L'enfant secret - Philippe Garrel
Verfasst: Di 13. Aug 2013, 15:38
Frankreich 1979
Regie: Philippe Garrel
Darsteller: Anne Wiazemsky, Henri de Maublanc, Xuan Lindenmeyer, Cécile Le Bailly, Elli Medeiros, Philippe Garrel, Ari Boulogne, Benoît Ferreux, Eliane Roy
Schon seit geraumer Zeit habe ich keinen so verstörenden, so trostlosen Film mehr gesehen wie Philippe Garrels L'ENFANT SECRET einer ist. Ich will L'ENFANT SECRET, Garrels erstes künstlerisches Lebezeichen nach langjähriger Beziehung zur deutschen Popsängerin Nico, gar nicht allein auf eben jene, offenbar von zumeist durch Drogen und Depressionen hervorgerufenen Grenzsituationen durchzogene Liaison reduzieren, denn auch wenn die Bezüge zur Biographie Garrels ins Auge stechen müssen, schafft es der Film nichtsdestotrotz, eine wesentlich universellere Verzweiflungsstimmung entstehen zu lassen als es die bloße Aufarbeitung einer konkreten, gescheiterten Beziehung gekonnt hätte. Für mich ist L'ENFANT SECRET nichts weniger als zu Bildern gewordene Hoffnungslosigkeit, kein Schrei, sondern ein ersticktes Wimmern von ganz tief unten, eine in expressionistischem Schwarzweiß eingefangene Poesie der Tränen und der Seufzer am absoluten emotionalen Nullpunkt.
Im Gegensatz zu den Filmen, die Garrel in den Jahren zuvor gemeinsam mit seiner Muse Nico inszenierte, mit deren Schaffen sein eigenes regelrecht verwachsen ist - so hatte Nico nicht nur in allen Filmen Garrels seit 1972 die weibliche Hauptrolle inne, sondern steuerte auch Lyrik und Songs bei - hat L'ENFANT SECRET, für Garrel bis dahin keine Selbstverständlichkeit, so etwas wie eine strigente, nachvollziehbare Handlung, die gerade im Vergleich mit den beiden unmittelbaren Vorgängerwerken, LE BLEU DES ORIGINES und BERCEAU DE CRISTAL, überrascht. Letzterer beispielweise besteht nämlich fast ausschließlich aus wahlweise verzweifelten und ausdruckslosen Frauengesichtern, zumeist eben das Nicos, die in einer Ästhetik zwischen Neo-Romantik und Heroin-Chic abgefilmt und mit einem tieftraurigen, jedoch stellenweise wunderschönen Instrumentalscore unterlegt werden. Bei LE BLEU DES ORIGINES "passiert" da schon mehr, huschen da nämlich das einst von Eric Rohmer entdeckte Model Zouzou und die unvermeidliche Nico durch Pariser Winterlandschaften, lesen Bücher oder unterhalten sich miteinander, allein aber dadurch, dass Garrel diesem Film sowohl eine klassische Montagestruktur wie auch, bei Garrel keine Seltenheit, eine Tonspur verweigert, kann das Ergebnis wohl am besten als "enigmatisch" bezeichnet werden, und für mich wirkt der Film beispielweise wie eine (fiktive) Hommage an eine Leinwanddiva der Stummfilmzeit (Nico), deren besten, ergreifendsten Szenen man relativ wahllos aneinandermontiert hat. L'ENFANT SECRET indes hat eine Tonspur und er hat auch eine Struktur, der man folgen kann. Sicher, geredet wird nicht viel, und am wichtigsten sind bei Garrel nach wie vor nicht die Dialoge, die man mit den Ohren, sondern die, die man mit den Augen wahrnimmt, und ebenso hat der Regisseur sich natürlich nicht vollkommen von seinen Experimentalfilmwurzeln gelöst, und lässt seine Kamera noch immer teilweise quälende Minuten lang auf einem rauchenden Mann oder einem halb von Schatten verschleierten Frauengesicht ruhen, wie man es aus seinen mich zuweilen stark an Andy Warhol erinnernden Werke der 60er und 70er kennt, und dennoch zeichnet sich in L'ENFANT SECRET bereits die Schwelle ab, die Garrel in den folgenden Jahren vom reinen Avantgarde-Kino hin zum kommerziell ausgerichteten Spielfilmmarkt überschreiten werden wird.
Dennoch: kommerziell ist an L'ENFANT SECRET gar nichts, und dass das im Zentrum des Films stehende LiebespaarJean-Baptiste und Elie Namen und Ansätze einer eigenen Geschichte hat, dass Garrel also hauchdünne Fädchen einer konventionellen Narration ergreift, um daraus seine noch immer recht fragmentarische, sacht hingekritzelte, minimalistische und kaum an Äußerlichkeiten orientierte Handlung zu stricken, dient letztlich nur dazu, die Schmerzen des Zuschauers zu intensivieren, der hier, nicht wie in LE BERCEAU DE CRISTAL, unverbundene Einzelindividuum in ihrer Einsamkeit erlebt, sondern zwei Individueen, die gemeinsam ihre Einsamkeit teilen, und den jeweils anderen damit noch tiefer in sein psychisches Loch reißen. Die Beziehung zwischen Jean-Baptiste und Elie ist nämlich freilich eine selbstzerstörerische. Während er so lange mit Drogen experimentiert bis er in der Psychatrie landet, wo man ihn mittels bewährter Elektroschocktherapien "behandelt", ist Elie scheibar eine zutiefst in ihrer Seelenkrankheit gefangene Frau, der schließlich Heroin als der einzige Ausweg aus ihrer Selbst- und Weltentfremdung bleibt. Selbst wenn Jean-Baptiste und Elie mit deren Sohn aus erster Ehe, Swann, durch Paris spazieren, werden die Kokons, die die beiden Protagonisten umgeben, regelrecht physisch spürbar. Höchstens für ganz wenige Momente verspüren sie so etwas wie Glück, Nähe und Zärtlichkeit. Ganz zu Beginn, bei ihrem ersten Kennenlernen, filmt Garrel die Liebenden zwischen Bäumen und Hecken hindurch in einem Park. Erst fällt es dem Betrachter schwer, überhaupt die menschlichen Konturen innerhalb der Natur auszumachen, dann, nach langem, intensivem Starren scheint Elie ein Kleid aus Blättern zu tragen und aus einer Maske aus Blättern heraus zu sprechen, während Jean-Baptiste halb mit dem Stamm des Baumes verschmolzen ist, an dem er lehnt. Schon lange hat mich kein Bild derart ergriffen wie diese Liebespaar im Schutz einer sie geradezu umarmenden und umsorgenden Natur, frisch verliebt, sich vorsichtig mit Worten und Blicken betastend, und für uns, das Publikum, ein kaum zu ergründendes Geheimnis. Was folgt ist eine Abwärtsspirale, die Garrel klinisch, steril, teilweise fast dokumentarisch, auf jeden Fall völlig schonungslos bis zu ihrem Endpunkt verfolgt. In Szenen, die wie aus düstersten Stummfilmen wirken, schildert Garrel eine Welt ohne Wert und ohne Werte. Wenn ich L'ENFANT SECRET mit irgendetwas vergleichen müsste, dann noch am ehesten mit dem Gefühl, das sich manchmal bei mir einstellt, wenn ich Aphorismen von Cioran lese. Während Cioran aber wenigstens noch einen, wenn auch bitterbösen, Humor vertritt, gibt es bei L'ENFANT SECRET eben nicht das Geringste zu lachen. Es ist ein Selbstmord, der in der "realen Welt" nicht begangen werden musste, da man ihn in Bildern verübt hat. Es ist ein Film aus der Hölle, der den Abgrund regelrecht anfleht, seinen Blick zu erwidern. Wie Garrel die einstige süße Eselsfreundin aus Bressons AU HASARD BALTHAZAR und spätere Godard-Aktivistin Anne Wiazemsky auf dem emotionalen Sterbebett in Szene setzt, ist genauso unbeschreiblich wie die geniale Schlussszene, in der mit einfachsten Mitteln innere Vorgänge auf den Punkt gebracht werden. Garrels Charaktere sind keine Lebenden mehr, aber auch noch keine Toten. Sie bewegen sich in einem Zwischenreich, so wie der Film selbst, von dem man sagen könnte, dass es nach ihm nur zwei Wege gibt: den der nun völligen und endgültigen Selbstauslöschung oder den des Sich-Hineinwerfens in die Illusionen des Lebens und des Kinos. Garrel hat sich nach dem Säurebad des Nihilismus für Letzteres entschieden, und selbst mit diesem Wissen im Hinterkopf bleibt L'ENFANT SECRET für mich ein gerade noch unentschlossenes und darum äußerst beunruhigendes Greifen nach dem Rasiermesser. Es gibt viele Filme, die mich in meinem Leben schon schockiert haben, trotzdem fällt mir im Moment keiner ein, der dieses bestimmte Gefühl in mir hätte erwecken können, das vielleicht so übersetzt werden muss: es ist der Einbruch der Nacht, es regnet, man steht am Fenster, blickt hinaus und denkt daran, dass einem heute der Mensch, der einem von allen am meisten bedeutet hat, gestorben ist.
