit etwas anderem zu füllen, als der Nähe des Fremden. Der Sohn bricht aus und wird abstrakter Maler. Er versucht dabei die Kunst zu imitieren, die ihm der Fremde gezeigt hat (in einer Szene sehen sie sich gemeinsam ein Buch mit Bildern von Jackson Pollock an), doch er muss erkennen, dass eine Imitation natürlich niemals etwas Echtes sein kann. Er ist nur ein Schwindler, der nur vorgibt zu verstehen, was er dort tut. Will Pasolini damit auf die Schwindler aufmerksam machen, die gar nicht aus sich selber heraus etwas schöpfen können, sondern nur etwas imitieren, was sie nicht verstehen?

Am Geheimnisvollsten ist die Entwicklung, die die tiefreligösen Hausdienerin Emilia widerfährt. Als der Fremde das Haus verlässt, macht sie sich auf den Weg in ihre süditalienische Heimat. Dort weigert sie sich zunächst zu essen und sich zu bewegen. Dann wirkt sie auf einmal Wunder und heilt die Kranken. Als sie beginnt, sich von Brenneseln zu ernähren, färben sich ihre Haare grün und sie fängt an, über den Dächern zu schweben. Macht sich Pasolini mit dieser beinahe satirischen Überhöhung über Heilgenerscheinungen der katholischen Kirche lustig? Durchaus möglich, wenn man bedenkt, dass Pasolini Atheist und Kirchenkritiker war. Oder hat Emilia als Einzige durch den Fremden einen göttlichen Funken empfangen, da sie als Angehörige des Proletariats nicht leer war, wie die bourgeoise Familie, sondern im Inneren erfüllt mit Gottesfurcht. Und so wie sich die Familie ihrer inneren Leere bewusst wird, so wird sich Emilia dem Göttlichen in sich bewusst? Pasolinis Film lässt viele Deutungsmöglichkeiten zu, und was der Einzelne in „Teorema“ hineininterpretiert, hat auch eine Menge mit den eigenen Einstellungen und Erfahrungen zu tun. „Teorema“ funktioniert wie der geheimnisvolle Fremde. Der Film dringt in unser Leben ein und lässt uns unser Innerstes bewusst werden. Was wir mit dieser Erkenntnis dann anfangen, bleibt uns selber überlassen. Ob wir in einen mentalen Starrkrampf verfallen oder möglicherweise auch nackt durch die Wüste unseres Seins laufen, in der verzweifelten Hoffnung auf Erlösung.

Pier Paolo Pasolinis „Teorema“ ist eine geheimnisvolles Puzzle. Eine theoretische Versuchsanordnung, die dem Zuschauer eine Menge über den kritischen Geist Pasolini und die ihm wichtigen Themen verrät. Aber auch einlädt, sich selber mit eben jenen Themen auseinander zu setzen und daraus ganz eigenen Schlüsse zu ziehen. Ein faszinierendes, kryptisches Werk, das diejenigen belohnt, die gewillt sind, sich darauf einzulassen und daran abzuarbeiten.

Mit seiner wunderbaren „Limited Collector’s Edition“ legt CMV den Film in guter Bildqualität auf Deutsch und Italienisch (mit deutschen Untertiteln) vor. Allein die Aufmachung der DVD-Hülle ist schon sehr schön gemacht. Außen in Lederoptik gehalten, liegen die beiden DVDs (Hauptfilm und Extras) im Inneren der Hülle auf einem Samt-Imitat. Auf der Extras-DVD finden sich zwei Dokumentationen. In der 20-minütige Doku “Die letzte Nacht des Pier Paolo Pasolini” von Roberta Torre aus dem Jahre 2009, die den für den Mord an Pasolini verurteilen Mörder Pino Pelosi – damals noch ein minderjähriger Strichjunge – interviewt. Da Pelosi sein Geständnis immer wieder neu revidiert hat, ist der Wahrheitsgehalt seiner Aussagen im Film zumindest zweifelhaft. Trotzdem ein interessantes Dokument. Die zweite Doku „“I Tiburtino Terzo”, ebenfalls von Roberta Torre, werden die Strichjungen und Kleinkriminellen portraitiert, die heute dort ihrem Gewerbe nachgehen, wo einst Pasolinis Mörder (oder auch nicht) aufwuchs. Diese werden zwar auch zu Pasolini befragt, können aber mit dem Künstler nicht viel anfangen. Dazu gibt es noch ein 12-seitiges Booklet mit einem großartigen, persönlichen Text von Silvia Szymanski (deren Beiträge auf “Hard Sensations” ich mit wachsender Begeisterung verfolge).

Screenshots: http://www.filmforum-bremen.de/2013/02/ ... der-liebe/

Re: Teorema - Geometrie der Liebe - Pier Paolo Pasolini (1968)

Verfasst: Sa 23. Feb 2013, 12:32
von Die Kroete
Ein Film mit Silvana Mangano kann -zumindest optisch :sabber: und schauspielerisch :verbeug: - nicht schlecht sein! :thup:

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Re: Teorema - Geometrie der Liebe - Pier Paolo Pasolini (1968)

Verfasst: Sa 23. Feb 2013, 12:41
von jogiwan
die ist auch absolut bezaubernd...

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Re: Teorema - Geometrie der Liebe - Pier Paolo Pasolini (1968)

Verfasst: Sa 23. Feb 2013, 15:33
von buxtebrawler
Ganz toller Text, Arkschi! Vielen Dank! :thup: