(Nochmal etwas ausführlicher ...)
Hazard
Hazard
Japan 2005
Regie: Sion Sono
Jô Odagiri, Jai West, Motoki Fukami, Hiroyuki Ikeuchi, Garth Burton, Rachel Germaine, Saya Hagiwara, Kenjirô Ishimaru, Rin Kurana
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OFDB
Sion Sono dreht seine Filme manchmal anscheinend so, wie früher mal irgendwann der Punk erfunden wurde: Einer schreit 1, 2, 3, 4… und alle legen los. Ob es dabei perfekt ist, oder künstlerisch wertvoll? Scheißegal, es soll Spaß machen, und irgendwas wird dabei schon rauskommen. So ist zumindest mein Eindruck von HAZARD (und auch von anderen Filmen Sonos), und es wirkt wie damals in den 70ern, als die italienischen Filmcrews eine Kamera auf die Straße stellten,
Action riefen und los ging es. HAZARD funktioniert genauso. An den Passanten im Hintergrund kann man das gut ablesen – Da steht eine Kamera, einer schreit
Action, und vor der Kamera wird improvisiert, einem grob strukturierten Drehbuch gefolgt oder auch nicht, es wird die Sau rausgelassen und jede Menge Spaß produziert, und am Ende kommt dabei etwas raus, was echtem Leben verdammt ähnelt. Und zwar hautnahes und ungekünsteltes Leben, wie Sono es in UTSUSHIMI schon gezeigt hat – Mit der Wackelkamera auf den Spuren freilebender Menschen in einer künstlichen und für sie gemachten Umwelt. Klaus Lemke hat das zwar vor 50 Jahren schon gemacht, aber deswegen ist diese Art Guerillafilm heute immer noch genauso gut.
Der junge Japaner Shin unternimmt einen spontanen Trip nach New York, weil Japan ja schläfrig und ruhelos zugleich macht, und Shin sich in Tokio so schrecklich eingeschlossen fühlt. In New York, der Stadt mit der höchsten Verbrechensrate der Welt, staunt er und ist glücklich und voller Hoffnung, bis ihm sein Rucksack und seine gesamte Habe gestohlen werden. Ziemlich schnell ist er am unteren Ende der Nahrungskette angelangt, aber er lernt zwei junge Halbjapaner kennen, Lee und Takeda, und mit denen freundet er sich schnell an. „Sich schnell anfreunden“ heißt, dass Lee Shin mitnimmt in sein Loft, ihm alles zeigt, ihm den Schlüssel hinwirft, und mit den Worten
Mi casa es tu casa wieder verschwindet. Lee erkennt in Shin einen Gleichgesinnten, der zwar noch in der westlichen Welt ankommen muss, aber der die Anlagen dazu hat, bei Lees Lebensstil mitzuhalten.
Lee ist durchgeknallt. Ist er das? Lee ist halt anders. Lee tanzt oben ohne am Times Square die Passanten an. Lee schreit und singt und tanzt und LEBT. Lee weigert sich für Lebensmittel etwas zu zahlen, stattdessen wird die Pumpgun gezückt um ein Brötchen und etwas Milch zu bekommen. Lee hat einen gut gehenden Eisvertrieb, bei dem Takeda mit dem Eiswagen durch die Straßen fährt und Eis verkauft. Seine „Speed“-Balls sind ziemlich beliebt, vor allem bei denjenigen die dafür viel Geld zu zahlen bereit sind. Takeda wiederum ist selbstbewusst und durchgeknallt und offensiv, nur Nancy kann er nicht anreden. Nancy ist eine Kellnerin in einem Restaurant, und Takeda ist schwer verliebt, kann sich aber seiner Angebeteten, die ihn nicht einmal kennt, nicht nähern. Dafür hat er zuviel Angst und Lampenfieber. Der Augenblick, in dem Takeda mit einem Strauß Blumen vor Nancy steht, ihr versucht seine Liebe zu gestehen, während sie versucht herauszubekommen was er denn eigentlich von ihr will (Einen Platz im Restaurant? Eine Reservierung für eine Party? Sollen die Blumen auf einem bestimmten Tisch stehen?), diese Szene ist in all ihrer Sprachlosigkeit und ihrem babylonischen Sprachgewirr die absolute Negierung jeder klassischen Screwball-Comedy: Hier werden nicht geschliffene Dialoge durchexerziert, hier wird echtes Leben gezeigt, mit echter Sprache und echten Menschen. Kino kann so schön sein …
Auf jeden Fall ziehen die drei Freunde, und es sind richtig gute und dicke Freunde, durch New York. Sie reißen Mädels auf, verkaufen ihren Stoff, haben Spaß, überfallen kleine Geschäfte und ärgern die Cops. Lebe heute und lebe so, als ob es Dein letzter Tag wäre. No Future, aber jede Menge Fun. Und Weisheit! Lee lehrt Shin Englisch mithilfe von Walt Whitman:
I SIT AND LOOK OUT.
I sit and look out upon all the sorrows of the world, and upon all
oppression and shame,
I hear secret convulsive sobs from young men at anguish with
themselves, remorseful after deeds done,
I see in low life the mother misused by her children, dying,
neglected, gaunt, desperate,
I see the wife misused by her husband, I see the treacherous
seducer of young women,
I mark the ranklings of jealousy and unrequited love attempted to
be hid, I see these sights on the earth,
I see the workings of battle, pestilence, tyranny, I see martyrs and
prisoners,
I observe a famine at sea, I observe the sailors casting lots who
shall be kill'd to preserve the lives of the rest,
I observe the slights and degradations cast by arrogant persons
upon laborers, the poor, and upon negroes, and the like;
All these—all the meanness and agony without end I sitting look
out upon,
See, hear, and am silent.
(1)
Das ist das Lieblingsgedicht Lees, damit bringt er Shin englisch bei. Und wenn ich so nach Gedichten von Whitman google dann allen mir zwei Dinge immer wieder auf: Die Liebe zur Natur und die zur Freiheit. Kein Wunder, dass Lee den großen amerikanischen Dichter verehrt: Lee ist ein von Grund auf freier Mensch, der dem alten Punkgesetz folgt nur das zu tun wozu er Lust hat. Dabei bleibt er gleichzeitig im Geiste ein ewiges Kind, dass nur dem Spaß und dem Chaos verpflichtet ist. Umso verstörender wirkt der Einbruch des korrupten Polizisten Mike in diese eigentlich heile Welt. Wenn Mike Lee zusammenschlägt und in eine große Wasserpfütze taucht und dort festhält, dann scheint für einen Augenblick die Welt fast stillzustehen, so schmerzhaft sind diese Szenen. Wobei das Ende der Beziehung zu Mike ja dann schon fast wieder etwas Spielerisches hat …
Die Handkamera folgt den Dreien also bei ihren täglichen Geschäften. Beim Date im strömenden Regen genauso wie bei den Problemen mit Mike, der ihnen einen guten Teil ihres Geldes abnimmt. Als Shin bemerkt, dass sie alles haben außer Feinden, überfallen die Drei daraufhin im LONG RIDERS-Outfit, also helle lange Staubmäntel mit schwarzem Kragen, Cowboystiefel und Stetsons, eine Gruppe vietnamesischer Drogenhändler, damit auch endlich mal Feinde vorhanden sind. OK, die Situation wird etwas anders aufgelöst als gedacht, und tatsächlich ist sie sehr spannend und lustig. So wie der ganze Film - HAZARD ist anarchisch und wild, er ist ziemlich durchgeknallt und zumindest der gealterte Maulwurf sehnt sich in seine Jugend zurück, wo er spontan in eine große Stadt gezogen ist um dort Abenteuer zu erleben, auch wenn es damals nicht New York war sondern London. Aber aus der Sicht von heute ist dieser Film, der zu Beginn der 90er spielt, eine Zeitreise in eine Welt, in der noch vieles möglich war, was heute in den Krallen von Kapitalismus, Digitalisierung und Sicherheitsdenken verschwunden ist.
Und wenn Shin am Ende des Films wieder in Tokio ankommt, dann hat er, genauso wie Elijah Wood am Ende von HOOLIGANS, etwas gelernt. Er kann sein Leben in die eigene Hand nehmen, kann sich selber dorthin bewegen wo er sein möchte, und kann seine Position verteidigen. Aus dem verträumten und verhuschten Shin wird der starke und selbstbewusste Shin, und der Zuschauer möchte am liebsten zuschauen, wie Shin es jetzt schafft, mit dem Penny den er von Lee bekommen hat, diesen nachzuholen nach Tokio. Die Geschichte im Film hört auf, aber das Leben geht weiter, und ich glaube dass es das ist, was uns Sion Sono sagen möchte. Oder in den Worten von Walt Whitman:
Glück, nicht an einem anderen Ort, sondern an diesem Ort …
Nicht in einer zukünftigen Stunde, sondern in dieser Stunde.
(1)
https://whitmanarchive.org/published/LG/1891/poems/129
Ganz wichtig bei der Sichtung von HAZARD ist es, ich erwähnte es weiter oben bereits, die deutsche Synchronfassung in die Tonne zu treten. Nur die originale Fassung mit dem Sprachmischmasch aus amerikanisch und japanisch macht glücklich – Die deutsche Synchro hat zum einen keine Unterscheidung zwischen diesen beiden Originalsprachen, zum zweiten ist sie steril und drittens übersetzt sie bei weitem nicht alles was da wirklich gesprochen, gejapst, geschrien, geflüstert, gelacht wird. Falls irgendwie möglich, tut euch selbst den Gefallen und schaut euch HAZARD im Original an. Die Wirkung ergibt tatsächlich einen komplett anderen Film …
7/10