Einer der besten Filme, die ich dieses Jahr sehen durfte!
Regie: Philippe Garrel
Darsteller: Anne Wiazemsky, Henri de Maublanc, Xuan Lindenmeyer, Cécile Le Bailly, Elli Medeiros, Philippe Garrel, Ari Boulogne, Benoît Ferreux, Eliane Roy
Schon seit geraumer Zeit habe ich keinen so verstörenden, so trostlosen Film mehr gesehen wie Philippe Garrels L'ENFANT SECRET einer ist. Ich will L'ENFANT SECRET, Garrels erstes künstlerisches Lebezeichen nach langjähriger Beziehung zur deutschen Popsängerin Nico, gar nicht allein auf eben jene, offenbar von zumeist durch Drogen und Depressionen hervorgerufenen Grenzsituationen durchzogene Liaison reduzieren, denn auch wenn die Bezüge zur Biographie Garrels ins Auge stechen müssen, schafft es der Film nichtsdestotrotz, eine wesentlich universellere Verzweiflungsstimmung entstehen zu lassen als es die bloße Aufarbeitung einer konkreten, gescheiterten Beziehung gekonnt hätte. Für mich ist L'ENFANT SECRET nichts weniger als zu Bildern gewordene Hoffnungslosigkeit, kein Schrei, sondern ein ersticktes Wimmern von ganz tief unten, eine in expressionistischem Schwarzweiß eingefangene Poesie der Tränen und der Seufzer am absoluten emotionalen Nullpunkt.
Im Gegensatz zu den Filmen, die Garrel in den Jahren zuvor gemeinsam mit seiner Muse Nico inszenierte, mit deren Schaffen sein eigenes regelrecht verwachsen ist - so hatte Nico nicht nur in allen Filmen Garrels seit 1972 die weibliche Hauptrolle inne, sondern steuerte auch Lyrik und Songs bei - hat L'ENFANT SECRET, für Garrel bis dahin keine Selbstverständlichkeit, so etwas wie eine strigente, nachvollziehbare Handlung, die gerade im Vergleich mit den beiden unmittelbaren Vorgängerwerken, LE BLEU DES ORIGINES und BERCEAU DE CRISTAL, überrascht. Letzterer beispielweise besteht nämlich fast ausschließlich aus wahlweise verzweifelten und ausdruckslosen Frauengesichtern, zumeist eben das Nicos, die in einer Ästhetik zwischen Neo-Romantik und Heroin-Chic abgefilmt und mit einem tieftraurigen, jedoch stellenweise wunderschönen Instrumentalscore unterlegt werden. Bei LE BLEU DES ORIGINES "passiert" da schon mehr, huschen da nämlich das einst von Eric Rohmer entdeckte Model Zouzou und die unvermeidliche Nico durch Pariser Winterlandschaften, lesen Bücher oder unterhalten sich miteinander, allein aber dadurch, dass Garrel diesem Film sowohl eine klassische Montagestruktur wie auch, bei Garrel keine Seltenheit, eine Tonspur verweigert, kann das Ergebnis wohl am besten als "enigmatisch" bezeichnet werden, und für mich wirkt der Film beispielweise wie eine (fiktive) Hommage an eine Leinwanddiva der Stummfilmzeit (Nico), deren besten, ergreifendsten Szenen man relativ wahllos aneinandermontiert hat. L'ENFANT SECRET indes hat eine Tonspur und er hat auch eine Struktur, der man folgen kann. Sicher, geredet wird nicht viel, und am wichtigsten sind bei Garrel nach wie vor nicht die Dialoge, die man mit den Ohren, sondern die, die man mit den Augen wahrnimmt, und ebenso hat der Regisseur sich natürlich nicht vollkommen von seinen Experimentalfilmwurzeln gelöst, und lässt seine Kamera noch immer teilweise quälende Minuten lang auf einem rauchenden Mann oder einem halb von Schatten verschleierten Frauengesicht ruhen, wie man es aus seinen mich zuweilen stark an Andy Warhol erinnernden Werke der 60er und 70er kennt, und dennoch zeichnet sich in L'ENFANT SECRET bereits die Schwelle ab, die Garrel in den folgenden Jahren vom reinen Avantgarde-Kino hin zum kommerziell ausgerichteten Spielfilmmarkt überschreiten werden wird.
