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Limit - Mário Peixoto (1931)

Verfasst: Di 17. Sep 2013, 18:54
von Salvatore Baccaro
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Originaltitel: Limite

Herstellungsland: Brasilien 1931

Regie: Mário Peixoto

Darsteller: Tatiana Rey, Olga Breno, Raul Schnoor, Brutus Pedreira, Carmen Santos, Mario Peixoto,Iolanda Bernardes, Edgar Brasil

Ein Mann und zwei Frauen treiben mit ihrem Boot verlassen auf einem endlos scheinenden Ozean. Allesamt stecken sie in abgerissener Kleidung, machen einen verzweifelten, psychisch und physisch desolaten Eindruck. Mit der Zeit leert sich der Eimer Trinkwasser, der ihnen an Bord verblieben ist. Zudem strebt das Meer danach, durch die schmalsten Löcher stetig in ihr Boot einzudringen. In Rückblenden erfährt der Zuschauer zwar nicht Grund und Ursache der Katastrophe, die sie auf hohe See führte, jedoch bruchstückhaft über die Einzelschicksale der hier versammelten Personen, von Gefängnisausbrüchen, zerplatzten Hoffnungen, dem Tod naher Menschen, der verblassenden Liebe von Partnern...

Was sich anhört wie der Plot zu einem Thriller in abenteuerlicher Kulisse - man könnte beispielweise an Polanskis NOZ W WODZIE, Hitchcocks LIFEBOAT oder Deodatos UNA ONDATA DI PIACERE denken, in denen ja ebenfalls unterschiedliche Personen, zumeist in der Konstellation, wie sie auch in LIMITE vorliegt, vom Drehbuch auf einem einsamen Boot versammelt werden, wo sich nach und nach emotionale Grenzsituationen aufbauschen -, wird unter der Regie des hauptsächlich als Dichter und Essayist aufgetretenen Mário Peixoto, dessen erster und einziger Film dieser hier auch bleiben sollte, zu einem Fest für alle cineastischen Sinne, einem regelrechten avantgardistischen Wettlauf der kreativen Ideen.

Das Wichtigste für Peixoto ist es nicht, eine unterhaltsam-spannende Geschichte von drei Menschen zu erzählen, was, sowohl die Entwicklung der Biographien der einzelnen Charaktere betreffend als auch bezogen auf die existenzialistische, an Sartre-Theaterstücke oder Bunuel-Filme erinnernde, wohl metaphorisch verschlüsselte Ausgangssituation, die an sich ja schon genügend Potential geliefert hätte, die Nerven des Zuschauers bis zum Zerreißen zu spannen, durchaus möglichen gewesen wäre, wenn der Film eben nicht aus dem Flickenteppich an Eindrücken bestehen würde, den Peixoto seinem gnadenlos überforderten Publikum entgegenschleudert. Wobei das mit dem Schleudern vielleicht ein falsches Bild ist, behält Peixoto doch, bis auf wenige Ausnahme, trotz aller konventionensprengender und filmschulregelnzersägender, unbändiger Schöpferkraft, ein eher elegisches, unaufgeregtes Tempo bei, das den Film, gerade wegen seiner deprimierenden, hoffnungsarmen Thematik, mehr wie einen langen, langsamen, wenn auch poetischen und ständige Überraschungen bereithaltenden Trauerzug wirken lässt. (Müsste ich einen Film zum Vergleich heranziehen, würde mir, allein wegen des extrem entschleunigten Tempos, als erstes wohl Jean Epsteins FINIS TERRAE einfallen, obwohl dieser sich inhaltlich und atmosphärisch wesentlich von LIMITE unterscheidet.)

Wobei meine Empfindung nach Ende der knapp zwei Stunden wohl eher eine wilde Freude gewesen ist. Dadurch, dass Peixoto sich für einen Plot wie einen Rahmen interessiert, in den er seine Bilder zwar einbettet, der aber weitgehend nicht direkt auf sie einwirkt, hat der Anfang Zwanzigjährige genügend Zeit, unter Beweis zu stellen, wie sehr er die Schemata des kommerziellen Filmbetriebs verinnerlicht hat - jedoch nur, um sie mit einer sprachlos machenden Konsequenz zu zerstören. Keiner neuen Bewegung zuordbar, keiner alten Schule verpflichtet schreibt Peixoto die Filmgeschichte neu und gebärdet sich dabei wie ein Kind, dessen technisches Geschick unbestreitbar vorhanden ist, das einen aber gerade dadurch beeindruckt, wie es dieses Talent, diese Gabe einsetzt, um etwas über die reine Technik hinaus zu produzieren.

Ob der Umstand, dass LIMIT mit den Mitteln und der Ästhetik eines Stummfilms gedreht worden ist und somit zu einem der letzten nennenswerten Vertreter der Anfang der 30er längst im Aussterben begriffenen Gattung zählt, nun einem künstlerischen Konzept geschuldet ist, das von vornherein feststand, oder ob er den sicher äußerst mauen Produktionsbedingungen, denen Peixoto unterworfen gewesen sein muss, geschuldet ist, fest steht, dass LIMITE als Tonfilm gar keine Daseinsberechtigung gehabt hätte. Für Peixoto sind die Bilder alles. Er will keine literarische Narration umsetzen, keinen Roman, kein Stück, kein Dreh-Buch verfilmen, er setzt völlig auf die dem Medium Film eigene Besonderheit: das Zeigen und Verzerren von Realität mit direkt aus dieser Realität gezogenen Materialien. Der rote Faden, der LIMITE durchzieht, ist somit nicht das Erzählen dreier Lebensschicksale, ihrer Verzahnung und der schlussendlichen Katastrophe, in der sie münden - obwohl das freilich ebenfalls Teil des Films ist, nur eben ein reichlich untergeordneter -, sondern Peixotos unermüdliches Suchen danach, Emotionen zu bebildern, anzudeuten, auszulösen, ein Prozess, der sich in völlig irren Experimenten niederschlägt, in denen die Kamera im wahrsten Sinne des Wortes entfesselt, an ungewöhnlichen Orten platziert, in wahnsinnigen Fahrten verwickelt oder, wenn man es am wenigstens erwartet, endlos lange, starr auf eine bestimmte Sache gerichtet wird - jedoch ohne dass Peixoto, wie es dem Ahnherr einer solchen Kamera, Karl Freund, geschehen ist, seine Experimente von mehr oder minder konventionellen Dramenplots abhängig machen müsste, die sie einer Pragmatik unterworfen hätten, von der ihre Freiheit eventuell zumindest teilweise wieder gebremst worden wäre.

Gleich zu Beginn, nach der aussagekräftigen Eröffnungsszene eines Geierhorsts, zeigt Peixoto uns eine Weile einzig und allein das Leben in dem winzigen, dem Meer ausgelieferten Boot. Eine der Frauen schläft, die andere isst etwas, der Mann schließlich auch. In einer provokationslosen Gleichmut, die an Warhol erinnert, filmt Peixoto die Beiden gefühlte fünf Minuten einzig und allein dabei, wie sie die offenbar letzten Brotfetzen verspeisen. Die Kamera ist in diesen Szenen der fixierte Voyeur, der noch die kleinste Kleinigkeiten beachtet, und diese reine Tätigkeitsszene allein dadurch erhöht, dass er den Blick einfach nicht von ihr wegzieht. Solche Momente durchziehen LIMITE von Anfang bis Ende. Immer mal wieder erholt sich die Kamera von ihren Eskapaden und Extravaganzen und begnügt sich damit, sich die Welt zu besehen wie sie ist, dem Schaukeln von Bäumen im Wind zu folgen oder einer Frau, die eine Dorfgasse entlangschlendert.

