Francois Truffaut - Das grüne Zimmer
Verfasst: Sa 1. Feb 2014, 13:52
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Originaltitel: La Chambre Verte
Herstellungsland: Frankreich 1978
Regie: Francois Truffaut
Darsteller: Francois Truffaut, Nathalie Baye, Jean Dasté, Jean-Pierre Ducos, Jane Lobre, Jean-Pierre Moulin
1. In meiner persönlichen Geschichte des Films dienen die Lebens- und Schaffensläufe der beiden französischen Regisseure Jean-Luc Godard und Francois Truffaut vor allem dazu, die unterschiedlichen Wege aufzuzeigen, die ein Künstler, der bei einer grundlegenden, Grundfesten erschütternden Revolte begonnen hat, in der Folge einschlagen kann. Godards Oeuvre ist, bezogen auf seine Struktur, auf seine Genese, im Grunde eines ohne großartige Brüche. Am verwunderlichsten mag es noch scheinen, dass dieser kinematographische Aufrührer seine Karriere mit einem Publikumserfolg startete. A BOUT DE SOUFFLÉ ist damals nicht schlecht angekommen, und soll, laut eigener Aussage, einer der wenigen seiner Filme gewesen und geblieben sein, mit denen er wirklich rein ökonomisch einen Gewinn hatte erzielen können. Von seinem Debut an entwickelte Godard sich dann durchaus logisch immer mehr bis zur Grenze der Abstraktion, und letztlich darüber hinaus. Sind seine Filme zunächst noch unterhaltsame Verwirrspiele mit Genre-Versatzstücken, politischen Kommentaren und reichlichen, von überallher aufgesammelten, Zitaten, die allerdings noch immer, wenn auch vielleicht nur mit den Zehenspitzen, auf dem Boden des kommerziellen Kinobetriebs stehen, stellt WEEK END im Jahre 1967 so etwas wie die ultimative Absage an ein kapitalistisches System dar, von dem Kunst als bloße Ware behandelt wird, und dem Godard demonstrativ den Rücken kehrt, indem er für Jahre in der Anonymität eines marxistischen Filmkollektivs untertaucht, proklamierend, dass es sein Anliegen fortan nicht mehr sein solle, politische Filme zu drehen, vielmehr müssten seine Arbeiten von nun an als Politik verstanden werden, die mittels Filmen betrieben wird. Dass Godard in den späten 70ern sich zaghaft wieder dem klassischen Schauspielkino angenähert hat, tut dieser Verweigerungshaltung keinen Abbruch, erweckt doch bis heute keins seiner Werke mehr auch nur ansatzweise den Eindruck, es sei primär dafür konzipiert worden, sein Publikum nicht mit seinem hyperintellektuellem Anstrich und seinen guerillaartigen Konventionstorpedierungen gnadenlos zu überfordern. Ganz anders Truffaut, dessen Filmographie, obwohl auch bei ihr natürlich deutlich wird, dass sie die eines Auteurs ist, voller Überraschungen steckt, die sie uneinheitlicher, ambivalenter werden lassen. Welten liegen beispielweise zwischen seiner genre-affinen Hitchcock-Hommage LA MARIÉE ÉTAIT EN NOIR, veröffentlicht im Jahre 1968, während Godard cineastische Molotowcocktails um sich schleuderte, und dem nur zwei Jahre später entstandenen, minimalistisch-meditativen L’ENFANT SAUVAGE, mit dem er, völlig ohne Effekte und Schauwerte, eine Quasi-Dokumentation über die Sozialisierung eines wilden Kindes Anfang des 19.Jahrhunderts lieferte. Eins jedoch ist bei allen Arbeiten Truffauts offensichtlich: da, wo Godard ab einem bestimmten Zeitpunkt darauf pfeift, seine Zuschauer irgendwo abzuholen, um sie irgendwo hinzubringen, sie ihm vielmehr reichlich gleichgültig zu sein scheinen, ist es Truffaut immer daran gelegen, Filme zu drehen, die ihr Publikum finden, die nicht ungehört in dunklen Winkeln verharren, die vor allem rezipiert werden, und das bis hin zu dem Umstand, dass ein Werk wie beispielweise seine Biographie der im Wahnsinn geendeten Tochter Victor Hugos namens Adele aus dem Jahre 1975 die Normen des „normalen“ Erzählkinos der westlichen Welt so sehr umarmt, dass in ihm von dem einstigen revolutionären Gestus kaum noch etwas zu finden ist. Während Godard den Werte der Nouvelle Vague dahingehend bis heute treu blieb, dass er seine geballte Faust nie zu einer Hand entfaltete, die er einem eben nicht geistig in seinen Sphären herumschwirrendem Massenpublikum versöhnlich hinstreckt, hat Truffaut die Ideale seiner Jugend, wenn nicht verraten, so doch zumindest mit der Gewissheit weitgehend beiseitegeschoben, dass es wichtiger ist, gehört zu werden, wenn man etwas zu sagen hat, als ungehört für sich allein oder drei, vier Eingeweihte in einer engen Kammer einen Monolog zu halten.
2. In meinem Kopf existiert seit Jahren schon ein Film. Ein Mädchen sitzt in einem Garten und redet über den Tod. Die starre Kamera vor ihr ist nüchtern wie ihre Stimme, die wiedergibt, was man auch in jedem medizinischen Fachbuch lesen kann. Der Tod, von dem sie da spricht, ist ein biologisches Faktum, ein Ineinandergreifen verschiedener chemischer Prozesse, eine messbare Angelegenheit, der nichts Metaphysisches anhaftet, ein völlig natürlicher Akt, den man, wie sie es tut, in einer langen Kette von Fachtermini und Abstrakta ausdrücken kann. Dabei ist sie zugleich naiv, unbefangen. Der Tod, von dem sie da spricht, schürt keine Angst, keine Unruhe. Es ist Sommer, der Garten eine Idylle, in dem ein Teich in der Sonne schläft, Vögel zwitschern und das Mädchen, zwischen ihren Monolog geschnitten, ausgiebige Streifzüge unternimmt. Auf mich wirkt sie wie eine Nymphe, deren Konturen nicht viel fehlt und sie hören auf, Konturen zu sein und verschmelzen mit dem Paradies, das sie umgibt. Sie ist barfuß. Ihre nackten Sohlen beugen Grashalme, mit den Zehen zerbricht sie die Oberfläche des Teichs, sie lehnt an einem Apfelbaum, blickt lächelnd durchs Geäst zum blauen Himmel. Es ist Sommer, und sie sagt, dass wir alle sterben werden. Tod im Juni.
3. LA CHAMBRE VERTE ist Truffauts persönlichster Film. Wie so oft formuliere ich als einen Fakt, was ich nur vermuten kann. Wie komme ich dazu? Er spielt die Hauptrolle. So wie in L’ENFANT SAUVAGE. Der auch ein persönlicher Film von ihm ist. Sein zweitpersönlichstes meinem Gefühl nach. Sofern man das überhaupt so messen kann und sollte. Da hat er einen Arzt im frühen neunzehnten Jahrhundert gespielt, der einen im Wald gefundenen Jungen zu erziehen versucht. Der Film ist Jean-Pierre Léaud gewidmet. Das ist ein anderer Junge, der vom Kino regelrecht sozialisiert worden ist, zehn Jahre zuvor, in LES QUATRE CENTS COUPS. Gleichzeitig verweist Truffaut aber auch auf sich selbst, auf seinen Ziehvater, den er wiederum über ein Jahrzehnt zuvor im Filmkritiker und –theoretiker Andre Bazin gefunden hatte. Ganz abgesehen von all dem schnöden Hintergrundwissen wirkt LA CHAMBRE VERTE aber einfach persönlich, exakt so, als würde Truffaut alle Masken, d.h. filmische Verstellungen, seien sie nun ungebrochene oder gebrochene Konventionen, fallenlassen, sich zu mir setzen und mit milder Stimme, ruhig und besonnen, über die Dinge Auskunft erteilen, von denen ihm wichtig ist, dass man sie von ihm erfährt. Da ist nichts mehr übrig von der spielerischen Lockerheit eines BAISER VOLIERS. LA CHAMBRE VERTE ist ein nackter Film, den man schonungslos nennen könnte, wenn dieses Wort nicht immer diesen etwas seltsamen Beigeschmack davon hätte, dass einen etwas dorthin führt, wo es ganz besonders schmerzt. Aber Truffauts Film schmerzt zumindest mich nicht besonders, er stimmt eher versöhnlich, mit dem Leben und mit dem Sterben und mit dem ganzen kümmerlichen oder glorreichen Rest. Sein Thema ist eben das: wir leben, um zu sterben, und wir sterben gemeinhin, wenn wir denken, noch nicht genug gelebt zu haben, und das ist eine Erfahrung, die der Held des Films, ein Mann mittleren Alters namens Julien Davenne, zwar noch nicht am eigenen Leib erlebt hat, trotzdem ist der Tod wohl das bestimmende Leitmotiv, das sein Leben nun schon seit einer Dekade durchzieht. Wir befinden uns in einer französischen Kleinstadt Ende der zwanziger Jahre, und Davenne ist Mitarbeiter einer Zeitung, von seinem Vorgesetzten dafür gelobt, die ergreifendsten Nachrufe zu verfassen, und das, wie der gute Mann betont, ohne auch nur einmal die gleiche Wortwahl zweimal zu benutzen, auf so vertrautem Fuß scheint Davenne mit dem Tod zu stehen, dass er unzählige Redewendungen parat hat, ihn mit den Lebenden in Verbindung zu setzen. Das ist kein Zufall. Julien Davenne ist Soldat gewesen, hat im Ersten Weltkrieg unzählige Freunde und Kameraden verloren, selbst ist er, wofür er sich vielleicht insgeheim Vorwürfe macht, so gut wie verschont geblieben, nicht mal ein Bein hat er eingebüßt, dafür kurz nach Friedensschluss seine über alles geliebte Frau. Für alle seine Tote nun hat er einen eigenen Raum in dem Haus eingerichtet, das er gemeinsam mit seiner Haushälterin Madame Rambaud und deren taubstummen Sohn bewohnt, das sogenannte Grüne Zimmer, das voll ist von Photographien und Erinnerungsstücken. Als dieses Zimmer Feuer fängt und Julien kurz darauf bei einer seiner langen Wachen am Grab seiner Frau vom Friedhofswächter kurzerhand auf dem Gräberfeld eingeschlossen wird, entdeckt er eine verwaiste Kapelle, von der er es schafft, die örtlichen Klerikalen zu überzeugen, sie ihm zum Andenken seiner Toten zu überlassen. Ohne zu viel verraten zu wollen: mehr passiert in der Folge an bloßen Handlung auch nicht. LA CHAMBRE VERTE ist still wie ein Gottesdienst, und Truffaut der völlig unaufdringliche, sympathische Priester, der uns auf seine unnachahmliche, unvergleichliche Art, an die Themen heranführt, die wir geneigt sind, zu verdrängen oder zu vergessen, ohne spektakuläre Schauwerte, ohne Extravaganzen, ohne Revolte, nicht mal eine richtige Geschichte will er erzählen, und falls das dann doch eine Revolte sein sollte, dann eine, die flüstert, wo andere schreien. Ich fühle mich Julien Davenne nahe. Ich fühle den Schmerz dieses Mannes, glaube, ihn zu verstehen, ihn und seine Emotionen, und dass Truffaut das schafft, dass er zum Leben erweckt, was so sehr dem Tod geweiht ist, dass er nicht nur als Regisseur, sondern zudem als Schauspieler auf ganzer Linie wenigstens mich überzeugt, und dass er dazu nichts weiter bedarf als der einfachsten Mittel, die man sich denken kann, das spricht so sehr für ihn und seinen Film, dass ich ihn aus seinem dann doch ziemlich wechselhaften und umfassenden Oeuvre vor allen anderen am liebsten mag: eben, weil er nicht verhehlt, dass ich bald wie eine von Davennes Erinnerungsstückchen sein werde, ein Schmauchspur in einigen wenigen Köpfen, die indes das gleiche Schicksal wie mich ereilen wird, früher oder später, aber dass das auch nicht weiter schlimm ist, da ich einen Film wie LA CHAMBRE VERTE sehen durfte, und dass überhaupt die Kunst, mit der ich mich umgebe, alles erdenkliche und unerdenkliche Übel zu ertragen lehrt.
4. Überhaupt wächst mit der Zeit, wenn man sich allzu oft auf Friedhöfen aufhält und die allzu schonungslosen eigenen oder fremden Gedanken wiederkäut, die Grundüberzeugung, dass der Tod letztlich die einzige Realität darstellt, von der wir sagen können, dass sie bestehen bleibt, selbst wenn wir sie noch so oft zu dekonstruieren versuchen. Dass diese Realität schmerzt, weil sie im Grunde jeden Sinn und jede Bedeutung dessen, was wir sonst Realität zu nennen gewohnt sind, leugnet, indem sie unmissverständlich darauf hinweist, dass alles, und zwar wirklich alles, dazu verurteilt sein wird, irgendwann nicht mehr zu sein, und demnach, in gewisser Weise, schon jetzt überschattet von seinem kommenden Schicksal, mehr mit einem bloßen Scheinen zu tun hat, ist, man kann das überall nachlesen, wo man auf Ehrlichkeit hoffen darf, der unüberwindliche Fallstrick, in dem wir zappeln, nachdem unsere sogenannte Vernunft vor drei-, vierhundert Jahren in einer großangelegten Säuberungsaktion den Plunder, den sie nun nicht mehr zu brauchen meinte, beiseitezuschieben begonnen hat, und dadurch die Notwendigkeit erwuchs, man könnte auch sagen: die Überlebensstrategie, den Tod so weit wie möglich von uns wegzuschieben. Ohne einen Gott, der einem ein Paradies jenseits des Gebirges verspricht, und ohne eine große Idee, die jeder Erschütterung standhält und für die man im Zweifelsfall zu sterben bereit wäre, und ohne irgendeine Illusion, und wenn es nur die wäre, dass wir, in unserer Essenz, für alle Zeiten in einem endlosen Kreislauf immer wieder dorthin zurückkehren dürfen, wo wir schon unzählige Male zuvor gewesen sind, ist die Welt nicht mehr als eine völlig leergesaugte, ausgehöhlte Frucht, in die man nicht zu fest beißen sollte, will man mit den Zähnen nicht in den Hohlraum in ihrem Innern vorstoßen. Zwei bewundernswürdige Gaben hat der Mensch aber, von wem auch immer, mit auf den Weg bekommen, und das ist zum einen die, sich selbst und seinen Mitmenschen das Leben zur Hölle zu machen, und zum anderen die, die inneren Augen so fest zukneifen zu können, dass er nicht nur nichts mehr sieht, sondern zudem auch nicht mehr weiß, was er irgendwann einmal gesehen hat, und diese selbstgewählte Dunkelheit blendet fortan konsequent das Einzige aus, was Wahrheit heißen darf, eine Wahrheit, die nun nicht mehr wie eine alarmierende Neonreklame blinkt, sondern zu einer schwach flackernden Funzel geworden ist, deren Brennen irgendwo im Hinterkopf man die meiste Zeit kaum noch bewusst spürt, und die nur dann etwas Wind zugefächelt bekommt, der sie ekstatischer tanzen lässt, wenn der schlichte Satz WE ALL DIE! durch ein Schlupfloch, das ihm die Außenwelt gerissen hat, sei es auch nur eine Textzeile in einem The-Cure-Song, zu ihr hineindringt, nur um dann aber sofort eine Käseglocke übergestülpt zu bekommen, deren verzweifelter und zum Scheitern verurteilter Versuch es ist, ihr jegliche Sauerstoffzufuhr abzuschneiden. Alles, was wir tun, hat letztendlich nur den einen Zweck, unseren Tod zu leugnen. Was wir wollen, ist unsterblich zu sein. Jedes Kunstwerk, jedes Neugeborene, jede wissenschaftliche Leistung erwächst aus dem primär egoistischen Motiv, sich den eigenen Tod erträglich zu machen. Jeder Partnerschaft liegt die Idee zugrunde, in hoffentlich noch ferner Zukunft jemanden an seiner Seite zu haben, der einem beisteht, wenn man selbst so weit ist, ins große Nichts einzugehen. Jede philosophische, politische Idee dient als Mittel, einen glauben zu lassen, man habe sein sinnloses Leben wenigstens für eine Sache genutzt, die den Mitmenschen oder nachkommenden Generationen zugutekommen wird. Allein dass ich diese Zeilen hier schreibe, bedeutet nichts anderes als, dass ich mir meiner Sterblichkeit bewusst und der Meinung bin, sie seien es wert, von mir erhalten zu werden, für irgendwen, für irgendwann. Leicht lässt es sich sterben, sofern man weiß, dass man etwas zurücklässt, das über einen selbst hinausweist. Das kann ein Kind sein, ein Romanzyklus oder die Gewissheit, anständig und glücklich gelebt zu haben, was auch immer das nun wieder bedeuten mag. Für mich hat diese Erkenntnis etwas Befreiendes, was man allein daran sieht, dass ich von den zwei Wegen, die sich einem anbieten, wenn man erst einmal so weit gewandert ist, dass man mit dem Kopf gegen die Decke des eigenen Denkens stößt, nicht den einfachsten gewählt habe, und das eben nicht nur, weil Camus mir vor Jahren schon in einem ernsten Männergespräch unter vier Augen von ihm abgeraten hat. Willkommen im postnihilistischen Zeitalter! schrieb jemand über Nacht an meinen Spiegel, um mir klarzumachen, dass die Entwertung alle Werte, hat man erst die Phasen des Schmerzes und der Leere überstanden, eine nicht zu hoch einzuschätzende Möglichkeit in sich birgt, nämlich selbst zum Gott zu werden und mit Sinn auszustaffieren, was man selbst mit ihm gefüllt sehen möchte, und nichts gelten zu lassen als das, was man aus sich selbst heraus als wahr erkennt, und mit dem ironischen Grinsen eines barocken Totenschädels der Vergänglichkeit entgegen zu grinsen, nur ernst zu nehmen, was einen selbst ernstnimmt, sich aus dem herauszuwinden, was einem nicht behagt, sich in der von Maden wimmelnden Fruchthülse aus angeknabberten Kernen und allmählich braun werdendem Fruchtfleisch eine Hütte zu bauen, in der es sich ruhig und ungestört träumen lässt.
5. Was ich liebe, und zwar wirkliche LIEBE, das ist, wie Truffaut es selbst in LA CHAMBRE VERTE nicht lassen kann, seinen Filmenthusiasmus permanent mittels feinster Anspielungen oder der Wahl bestimmter Stilmittel zum Aufblitzen zu bringen. Man denke nur an die Szene nahezu exakt bei der Hälfte der Laufzeit, wenn Davenne bei einem Wachsfigurenkonstrukteur die dort in Auftrag gegebene Puppenimitationen seiner toten Frau in Augenschein nimmt, und mit Schrecken feststellt, dass die Kopie dem Original niemals das Wasser wird reichen können, worauf er sofort anordnet, man möge sie vor seinen Augen vernichten. Gefilmt aus einem Winkel, der mehr erahnen lässt als zeigt, sehen wir nun, wie der Wachsfigurenhersteller nach kurzem Zögern seine Kreation, die wie eine Leiche auf einer Bahre liegt, mit einem Beil regelrecht zerstückelt: eine Szene wie aus einem beliebigen klassischen Horrorfilm, nicht nur, was das Setting betrifft, sondern auch den Umstand, dass da eindeutig zerhackt wird, was jemandem, der nur diese eine Szene zu Gesicht kriegt, unweigerlich wie ein „echter“ Frauenkörper erscheinen muss. Dann hätten wir noch Davennes unfreiwillige Nacht auf dem Friedhof, so unaufgeregt, so mit morbider Romantik eingefangen, dass ein Vergleich zu Jean Rollins Meisterwerk LA ROSE DE FER in meinem Kopf gar nicht ausbleiben kann, oder solche Irritationen wie eine längere Dialogpassage, bei der Davenne und seine Bekannte Cecilia Mandel in dessen Auto sitzen, während er, obwohl er fährt, sie so häufig und penetrant anblickt, dass die Illusion gar nicht erst aufkommt, sie säßen in einem wirklich sich in Bewegung befindlichen Fahrzeug und seien, zumal der Bildhintergrund schwärzestes Schwarz ist, nicht in einem Studio abgefilmt worden, eine fehlende Illusion, die Truffaut kurz darauf indes einlöst, wenn Davenne plötzlich nach einem kleinen Streit anhält, die Perspektive wechselt und die Kamera beweist: natürlich ist das ein echtes Auto und natürlich hat Truffaut hinterm Steuer gesessen, was allerdings freilich noch lange nicht heißt, dass die Szene zuvor nicht doch in einem Studio hätte entstanden sein können. Am augenzwinkerndsten sind aber freilich die Anspielungen, mit denen Truffaut auf sein eigenes Schaffen verweist. Der Beginn von LA CHAMBRE VERTE, aus Originalaufnahmen der Schützengräben des Ersten Weltkriegs bestehend, beispielweise muss jeden, der den Film gesehen hat, freilich sofort an sein frühes Meisterwerk JULES ET JIM erinnern, wo ja ebenfalls die Schrecken des Krieges mittels Archivmaterial verdeutlicht wurden, was damals wiederum , zumindest für mich, eine eindeutige Hommage an Abel Gances J’ACCUSE darstellte. Den taubstummen Sohn von Davennes Haushälterin findet man einerseits schon vor LA CHAMBRE VERTE in den ebenfalls sich ohne Gehör und Sprache ver-ständigenden Kindern in dem Erziehungsheim, das zu Anfang von L’ENFAN TSAUVAGE gezeigt wird, außerdem gemahnt sein Verhalten in einer Szene, als er eine kindliche Revolte startet, indem er ein Schaufenster einschmeißt und daraufhin von einem Wachmann gepackt und erstmal in eine Gefängniszelle gesteckt wird, überdeutlich an das, das der junge Antoine Doinel in LES QUATRE CENTS COUPS an den Tag legt. Ganz großes Kino, sage ich, ein Kino, das einerseits nie unter den Tisch kehrt, dass es Kino ist, und andererseits ein Kino, das so sehr über sich hinaus transzendiert, dass es sich wirklicher anfühlt als die Wirklichkeit.
6. Es ist für uns heute kaum noch vorstellbar, wie still die Welt in früheren Zeiten gewesen sein muss, wie still und, was damit einherzugehen scheint, wie finster. Höchstens kann man das noch nachvollziehen, wenn man das Abenteuer unternimmt, in einer Gegend zu bleiben, wo, nachdem man mal wieder eine bislang versteckte Bombe aus dem Zweiten Weltkrieg entdeckt hat, die gesamte Bevölkerung aus Sicherheitsgründen gebeten wird, ihre Häuser zu verlassen, um solange woanders unterzukommen bis der Fund entschärft worden ist, und dann durch die verwaisten Straßen zu spazieren, sozusagen balancierend auf der Möglichkeit, man könne, wenn alles schiefläuft, gleich mit allem anderen zusammen in die Luft fliegen, oder aber, wozu man weniger Mut und Zufälle braucht, wenn in der Gasse, wo man wohnt, mitten in der Nacht mal wieder die Stromversorgung ausfällt und plötzlich alle Laternenköpfe wie Kerzen ausgeblasen werden, und man hinaustritt und kaum fassen kann, wie schwarz plötzlich alles um einen herum ist. Heidegger schreibt: Die Stille stellt das Sein ins Nichts, und für die Dunkelheit trifft wohl das Gleiche zu, und ein Sein, das ins Nichts gestellt ist, das ist so unheimlich, dass man normalerweise damit nichts zu schaffen haben mag: besser ist es, wenn das Sein einem lauten, lärmendem, bunten Fest gleicht, in dem so viel Ablenkungsmanöver einen umschwirren, dass man kaum dazu kommt, Atem zu schöpfen. So wie die moderne Gesellschaft den Tod immer weiter zum Paria macht, so trifft die gleiche Erfahrung auch Schwesterchen Stille und Brüderchen Finsternis. Überall haben unsere Ohren und Augen etwas zu tun. Meist nichts Anspruchsvolles. Ekligen Muzak in Supermärkten zum Beispiel. Oder einen Fernsehapparat, der als reine Beschallungsmaschine im Hintergrund läuft. Im Film ist es genauso. Da ist ein gewisses Unbehagen, das sich einschleicht, wenn man beispielweise Filme von Stan Brakhage oder Philippe Garrel sieht, die von ihren Regisseuren jegliche Tonspur verweigert bekommen haben. Man ist auf die Bilder angewiesen, und die sind stumm, scheinen vordergründig nichts zu sagen, und das macht ein mulmiges Gefühl. Oder ein Zimmer komplett ohne Licht, sofern das heutzutage überhaupt zu bewerkstelligen ist, deswegen: ein Zimmer mit so wenig Licht wie möglich, dazu Musik. Für viele wirkt das unbefriedigend. Es fehlt etwas. Unsere Sinne sind zu einer Einheit zusammengeschmolzen, die, auseinandergenestelt, krächzend nach dem Weggenommen zu kreischen anfängt. Ich kann es mir sparen, darauf herumzureiten, dass der Tod beides ist, Stille und Schwärze in einem, lieber sattele ich mein Pferd und führe es bei Mitternacht den kahlen Berg hinauf.
7. Julienne Davenne ist zwar Sammler – er stopft sein Leben mit materiellen Dingen aus, die auf die Personen verweisen, die vor ihm gegangen sind -, gleichzeitig ist er aber mehr als das, nämlich jemand, der sich seiner Sammlung mit einer Obsession widmet, die sie zu seinem, scheint es, einzigen Lebenszweck werden lässt. In einer Dialogpassage zwischen Cecilia und ihm wird das besonders deutlich. Julienne ist ganz verwundert und beinahe schon gekränkt, als Cecila ihm versichert, all ihre Toten seien für sie nur eine einzige Kerzenflamme, sie bräuchte nicht nur für jeden einen eigenen Altar, sondern es reiche ihr einer, an dem sie für sie alle zusammen beten kann. Ganz anders ist da seine Kapelle aufgebaut: jeder seiner Toten hat dort sein Plätzchen, jeder steht für sich, der Raum ist von einer Myriade Kerzenflammen erhellt. So gesehen sitzt Julienne nicht nur passiv trauernd da, er wandelt seine Trauer in Aktivität um, allein, wenn er die Kapelle zum Gebrauch herrichtet, oder wenn er im stillen Gedenken einen Toten nach dem anderen durchgeht, um sie demokratisch mit Andacht zu bedenken. Julienne wirft im Laufe des Films seinen Job hin, zieht sich mehr und mehr aus der Gesellschaft zurück, tritt bald auch physisch ein ins Totenreich. Zuvor hat er, wie bereits erwähnt, für eine Zeitung geschrieben. So wie Truffaut. Der begann ja bekanntlich, wie so ziemlich alle Nouvelle-Vague-Regisseure, als Kritiker. Erst schrieb er über das, was er liebt, dann ließ er diese Liebe zur Obsession, zum Beruf, zur Berufung werden. So einfach das klingt, so weitreichend spinnen sich die Folgen in meinem Kopf. Ich meine, warum schreibe ich diese Zeilen? Weshalb schreibe ich überhaupt? Wieso einen Film nicht nur genießen, innerlich bejubeln, und es dabei gut sein lassen? Wozu die Worte, die das innerliche Erleben mehr schlecht als recht in etwas Äußeres übersetzen? Wozu jemandem, der nicht man selbst ist, von seiner Liebe, wozu auch immer, erzählen? Eben weil das Sammeln allein nicht zureicht. Es befriedigt nicht, nur in sich aufzusaugen, nur zu rezipieren, nur ein Schwamm zu sein. So völlig ohne Wechselseitigkeit funktioniert keine Beziehung. Man kann nicht nur nehmen, man verspürt den natürlichen Drang, zurückgeben zu wollen, in Worten, in Bildern, wie auch immer. Bei Julienne artet das zu einer Art Manie aus, bei Truffaut hat es dazu geführt, dass er zu einem der renommiertesten Regisseure seiner Zeit avancierte, bei mir mündet es in diesem kleinen Text, den ich wiederum schreibe, um weiterzureichen, was ich selbst empfangen habe. In einer Welt ohne Gott sind das die engen Nischen, wo die Katzen der Religion noch ein paar wirklich wohlgenährte Mäuse fangen können. Erst folgt die Kreuzigung, dann gebe ich mich hin, mit den paar Worten, die meine sind. Blut und Wein.