Dennoch: kommerziell ist an L'ENFANT SECRET gar nichts, und dass das im Zentrum des Films stehende LiebespaarJean-Baptiste und Elie Namen und Ansätze einer eigenen Geschichte hat, dass Garrel also hauchdünne Fädchen einer konventionellen Narration ergreift, um daraus seine noch immer recht fragmentarische, sacht hingekritzelte, minimalistische und kaum an Äußerlichkeiten orientierte Handlung zu stricken, dient letztlich nur dazu, die Schmerzen des Zuschauers zu intensivieren, der hier, nicht wie in LE BERCEAU DE CRISTAL, unverbundene Einzelindividuum in ihrer Einsamkeit erlebt, sondern zwei Individueen, die gemeinsam ihre Einsamkeit teilen, und den jeweils anderen damit noch tiefer in sein psychisches Loch reißen. Die Beziehung zwischen Jean-Baptiste und Elie ist nämlich freilich eine selbstzerstörerische. Während er so lange mit Drogen experimentiert bis er in der Psychatrie landet, wo man ihn mittels bewährter Elektroschocktherapien "behandelt", ist Elie scheibar eine zutiefst in ihrer Seelenkrankheit gefangene Frau, der schließlich Heroin als der einzige Ausweg aus ihrer Selbst- und Weltentfremdung bleibt. Selbst wenn Jean-Baptiste und Elie mit deren Sohn aus erster Ehe, Swann, durch Paris spazieren, werden die Kokons, die die beiden Protagonisten umgeben, regelrecht physisch spürbar. Höchstens für ganz wenige Momente verspüren sie so etwas wie Glück, Nähe und Zärtlichkeit. Ganz zu Beginn, bei ihrem ersten Kennenlernen, filmt Garrel die Liebenden zwischen Bäumen und Hecken hindurch in einem Park. Erst fällt es dem Betrachter schwer, überhaupt die menschlichen Konturen innerhalb der Natur auszumachen, dann, nach langem, intensivem Starren scheint Elie ein Kleid aus Blättern zu tragen und aus einer Maske aus Blättern heraus zu sprechen, während Jean-Baptiste halb mit dem Stamm des Baumes verschmolzen ist, an dem er lehnt. Schon lange hat mich kein Bild derart ergriffen wie diese Liebespaar im Schutz einer sie geradezu umarmenden und umsorgenden Natur, frisch verliebt, sich vorsichtig mit Worten und Blicken betastend, und für uns, das Publikum, ein kaum zu ergründendes Geheimnis. Was folgt ist eine Abwärtsspirale, die Garrel klinisch, steril, teilweise fast dokumentarisch, auf jeden Fall völlig schonungslos bis zu ihrem Endpunkt verfolgt. In Szenen, die wie aus düstersten Stummfilmen wirken, schildert Garrel eine Welt ohne Wert und ohne Werte. Wenn ich L'ENFANT SECRET mit irgendetwas vergleichen müsste, dann noch am ehesten mit dem Gefühl, das sich manchmal bei mir einstellt, wenn ich Aphorismen von Cioran lese. Während Cioran aber wenigstens noch einen, wenn auch bitterbösen, Humor vertritt, gibt es bei L'ENFANT SECRET eben nicht das Geringste zu lachen. Es ist ein Selbstmord, der in der "realen Welt" nicht begangen werden musste, da man ihn in Bildern verübt hat. Es ist ein Film aus der Hölle, der den Abgrund regelrecht anfleht, seinen Blick zu erwidern. Wie Garrel die einstige süße Eselsfreundin aus Bressons AU HASARD BALTHAZAR und spätere Godard-Aktivistin Anne Wiazemsky auf dem emotionalen Sterbebett in Szene setzt, ist genauso unbeschreiblich wie die geniale Schlussszene, in der mit einfachsten Mitteln innere Vorgänge auf den Punkt gebracht werden. Garrels Charaktere sind keine Lebenden mehr, aber auch noch keine Toten. Sie bewegen sich in einem Zwischenreich, so wie der Film selbst, von dem man sagen könnte, dass es nach ihm nur zwei Wege gibt: den der nun völligen und endgültigen Selbstauslöschung oder den des Sich-Hineinwerfens in die Illusionen des Lebens und des Kinos. Garrel hat sich nach dem Säurebad des Nihilismus für Letzteres entschieden, und selbst mit diesem Wissen im Hinterkopf bleibt L'ENFANT SECRET für mich ein gerade noch unentschlossenes und darum äußerst beunruhigendes Greifen nach dem Rasiermesser. Es gibt viele Filme, die mich in meinem Leben schon schockiert haben, trotzdem fällt mir im Moment keiner ein, der dieses bestimmte Gefühl in mir hätte erwecken können, das vielleicht so übersetzt werden muss: es ist der Einbruch der Nacht, es regnet, man steht am Fenster, blickt hinaus und denkt daran, dass einem heute der Mensch, der einem von allen am meisten bedeutet hat, gestorben ist.
Einer der besten Filme, die ich dieses Jahr sehen durfte!