Im Kontrast dazu stehen die Szenen, mit denen die Kamera förmlich um sich schießt, wenn sie sich, wie ein Tier nach seinem Mittagsschlaf, zu ihren Raubzügen aufmacht. Eine meiner liebsten Kamerafahrten findet man relativ am Anfang: eine Frau wird verfolgt, ihren Kopf sieht man nicht. Dann, als sie von der Kamera eingeholt worden ist, umkreist diese sie spiralförmig. Mehrere Drehungen sind notwendig, um an der Spitze des Menschenkörpers anzukommen. Dort aber klammert sie sich nicht etwa an das Gesicht der Frau, das nun offen zugänglich gewesen wäre, sondern wendet sich ab zu einer dicht bewachsenen Wiese, die ein Holzzaun von dem Weg trennt, auf dem die Frau eben stehengeblieben ist. Unschlüssig fährt die Kamera erst nach rechts, dann nach links zurück. Schließlich, als sie ihre Horizontalfahrt weiter nach links bringt, stößt sie wieder auf die Frau, die in tieftrauriger Pose auf dem Zaun Platz genommen hat. In gewisser Weise hat mich diese Fahrt und einige andere nicht wenig an die frühen Filme Philippe Garrels denken lassen, vor allem dessen RÉVÉLATEUR, wo die Kamera ähnlich durchkomponiert, aber für das Publikum kaum nachvollziehbar einfach irre Choreographien vollführt, die es irgendwie schaffen, nicht nur nicht ziellos zu wirken, sondern zudem ein eher dunkles, verzweifeltes Gefühl zu evozieren.

Neben der Vorliebe, gehende Füße und Beine in Großaufnahme zu zeigen, einer Szene, die in einem Kino spielt, wo ein zu einer Charlie-Chaplin-Komödie spielender Pianist gezeigt wird, was überdeutlich auf Peixotos Bewusstsein hinweist, dass er mit LIMITE offenbar durchaus so etwas wie eine Film-im-Film-Reflexion über filmische Möglichkeiten anstoßen wollte, kann man dem jungen Ungestümen auf keinen Fall vorwerfen, dass er, Figuren, Handlungsfragmente, Geschichten als bloße grobe Orientierungspunkte verwendend, mit seinen Bildern nichts "Konkretes" zu sagen hätte. Bestes Beispiel ist hierfür die Szene, in der eine der Frauen - in einer Rückblende - nach Hause zurückkehrt und einen scheinbar von Schlaf und Alkohol trunkenen Mann auf der Stiege vorfindet. In der Großaufnahme, die Peixoto von einer seiner Hände zeigt, fallen zwei Dinge auf: 1. die Nägel sind vergleichsweise lang, 2. er trägt einen Ring an einem Finger. Peixoto, der in LIMITE auf Zwischentitel fast vollkommen verzichtet, und eines der wenigen Male sogar raffiniert genug ist, die Schlagzeile einer Zeitung, die gerade von einer Frau gelesen und in die Kamera gehalten wird, statt einer die Bilder unterbrechenden Texttafel zu nutzen, reicht somit ein einziges Bild, eine einzige Aufnahme, um seinen Zuschauern klarzumachen, dass dies offenkundig der Ehemann der Frau ist, aus deren Perspektive wir die Szene erleben, und er zweitens wahrscheinlich seit geraumer Zeit keiner körperlichen Arbeit mehr nachgeht, da seine Fingernägel sonst wohl kaum so lang geworden wären. Verblüffende Montagen, teilweise Abel Gance zitierend, teilweise eindeutig Avantgardefilmen wie denen Man Rays oder des jungen Bunuels verbunden, in denen Peixotot scheinbar völlig unzusammenhängende Dinge zusammenbringt - bspw. das Drehen eines Zugrades mit der sich ebenso drehenden Spindel einer Arbeiterin -, können damit ebenso als narrative Elemente gelesen werden wie das Herzstück des Films, in dem dieser nach etwa einer Stunde Laufzeit für eine Weile komplett jegliches feste Fundament verlässt, und die Kamera wie einen Ball über und um eine triste Steppenlandschaft herumwirbelt, dass man sich dabei fühlt, als würde man Michael Snows LA REGIONE CENTRALE im Fast-Forward-Modus betrachten.

Man wird sich kaum wundern, wenn ich nun verkünde, dass LIMITE ein Film genau von der Art ist, von der ich mir gewünscht hätte, dass sie Anfang der 30er zu einem ernstzunehmenden Gegengewicht des aufkommenden Tonfilms geworden wären, das die unaufhörlich voranschreitende Vorherrschaft des tumben Mainstreams womöglich ein bisschen beschwert, wenn nicht gar verhindert hätte. Nach José Mojica Marins und Ivan Cardoso ist Marío Peixoto damit der dritte brasilianische Regisseur, von denen ich in diesem Jahr mindestens einen Film in meinen persönlichen Kanon aufgenommen habe...

Re: Limit - 1931

Verfasst: Do 8. Sep 2022, 22:13
von Salvatore Baccaro
Der glorreichste Film der diesjährigen Bonner Stummfilmtage dürfte wohl Mario Peixotos LIMITE aus dem Jahre 1931 gewesen sein.

Puh, fast neun Jahre sind seit meinen oben festgehaltenen ersten Sichtungseindrücken vergangen. Im September 2013 hatte ich gerade meine überschaubaren Habseligkeiten zusammengesucht, um aus einer Metropole im Rhein-Neckar-Gebiet in eine etwas kleinere, jedoch ungleich historischere Stadt Niedersachsens zu ziehen. Es standen kurz bevor: Eine schmerzhafte Trennung; mein erstes Deliria-Forentreffen im reichlich verregneten Magdeburg mit derjenigen Person, die neben mir in besagte schmerzhafte Trennung verwickelt gewesen ist; der Anruf, der mich am Morgen nach meiner Reise in die Hauptstadt Sachsen-Anhalts davon in Kenntnis setzte, dass mein Vater verstorben sei.

Wenn es jemals einen Film gegeben hat, den man als Steinbruch für kinematographische Ideen heranziehen kann, dann muss LIMITE dieser sagenumwobene Film sein. Je nach Gemütslage, je nach Aufmerksamkeitsspanne, je nach derzeitigem Fokus wird einen wahrscheinlich etwas anderes während der zweistündigen Laufzeit dieses Experimentalfilm-Epos affizieren. Diesmal ist es bei mir Peixotos Vorliebe für Objekte in Großaufnahme gewesen – (so lange hat man wohl niemals sonst in der Kinogeschichte einer Nähmaschine bei der Arbeit zuschauen dürfen!) –, außerdem die stimmungsvollen Friedhofsszenen, die für mich in ihrer schauerromantischen Grandesse nahezu Jean Rollins LA ROSE DE FER antizipieren, und das Finale, wenn Peixoto sich entscheidet, jedwede bis dahin vorherrschende Kontemplation im wahrsten Wortsinn über Bord zu schmeißen und uns für lange Minuten mit Aufnahmen des wogenden Ozeans, seiner peitschenden Wellen, seiner zischelnden Gischt zu konfrontieren, um zu bebildern, wie das Boot, in dem unsere drei Protagonisten aus unerfindlichen Gründen geendet sind, ein Raub des Meeres wird.

Wäre LIMIT ein Musikalbum, dann sicherlich die erste und einzige Veröffentlichung einer mysteriösen lateinamerikanischen 80er Gothic-Rock- und/oder Darkwave-Band, deren elegischen Songs sich aus einer zeitlupenartigen Instrumentierung und kryptischen, wenn nicht gar völlig abstrakten Lyrics zusammensetzen, und die manchmal jäh brasilianische Folklore, verzerrte Samba-Rhythmen, tropische Beats in ihren Klangteppich einstreut.

Kürzlich saß ich mit einem Freund bei einem völlig überteuerten und geschmacklich fragwürdigen Frankfurter Restaurant und wir diskutierten uns die Köpfe heiß, was denn für uns der grandioseste Filmanfang aller Zeiten sei. Seltsamerweise wäre mir in dem Moment LIMITE nicht mal im Traum eingefallen. Dabei ist das, was uns Peixoto in den ersten fünf Minuten auftischt, nun wirklich eine Bildfolge für die Annalen: Vier Geier in ihrem Horst, gefilmt aus distanzierter Froschperspektive; sodann eine Überblendung auf das ikonische Bild eines Frauenkopfs, vor dem sich zwei mit Handschellen gefesselten Hände dem Objektiv entgegenrecken – ihre eigenen Hände?, die eines Mitgefangenen, der sich dann hinter ihr befinden müsste?; ein Close-Up dieser Hände, anschließend eines ihrer Augen, die nahtlos in eine pittoreske Meeresansicht übergehen, auf dessen noch gemäßigten Wellen zauberhaft das Sonnenlicht reflektiert.