8. In einer der ergreifendsten Szenen der Filmgeschichte präsentiert Julien Davenne Cecila Mandel seine zum Totenrefugium hergerichtete Kapelle. Von Photo zu Photo wandert er, stellt der jungen Frau die auf ihnen Festgehaltenen und nun längst zu Staub und Asche Verfallenen vor. Allesamt sind es Freunde von ihm, teilweise seit über einem Jahrzehnt nicht mehr am Leben. Der Ton seiner Stimme ist die eines Mannes, der vergilbte Photoalben durchblättert, in Nostalgie schwelgend, von Erinnerungen durchwühlt, die seinen Worten nur unzureichend oder gar nicht Ausdruck geben können. Hochinteressant wird diese, im Kontext des Filmgeschehens schon höchstemotionale Szene indes erst, wenn man als Zuschauer eine Metaebene nach oben klettert und sich fragt, wer denn die Personen sind, die Truffauts Davenne als angeblich von Krieg und Zeit dahingeraffte Freunde vorstellt. Einige erkennt man vielleicht schon mit bloßem Auge. Oscar Wilde ist darunter. Oskar Werner, einer der Hauptdarsteller aus JULES ET JIM. Jeanne Moreau, Jean Cocteau. Truffauts noch lebende Freunde im wahren Leben, seine Idole, die er nie persönlich gekannt haben kann, da sie lange vor seiner eigenen Geburt verstarben. Dann ist da noch ein Photo, das einen Mann mit Dirigentenstock zeigt. Offenbar leitet er gerade ein ganzes Orchester an. Davenne schwärmt von der himmlischen Musik, die dieser Mann der Welt zu geben imstande war, und das ist das Signal für die Musik auf der Tonspur anzuschwellen und für einen Moment die Bilder regelrecht zu überlagern. Der Soundtrack stammt von Maurice Jaubert, dem Mann auf dem Photo. Zum Zeitpunkt des Entstehens von LA CHAMBRE VERTE ist dieser schon beinahe vierzig Jahre tot gewesen.
9. Photographie und Tod unterhalten eine innige Beziehung, deren Wesen in Truffauts Film schlicht und offensichtlich zutage gefördert wird, und das zwei Jahre bevor Roland Barthes mit LA CHAMBRE CLAIRE wesentlich weniger schlicht, jedoch nicht weniger ergreifend diese Zusammenhänge zwischen Vergänglichkeit des irdischen Lebens und der Aufbewahrungsfunktion im photographischen Medium für mich bis heute am tiefsinnigsten aufdecken wird. Barthes schreibt: „Denn historisch gesehen muss es zwischen der ,Krise des Todes‘, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzt, und der PHOTOGRAPHIE einen Zusammenhang geben; ich für meinen Teil fände es sinnvoller, statt das Auftreten der PHOTOGRAPHIE fortwährend in seinen sozialen und ökonomischen Kontext zu stellen, auch über die anthropologische Beziehung zwischen dem TOD und dem neuen Bild Gedanken machen. Denn in einer Gesellschaft muss der Tod irgendwo zu finden sein; wenn nicht mehr (oder in geringerem Maße) in der religiösen Sphäre, dann anderswo. Die PHOTOGRAPHIE könnte als Erscheinung, die mit dem Schwinden der Riten einhergeht, vielleicht mit dem Vorbringen eines asymbolischen TODES in unserer modernen Gesellschaft korrespondieren, eines TODES außerhalb von Religion und Ritual [...] Mit der PHOTOGRAPHIE betreten wir die Ebene des gewöhnlichen TODES.“ Barthes schreibt weiter: „In gewisser Hinsicht lässt sich die gesellschaftliche Arbeit der Trauer als ein psychosoziales Korrelat des Verwesungsprozesses beschreiben: Was in der Trauerzeit verfällt und schließlich zu wenigen, starren, unveränderlichen Symbolen gerinnt, ist das Bild des Toten selbst – die Erinnerung an sein Leben, sein Aussehen, seine Taten. Während zunächst noch allerlei Assoziationen, ambivalente Empfindungen, verworrenen Schuldgefühle, Tagträume und plötzliche Halluzinationen das Bewusstsein plagen, kommt es langsam zu einer Art von Verknöcherung, zu einer ‚Kristallisierung‘ der Erinnerung, die auch in den Steinen, die für den Toten errichtet werden, entsprechenden Ausdruck findet.“ Damit steht die Photographie, wie sie von Barthes und Truffaut verstanden wird, was ihren Umgang mit dem oder den Toten betrifft, in direktem Gegensatz zu den prä-photographischen Zeitaltern, als Fürsten, die ihre eigene Vergänglichkeit fürchteten, noch wochen- und stundenlang vor den Pinseln ihrer Hofmalern sitzen mussten, um irgendwann einmal EIN einziges Bild besitzen zu können, das sie ihrem Sterben entgegenzuhalten vermochten. In der psychoanalytischen Theorie der Trauer hinterlässt der Verlust eines geliebten Objekts zwar eine tiefe Wunde, die schließt sich früher oder späte aber auf natürliche Weise, sofern der Heilungsprozess nicht gestört wird. Der Trauernde muss sich an die Abwesenheit dessen gewöhnen, was ihm fehlt, muss seine noch am Lebenden fixierte Libido vom toten Objekt abziehen. So definiert Sigmund Freud Trauer. Barthes nun schreibt der Photographie zu, besonders prädestiniert eben nicht für mehr oder weniger geglückte Trauerarbeit zu sein, sondern es eher mit der sogenannten Melancholie zu halten. Eben weil vom geliebten und verlorenen Objekt eine Spur bewahrt blieb, eine Spur aus Licht auf einem Photo, wird das, was in der Wirklichkeit nichts weiter als eine Leerstelle bedeutet, dennoch über diese Spur mit der Gegenwart verbunden. Das geliebte Objekt kann demnach mittels der Photographie aufgegeben werden, ohne dass man die Liebe zu ihm lassen müsste. Truffaut veranschaulicht das an Davenne auf, wie gesagt, einfache, aber prägnante Weise. Sich in einem Zustand der konstanten Melancholie befindend, ganz für seine Toten lebend, hat er überhaupt kein Verständnis dafür, als er erfährt, dass sein Schwager sich innerhalb kürzester Zeit über den Verlust seiner Gattin hat hinwegtrösten und eine andere ehelichen können. Während dieser eben die Trauer zulässt und sie damit überwindet, um schlussendlich zurück ins Leben zu treten, verharrt Davenne in seiner Lethargie, die von den vielen Photographien, die er beispielweise von seiner toten Frau besitzt, unablässig, wie ein nie wirklich hochaufschlagendes, aber auch niemals in sich zusammenbrechendes Feuer, genährt wird. Er ist sozusagen der Prototyp des photographischen Melancholikers, wie ihn zwei Jahre später Roland Barthes beschreiben sollte.
