Vor einiger Zeit habe ich zusammen mit einem lieben Freund, (der diese Woche endlich seine Doktorwürde empfangen hat), ein Seminar zum französischen Transgressions-Theoretiker Georges Bataille (1897-1962) initiiert. Neben einer bunten Auswahl an Schriften Batailles hatten wir natürlich auch das eine oder andere Filmbeispiel im Gepäck. Denn obwohl Bataille so gut wie nie über das Kino geschrieben hat, (allerdings zumindest in einer Statistenrolle als Priester in Jean Renoirs UN PARTIE DE CAMPAGNE 1936 kurz auf der Leinwand vorbeischaute), haben seine esoterischen Ideen von grenzüberschreitender Ekstase im Spannungsfeld zwischen Eros und Thanatos explizit oder implizit natürlich nicht wenige Filmschaffende inspiriert. Unser Korpus reichte folgerichtig von Filmen, die tatsächliche literarische Vorlagen Batailles zu adaptieren versuchen – (wie Christophe Honorés MA MÈRE (2004) oder Patrick Longchamps SIMONA (1974)) -, über Filme, in denen sich mehr oder minder starke Motive aus Batailles Oeuvre finden lassen – (wie Jean-Luc Godards WEEK END (1967) und vor allem auch Alberto Cavallones SPELL (1978)) – bis hin zu welchen, die eher allgemein Themen verhandeln, die auch im Fokus von Batailles Interesse stehen – (wie Gaspar Noes CLIMAX (2018) oder Fernando Arrabals VIVA LA MUERTE (1974)). Gemeinsam hatten unsere Filme nicht nur, dass die meisten von ihnen einige der Studierenden zutiefst verstört oder zumindest verwirrt haben, sondern auch, dass sie ausnahmslos von Männern inszeniert worden sind: Obwohl wir zumindest anhand von Texten aus weiblicher Feder versucht hatten, eine spezifisch feminine bzw. feministische Perspektive auf Bataille abzudecken, ist uns kein Film von einer Frau eingefallen, der irgendwie in unser Konzept gepasst hätte. Genau dieses Manko hat sich letzte Woche nun auch erledigt, als ich zum ersten Mal Catherine Breillats Debutfilm UNE VRAIE JEUNE FILLE zu Gesicht bekomme, und schlicht sprachlos bin – sowohl deshalb, weil dieses Werk im Grunde wie die Faust aufs Auge in unser Seminar gepasst hätte, als auch, weil ich im Traum nicht geglaubt hätte, wie sehr dieses nominelle Coming-of-Age-Drama stellenweise in orgiastischen Bildern wildert, die auch Batailles Geist entsprungen hätten sein können.
Dabei befleißigt sich Breillat bei der Verfilmung ihres eigenen Romans „Le Soupirail“ vorwiegend eines gesellschaftskritischen Realismus: Das sexuelle Erwachen, die Rebellion gegen das bürgerliche Elternhaus, die Findung einer eigenen Identität der vierzehnjährigen Titelheldin Alice – (verkörpert von Charlotte Alexandra, die man noch als weniger philosophierende, sondern masturbierende Thérèse aus der zweiten Episode von Walerian Borowczyks CONTES IMMORAUX kennen dürfte) – erleben wir zwar ausnahmslos aus ihrer subjektiven Perspektive mit, schauen ihr aber natürlich auch voyeuristisch beobachtend über die Schulter, wenn sie ihren eigenen Körper zu erkunden beginnt, ihre sich plusternden körperlichen Begierden auf nahezu ihre komplette Umwelt projiziert werden, - (und dabei, als waschechtes Borowczyk-Motiv, nicht zuletzt auf die unbelebte Objektwelt) -, und sich schließlich in Gestalt des Sägewerk-Hilfsarbeiter Pierre-Evariste bündeln, sprich: Wir könnten kaum dichter dran sein, wenn sie Spülmittelflaschen und Fahrradsättel als Selbstbefriedigungsinstrumentarium zweckentfremdet, wenn sie voller Verachtung über die monotonen, leidenschaftslosen Alltagsabläufe der Eltern das Näschen rümpft oder wenn ihr selbst eine Hühnerschlachtung oder ein Übelkeitsanfall plötzlich zu potentiellen Vehikeln zum Entladen erotischer Energie werden. Dass die gesamte Handlung in Alices Sommerferien angesiedelt ist, die die Internatsschülerin auf dem heimischen Hof verbringt, trägt nur noch zu einer schwülen, sonnenknisternden Atmosphäre bei, von der man nicht behaupten könnte, dass sie sich besonders weit entfernt von der Ästhetik eines Eric Rohmer befindet: Allerdings wird in UNE VRAIE JEUNE FILLE weitaus weniger konversiert als bei Breillats Regiekollegen, dafür aber immer mal wieder das naturalistische Korsett gesprengt, um Phantasmagorien Platz zu machen, die gerade bei einem an der Oberfläche derart betont realistischen Film wie vorliegendem besonders dafür prädestiniert sind, Schock auf Schock zu verteilen.