Peixoto setzt wenig auf Effekte, auf irgendwelche Bildmanipulationen, darauf, sein Material durch nachträgliche Eingriffe zu verfremden. LIMITIEs Größe beruht allein auf zweierlei Dingen: Der wahrlich virtuosen, die normierten Regeln des Filmemachens Sekunde für Sekunde Schmachmatt setzenden Montage; dem Gespür für ungewöhnliche Einstellungen, das unseren Regisseur fortwährend dazu treibt, beispielweise eine Häuserreihe mit auf die Seite gekippter Kamera zu filmen, sodass es aussieht, als würden Türen sich gen Himmel öffnen. Palmen verwandeln sich per Schnitt in Strommasten; eine Chaplin-Aufführung im Dorfkino wird nahezu ausschließlich durch Großaufnahmen lachender, essender, schnutenziehender Münder begleitet; solche Details wie der Haarschnitt einer männlichen Figur aus Vogelperspektive oder aber die Schönheit von Wasser, das aus einem antiken Steinbrunnen sprudelt, sind viel wichtiger als alles, was kohärente Worte uns erzählen könnten.

Das, was die Story von LIMITE sein soll – so wie sie zum Beispiel im Programmheft der Bonner Stummfilmtage zusammengefasst wird –, lässt sich für meine Begriffe aus der reinen Bilderflut kaum erschließen. Dass zwei Frauen und ein Mann aus nicht näher erläuterten Gründen allein auf weiter See in einem lecken Boot auf ihren nahenden Ertrinkungstod warten, ist freilich noch offensichtlich, da diese außerordentlich trostlosen Aufnahmen der Schiffbrüchigen die ansonsten hemmungslos assoziative Ikonographie des Films gewissermaßen als ordnendes Element strukturieren. Die Rückblenden, in denen wir erfahren, was denn unsere drei Protagonisten in ihrem Vorleben so alles durchgemacht haben, entziehen sich jedoch regelrecht jedweder semantischen Fixation: Eine Frau ist aus dem Gefängnis ausgebrochen, heißt es; eine andere litt unter ihrem trinkenden und gewalttätigen Ehemann; der Mann an Bord wiederum ist – welch Schicksal im Vergleich zu den beiden vorherigen! – unglücklich in eine verheiratete Frau verliebt gewesen. Diese narrativen Handreichungen sind indes nicht mehr als bloße diffuse Marker, ein andeutungsweiser Versuch, LIMITE irgendwie in Zaum zu bringen, ein Versuch, der zum Scheitern verurteilt ist, ehrlich gesagt.

In einem Düsseldorfer Hotel schlief ich vor Jahren unter einer Reproduktion von Walter Cranes berühmtem Gemälde, auf denen er die „Pferde des Neptuns“ darstellt. Es sind wilde Rosse, die sich homogen aus dem Strand entgegengaloppierenden Wellen erheben, mit Fischhaut zwischen den Hufen und stürmischen Mähnen. Genauso kommt mir LIMITE vor. Ich fühle mich überrannt, niedergetrampelt, im besten Sinne.