10. Aber um zum Abschluss noch einmal auf meine geliebte Metaebene zurückzukehren: LA CHAMBRE VERTE ist ein Film, und damit eine recht kuriose Melange aus Fiktion und Realität. Was ist Film? Diese Frage hat vor Jahren ein Dozent in einem Seminar zu transkulturellem Kino gestellt. Ich habe ihm geantwortet: Es ist die einzige uns bekannte Möglichkeit, unsere Toten in ihrer Körperlichkeit zu bewahren. Ein Photo bewegt sich nicht. Es ist wie gefroren. Eine Momentaufnahme, ein Fragment. Ich hatte klingen wollen wie der Regisseur in Zulawskis LA FEMME PUBLIQUE, als der erklärt, Filme seien für ihn so etwas wie Schreine, in denen die verrinnende Zeit konserviert wird, und die Menschen, die sie ohne Gnade mit sich führt. Er zählt die auf, die bereits vor Vergessen und Verfall bewahrt wurden: Gabin, James Dean, Marilyn. Nur wenige Jahre nach LA CHAMBRE VERTE ist Truffaut übrigens selbst verstorben. Knapp über fünfzig ist er geworden. Früh für uns. Ist dann LA CHAMBRE VERTE nicht ebenfalls so etwas wie ein Schrein, aus dem er heraus er vier Dekaden später zu mir spricht und mich ihm nahefühlen lässt, als säße er wirklich dicht neben mir. Ein Gespensterbesuch, eine Erscheinung. Mit einem Photo hätte er mir all das nicht auf diese Weise sagen können. Ich begreife zum hundertsten Mal, weshalb ich nicht Gott, sondern Cineast geworden bin.
Originaltitel: La Chambre Verte
Herstellungsland: Frankreich 1978
Regie: Francois Truffaut
Darsteller: Francois Truffaut, Nathalie Baye, Jean Dasté, Jean-Pierre Ducos, Jane Lobre, Jean-Pierre Moulin
1. In meiner persönlichen Geschichte des Films dienen die Lebens- und Schaffensläufe der beiden französischen Regisseure Jean-Luc Godard und Francois Truffaut vor allem dazu, die unterschiedlichen Wege aufzuzeigen, die ein Künstler, der bei einer grundlegenden, Grundfesten erschütternden Revolte begonnen hat, in der Folge einschlagen kann. Godards Oeuvre ist, bezogen auf seine Struktur, auf seine Genese, im Grunde eines ohne großartige Brüche. Am verwunderlichsten mag es noch scheinen, dass dieser kinematographische Aufrührer seine Karriere mit einem Publikumserfolg startete. A BOUT DE SOUFFLÉ ist damals nicht schlecht angekommen, und soll, laut eigener Aussage, einer der wenigen seiner Filme gewesen und geblieben sein, mit denen er wirklich rein ökonomisch einen Gewinn hatte erzielen können. Von seinem Debut an entwickelte Godard sich dann durchaus logisch immer mehr bis zur Grenze der Abstraktion, und letztlich darüber hinaus. Sind seine Filme zunächst noch unterhaltsame Verwirrspiele mit Genre-Versatzstücken, politischen Kommentaren und reichlichen, von überallher aufgesammelten, Zitaten, die allerdings noch immer, wenn auch vielleicht nur mit den Zehenspitzen, auf dem Boden des kommerziellen Kinobetriebs stehen, stellt WEEK END im Jahre 1967 so etwas wie die ultimative Absage an ein kapitalistisches System dar, von dem Kunst als bloße Ware behandelt wird, und dem Godard demonstrativ den Rücken kehrt, indem er für Jahre in der Anonymität eines marxistischen Filmkollektivs untertaucht, proklamierend, dass es sein Anliegen fortan nicht mehr sein solle, politische Filme zu drehen, vielmehr müssten seine Arbeiten von nun an als Politik verstanden werden, die mittels Filmen betrieben wird. Dass Godard in den späten 70ern sich zaghaft wieder dem klassischen Schauspielkino angenähert hat, tut dieser Verweigerungshaltung keinen Abbruch, erweckt doch bis heute keins seiner Werke mehr auch nur ansatzweise den Eindruck, es sei primär dafür konzipiert worden, sein Publikum nicht mit seinem hyperintellektuellem Anstrich und seinen guerillaartigen Konventionstorpedierungen gnadenlos zu überfordern. Ganz anders Truffaut, dessen Filmographie, obwohl auch bei ihr natürlich deutlich wird, dass sie die eines Auteurs ist, voller Überraschungen steckt, die sie uneinheitlicher, ambivalenter werden lassen. Welten liegen beispielweise zwischen seiner genre-affinen Hitchcock-Hommage LA MARIÉE ÉTAIT EN NOIR, veröffentlicht im Jahre 1968, während Godard cineastische Molotowcocktails um sich schleuderte, und dem nur zwei Jahre später entstandenen, minimalistisch-meditativen L’ENFANT SAUVAGE, mit dem er, völlig ohne Effekte und Schauwerte, eine Quasi-Dokumentation über die Sozialisierung eines wilden Kindes Anfang des 19.Jahrhunderts lieferte. Eins jedoch ist bei allen Arbeiten Truffauts offensichtlich: da, wo Godard ab einem bestimmten Zeitpunkt darauf pfeift, seine Zuschauer irgendwo abzuholen, um sie irgendwo hinzubringen, sie ihm vielmehr reichlich gleichgültig zu sein scheinen, ist es Truffaut immer daran gelegen, Filme zu drehen, die ihr Publikum finden, die nicht ungehört in dunklen Winkeln verharren, die vor allem rezipiert werden, und das bis hin zu dem Umstand, dass ein Werk wie beispielweise seine Biographie der im Wahnsinn geendeten Tochter Victor Hugos namens Adele aus dem Jahre 1975 die Normen des „normalen“ Erzählkinos der westlichen Welt so sehr umarmt, dass in ihm von dem einstigen revolutionären Gestus kaum noch etwas zu finden ist. Während Godard den Werte der Nouvelle Vague dahingehend bis heute treu blieb, dass er seine geballte Faust nie zu einer Hand entfaltete, die er einem eben nicht geistig in seinen Sphären herumschwirrendem Massenpublikum versöhnlich hinstreckt, hat Truffaut die Ideale seiner Jugend, wenn nicht verraten, so doch zumindest mit der Gewissheit weitgehend beiseitegeschoben, dass es wichtiger ist, gehört zu werden, wenn man etwas zu sagen hat, als ungehört für sich allein oder drei, vier Eingeweihte in einer engen Kammer einen Monolog zu halten.