Dass Alice bei ihrer Odyssee durch ein Wunderland der Verlockungen und Verführungen die Grenze zur Hardcore-Pornographie mehr als einmal zumindest streift, dürfte anhand der bereits erwähnten Masturbationsorgien nicht verwundern: Gerade die Autoerotik-Szenen, in denen Alice sich senfverschmierte Finger einverleibt, oder sich in Pinkelschauern im Close-Up ergeht, - (ganz zu schweigen von einer Szene, in der ein älterer Mann Alice auf einem Kirmes-Karussell dazu animieren möchte, sein welkes Glied zu stimulieren!) -, dürften sicher nicht unschuldig daran gewesen sein, dass vorliegender Film seinerzeit keinen regulären Kinostart erfuhr, sondern stattdessen erstmal in den Giftschrank wanderte: Uraufgeführt wird UNE VRAIE JEUNE FILLE wohlgemerkt erst im Jahre 1999! Tier-Snuff stellte in den wilden 70ern ein nicht ganz so umstrittener Schauwert dar wie heutzutage, (zumal das Huhn, dem vor laufender Kamera zunächst der Hals durchgeschnitten und das dann von Alices Mutter nach allen Regeln der Kunst in Großaufnahme ausgeweidet wird, auch in der extrafilmischen Realität anschließend im Kochtopf gelandet sein wird); jedoch vollends in Bataille’schen Gefilden befinden wir uns letztlich in der wohl kontroversesten Szene des Films, einem Tagtraum Alices, in dem sie sich ihren Crush Pierre dabei imaginiert, wie dieser ihr satyrenhaft an die Wäsche geht bzw. ihr ein Getier, das ich für eine Blindschleiche halten würde, - (manche Quellen sprechen auch von einem Wurm oder von einer Schlange) -, zwischen die gespreizten Beine einführt. Anders als im konsequent einem surrealistischen Stil verschriebenen VIVA LA MUERTE, (an den mich solche Exzesse zwangsläufig erinnerten), wirken Breillats Grenzüberschreitungen möglicherweise noch heftiger, weil sie als Störfaktoren in eine ansonsten konventionelle Inszenierung einbrechen, und den im Grunde sterbenslangweiligen Ferienalltag unserer Heldin mit unaussprechlichen und daher unausgesprochenen Tabus kontaminieren. (Weshalb mir UN VRAIE JEUNE FILLE letztlich auch die kleine Schwester von Cavallones SPELL zu sein scheint, einem Film, der ähnlich zwischen geradezu dokumentarischem Realismus und exzessivem Surrealismus changiert, und thematisch mit seiner Offenlegung abjekter Phänomene im Untergrund einer nach außen hin konservativen Dorfgemeinschaft in eine ganz ähnliche Bresche schlägt.) Die häufig gedroppten Analogien zu Charlotte Roches Skandal-Bestseller "Feuchtgebiete" sind indes ebenfalls nicht von der Hand zu weisen: Während dieser Roman allerdings dann doch eher die komisch-grotesken Seiten von ausschweifender juveniler weiblicher Sexualität betont, haben wir es bei UNE VRAIE JEUNE FILLE mit einer wesentlich tristeren, stellenweile gar melancholischen Grundstimmung zu tun. Die Menschen, die von diesem Film jedenfalls ernsthaft sexuell stimuliert werden, möchte ich besser gar nicht kennenlernen...
Hätten wir Breillats Film damals in unserem Seminar gezeigt, wäre sicher bald die Frage aufs Diskussions-Tableau gekommen, ob denn nun UNE VRAIE JEUNE FILLE, da bei ihm eine Frau auf dem Regiestuhl saß, sein Sujet sorgsamer und sensibler anpackt als es ein männlicher Regisseur hätte tun können, (und, damit einhergehend, solche weiterführenden Fragen wie: Gibt es feministische Pornographie? Gibt es überhaupt einen dezidiert weiblichen Blick innerhalb und außerhalb von ästhetischen Artefakten? Und, falls ja, was davon ist Konvention/Reprodukiton, was biologisch fassbar?) – allesamt Fragen, auf die ich bis jetzt genauso wenig eine Antwort weiß wie darauf, ob ich vorliegende Mixtur aus Ekel-Porno, Studie erwachender Mädchensexualität und beißende Satire auf das sattgefressene und inhaltsleere französische Bürgertum des Spätkapitalismus nun tatsächlich für einen guten Film halten soll. Unvergesslich wird mir diese Tour-de-Force durch pinkelnde Muschis, inzestuöse Phantasien und Sommernachmittagseintönigkeit jedoch allemal bleiben.