Re: Limit - Mário Peixoto (1931)

Verfasst: Mo 15. Mai 2023, 11:28
von Salvatore Baccaro
Links von mir sitzt eine Professorin für Filmwissenschaften, mit der ich vor Jahren viel Kontakt gehabt habe; rechts von meiner Freundin sitzt ein Professor für Medienwissenschaften, den ich kürzlich für einen Artikel viel zitiert habe. Wir sind eingekeilt im Rahmen des Filmsymposiums einer norddeutschen Hansestadt. Das Gespräch, das ich führe, wirkt retrospektiv ziemlich akward und durcheinander. Ich erzähle, dass ich zu 50 Prozent in einem Projekt zu "Künstlicher Intelligenz" angestellt bin. Nachfrage: "Beschäftigen Sie sich also mit KI?" Antwort: "Immer, wenn ich mich bei ChatGPT anmelden will, ist der Sever down." - "Aha. Eh. Und sonst so?" Ungefähr auf diesem Level. Es ist spät, ich bin schrecklich müde. Eigentlich will ich mich nur mit meiner Partnerin ins Bett kuscheln und Gott ohne mich seinen Kram verwalten lassen.

Der Pianist des Stummfilmkonzerts, das uns Peixotos LIMITE bieten soll, reiht eine sentimentale Melodie an die nächste. Einst erprobte ich das Ganze einmal mit Drone- und Black-Metal-Sounds. Das funktionierte besser. Alles wirkt auf einmal versöhnlich, bei diesem Score. Die Menschen in ihrem viel zu kleinen, viel zu wasserdurchlässigen Boot. Die Rückblenden, in denen schlimme Beziehungskisten verhandelt werden. Die anti-narrativen Einstellungen von Geiern, Palmen, sterbenden Fischen. Gegen Ende schlafen Menschen ein. Nicht im Film, sondern im Auditorium. Jemand schnarcht extrem laut. Das Publikum kichert. Der Pianist findet es sichtbar witzig, spielt noch viel enthusiastischer. Vor mir sitzt ein älteres Ehepaar. Immer, wenn Bilder aufeinanderfolgen, die rein gar nichts mit der Handlung zu tun haben, - und das ist oft -, schlägt er sich mit den Händen auf die Oberschenkel und guckt sie entgeistert an, so im Sinne: Was soll die Scheiße?!

Peixoto spielt den Dude auf dem Friedhof: Wie er seinen eigenen ordentlichen Scheitel aus Vogelperspektive einfangen lässt. Dann all die Wellen, Wogen, Schaumkronen. Ganz viele Schuhe: Menschen, die irgendwohin gehen, wo sie immer hingehen müssen; Menschen, die entfliehen; Menschen, die stutzen. Was mir nie zuvor auffiel: Wie lang die Friedhofsszene eigentlich ist, ein Duell quasi, fast schon Western-Material, derart dicht ist die Stimmung. Manche Bilder werden nie oll: Köpfe vor Strommasten; der Hund im Bildhintergrund, hin und her; der Strand mit all den Badegästen; eine einzige Geste, die die Bandbreite ehelicher Misshandlungen evoziert; Wasser, das durch Bootdielen dringt.

Die Dame links von mir verlässt das Theater frühzeitig: Andauernd wird der Ärmel weggeschoben, um die Armbanduhr freizulegen; plötzlich bimmelt das Mobile Phone. Meine Freundin sagt, sie habe die Story überhaupt nicht verstanden. Im ganzen Film gibt es nur fünf, sechs Zwischentitel, Rollen werden doppelt besetzt oder halt gar nicht etc. Ich sage: Kommt ja nicht darauf an. Die Bilder, Schatz, eieieiei! Wir laufen die Weser entlang. Sie sagt, dass dem blöden Typen zu viel Platz eingeräumt worden sei. Das Schicksal der beiden Frauen sei doch viel interessanter gewesen. Ich stimme zu, poche jedoch darauf: Mag sein, aber die Bilder, Schatz, die fuckin' Bilder! Ob denn nicht Form und Funktion einmal Hand in Hand gehen könnten, sagt sie. Wieso nicht einen Film drehen, der beides hat, eine gute Story und geile Bilder? Mir fällt nichts Kluges ein, gucke zur Böschung, nach Nutriae suchend.

Dann: Knutschen bei der Mühle. Leiser Regen fällt. Zurück ins Hotel. Wie soll ich all meine Geburtstagsgeschenke in drei Taschen unterbringen!? Helene-Fischer-Fans strömen den Bahnhofsvorplatz. Ich glaube, Peixotos LIMITE kann in meiner Gunst gar nicht weiter wachsen als jetzt.