2. In meinem Kopf existiert seit Jahren schon ein Film. Ein Mädchen sitzt in einem Garten und redet über den Tod. Die starre Kamera vor ihr ist nüchtern wie ihre Stimme, die wiedergibt, was man auch in jedem medizinischen Fachbuch lesen kann. Der Tod, von dem sie da spricht, ist ein biologisches Faktum, ein Ineinandergreifen verschiedener chemischer Prozesse, eine messbare Angelegenheit, der nichts Metaphysisches anhaftet, ein völlig natürlicher Akt, den man, wie sie es tut, in einer langen Kette von Fachtermini und Abstrakta ausdrücken kann. Dabei ist sie zugleich naiv, unbefangen. Der Tod, von dem sie da spricht, schürt keine Angst, keine Unruhe. Es ist Sommer, der Garten eine Idylle, in dem ein Teich in der Sonne schläft, Vögel zwitschern und das Mädchen, zwischen ihren Monolog geschnitten, ausgiebige Streifzüge unternimmt. Auf mich wirkt sie wie eine Nymphe, deren Konturen nicht viel fehlt und sie hören auf, Konturen zu sein und verschmelzen mit dem Paradies, das sie umgibt. Sie ist barfuß. Ihre nackten Sohlen beugen Grashalme, mit den Zehen zerbricht sie die Oberfläche des Teichs, sie lehnt an einem Apfelbaum, blickt lächelnd durchs Geäst zum blauen Himmel. Es ist Sommer, und sie sagt, dass wir alle sterben werden. Tod im Juni.
3. LA CHAMBRE VERTE ist Truffauts persönlichster Film. Wie so oft formuliere ich als einen Fakt, was ich nur vermuten kann. Wie komme ich dazu? Er spielt die Hauptrolle. So wie in L’ENFANT SAUVAGE. Der auch ein persönlicher Film von ihm ist. Sein zweitpersönlichstes meinem Gefühl nach. Sofern man das überhaupt so messen kann und sollte. Da hat er einen Arzt im frühen neunzehnten Jahrhundert gespielt, der einen im Wald gefundenen Jungen zu erziehen versucht. Der Film ist Jean-Pierre Léaud gewidmet. Das ist ein anderer Junge, der vom Kino regelrecht sozialisiert worden ist, zehn Jahre zuvor, in LES QUATRE CENTS COUPS. Gleichzeitig verweist Truffaut aber auch auf sich selbst, auf seinen Ziehvater, den er wiederum über ein Jahrzehnt zuvor im Filmkritiker und –theoretiker Andre Bazin gefunden hatte. Ganz abgesehen von all dem schnöden Hintergrundwissen wirkt LA CHAMBRE VERTE aber einfach persönlich, exakt so, als würde Truffaut alle Masken, d.h. filmische Verstellungen, seien sie nun ungebrochene oder gebrochene Konventionen, fallenlassen, sich zu mir setzen und mit milder Stimme, ruhig und besonnen, über die Dinge Auskunft erteilen, von denen ihm wichtig ist, dass man sie von ihm erfährt. Da ist nichts mehr übrig von der spielerischen Lockerheit eines BAISER VOLIERS. LA CHAMBRE VERTE ist ein nackter Film, den man schonungslos nennen könnte, wenn dieses Wort nicht immer diesen etwas seltsamen Beigeschmack davon hätte, dass einen etwas dorthin führt, wo es ganz besonders schmerzt. Aber Truffauts Film schmerzt zumindest mich nicht besonders, er stimmt eher versöhnlich, mit dem Leben und mit dem Sterben und mit dem ganzen kümmerlichen oder glorreichen Rest. Sein Thema ist eben das: wir leben, um zu sterben, und wir sterben gemeinhin, wenn wir denken, noch nicht genug gelebt zu haben, und das ist eine Erfahrung, die der Held des Films, ein Mann mittleren Alters namens Julien Davenne, zwar noch nicht am eigenen Leib erlebt hat, trotzdem ist der Tod wohl das bestimmende Leitmotiv, das sein Leben nun schon seit einer Dekade durchzieht. Wir befinden uns in einer französischen Kleinstadt Ende der zwanziger Jahre, und Davenne ist Mitarbeiter einer Zeitung, von seinem Vorgesetzten dafür gelobt, die ergreifendsten Nachrufe zu verfassen, und das, wie der gute Mann betont, ohne auch nur einmal die gleiche Wortwahl zweimal zu benutzen, auf so vertrautem Fuß scheint Davenne mit dem Tod zu stehen, dass er unzählige Redewendungen parat hat, ihn mit den Lebenden in Verbindung zu setzen. Das ist kein Zufall. Julien Davenne ist Soldat gewesen, hat im Ersten Weltkrieg unzählige Freunde und Kameraden verloren, selbst ist er, wofür er sich vielleicht insgeheim Vorwürfe macht, so gut wie verschont geblieben, nicht mal ein Bein hat er eingebüßt, dafür kurz nach Friedensschluss seine über alles geliebte Frau. Für alle seine Tote nun hat er einen eigenen Raum in dem Haus eingerichtet, das er gemeinsam mit seiner Haushälterin Madame Rambaud und deren taubstummen Sohn bewohnt, das sogenannte Grüne Zimmer, das voll ist von Photographien und Erinnerungsstücken. Als dieses Zimmer Feuer fängt und Julien kurz darauf bei einer seiner langen Wachen am Grab seiner Frau vom Friedhofswächter kurzerhand auf dem Gräberfeld eingeschlossen wird, entdeckt er eine verwaiste Kapelle, von der er es schafft, die örtlichen Klerikalen zu überzeugen, sie ihm zum Andenken seiner Toten zu überlassen. Ohne zu viel verraten zu wollen: mehr passiert in der Folge an bloßen Handlung auch nicht. LA CHAMBRE VERTE ist still wie ein Gottesdienst, und Truffaut der völlig unaufdringliche, sympathische Priester, der uns auf seine unnachahmliche, unvergleichliche Art, an die Themen heranführt, die wir geneigt sind, zu verdrängen oder zu vergessen, ohne spektakuläre Schauwerte, ohne Extravaganzen, ohne Revolte, nicht mal eine richtige Geschichte will er erzählen, und falls das dann doch eine Revolte sein sollte, dann eine, die flüstert, wo andere schreien. Ich fühle mich Julien Davenne nahe. Ich fühle den Schmerz dieses Mannes, glaube, ihn zu verstehen, ihn und seine Emotionen, und dass Truffaut das schafft, dass er zum Leben erweckt, was so sehr dem Tod geweiht ist, dass er nicht nur als Regisseur, sondern zudem als Schauspieler auf ganzer Linie wenigstens mich überzeugt, und dass er dazu nichts weiter bedarf als der einfachsten Mittel, die man sich denken kann, das spricht so sehr für ihn und seinen Film, dass ich ihn aus seinem dann doch ziemlich wechselhaften und umfassenden Oeuvre vor allen anderen am liebsten mag: eben, weil er nicht verhehlt, dass ich bald wie eine von Davennes Erinnerungsstückchen sein werde, ein Schmauchspur in einigen wenigen Köpfen, die indes das gleiche Schicksal wie mich ereilen wird, früher oder später, aber dass das auch nicht weiter schlimm ist, da ich einen Film wie LA CHAMBRE VERTE sehen durfte, und dass überhaupt die Kunst, mit der ich mich umgebe, alles erdenkliche und unerdenkliche Übel zu ertragen lehrt.
4. Überhaupt wächst mit der Zeit, wenn man sich allzu oft auf Friedhöfen aufhält und die allzu schonungslosen eigenen oder fremden Gedanken wiederkäut, die Grundüberzeugung, dass der Tod letztlich die einzige Realität darstellt, von der wir sagen können, dass sie bestehen bleibt, selbst wenn wir sie noch so oft zu dekonstruieren versuchen. Dass diese Realität schmerzt, weil sie im Grunde jeden Sinn und jede Bedeutung dessen, was wir sonst Realität zu nennen gewohnt sind, leugnet, indem sie unmissverständlich darauf hinweist, dass alles, und zwar wirklich alles, dazu verurteilt sein wird, irgendwann nicht mehr zu sein, und demnach, in gewisser Weise, schon jetzt überschattet von seinem kommenden Schicksal, mehr mit einem bloßen Scheinen zu tun hat, ist, man kann das überall nachlesen, wo man auf Ehrlichkeit hoffen darf, der unüberwindliche Fallstrick, in dem wir zappeln, nachdem unsere sogenannte Vernunft vor drei-, vierhundert Jahren in einer großangelegten Säuberungsaktion den Plunder, den sie nun nicht mehr zu brauchen meinte, beiseitezuschieben begonnen hat, und dadurch die Notwendigkeit erwuchs, man könnte auch sagen: die Überlebensstrategie, den Tod so weit wie möglich von uns wegzuschieben. Ohne einen Gott, der einem ein Paradies jenseits des Gebirges verspricht, und ohne eine große Idee, die jeder Erschütterung standhält und für die man im Zweifelsfall zu sterben bereit wäre, und ohne irgendeine Illusion, und wenn es nur die wäre, dass wir, in unserer Essenz, für alle Zeiten in einem endlosen Kreislauf immer wieder dorthin zurückkehren dürfen, wo wir schon unzählige Male zuvor gewesen sind, ist die Welt nicht mehr als eine völlig leergesaugte, ausgehöhlte Frucht, in die man nicht zu fest beißen sollte, will man mit den Zähnen nicht in den Hohlraum in ihrem Innern vorstoßen. Zwei bewundernswürdige Gaben hat der Mensch aber, von wem auch immer, mit auf den Weg bekommen, und das ist zum einen die, sich selbst und seinen Mitmenschen das Leben zur Hölle zu machen, und zum anderen die, die inneren Augen so fest zukneifen zu können, dass er nicht nur nichts mehr sieht, sondern zudem auch nicht mehr weiß, was er irgendwann einmal gesehen hat, und diese selbstgewählte Dunkelheit blendet fortan konsequent das Einzige aus, was Wahrheit heißen darf, eine Wahrheit, die nun nicht mehr wie eine alarmierende Neonreklame blinkt, sondern zu einer schwach flackernden Funzel geworden ist, deren Brennen irgendwo im Hinterkopf man die meiste Zeit kaum noch bewusst spürt, und die nur dann etwas Wind zugefächelt bekommt, der sie ekstatischer tanzen lässt, wenn der schlichte Satz WE ALL DIE! durch ein Schlupfloch, das ihm die Außenwelt gerissen hat, sei es auch nur eine Textzeile in einem The-Cure-Song, zu ihr hineindringt, nur um dann aber sofort eine Käseglocke übergestülpt zu bekommen, deren verzweifelter und zum Scheitern verurteilter Versuch es ist, ihr jegliche Sauerstoffzufuhr abzuschneiden. Alles, was wir tun, hat letztendlich nur den einen Zweck, unseren Tod zu leugnen. Was wir wollen, ist unsterblich zu sein. Jedes Kunstwerk, jedes Neugeborene, jede wissenschaftliche Leistung erwächst aus dem primär egoistischen Motiv, sich den eigenen Tod erträglich zu machen. Jeder Partnerschaft liegt die Idee zugrunde, in hoffentlich noch ferner Zukunft jemanden an seiner Seite zu haben, der einem beisteht, wenn man selbst so weit ist, ins große Nichts einzugehen. Jede philosophische, politische Idee dient als Mittel, einen glauben zu lassen, man habe sein sinnloses Leben wenigstens für eine Sache genutzt, die den Mitmenschen oder nachkommenden Generationen zugutekommen wird. Allein dass ich diese Zeilen hier schreibe, bedeutet nichts anderes als, dass ich mir meiner Sterblichkeit bewusst und der Meinung bin, sie seien es wert, von mir erhalten zu werden, für irgendwen, für irgendwann. Leicht lässt es sich sterben, sofern man weiß, dass man etwas zurücklässt, das über einen selbst hinausweist. Das kann ein Kind sein, ein Romanzyklus oder die Gewissheit, anständig und glücklich gelebt zu haben, was auch immer das nun wieder bedeuten mag. Für mich hat diese Erkenntnis etwas Befreiendes, was man allein daran sieht, dass ich von den zwei Wegen, die sich einem anbieten, wenn man erst einmal so weit gewandert ist, dass man mit dem Kopf gegen die Decke des eigenen Denkens stößt, nicht den einfachsten gewählt habe, und das eben nicht nur, weil Camus mir vor Jahren schon in einem ernsten Männergespräch unter vier Augen von ihm abgeraten hat. Willkommen im postnihilistischen Zeitalter! schrieb jemand über Nacht an meinen Spiegel, um mir klarzumachen, dass die Entwertung alle Werte, hat man erst die Phasen des Schmerzes und der Leere überstanden, eine nicht zu hoch einzuschätzende Möglichkeit in sich birgt, nämlich selbst zum Gott zu werden und mit Sinn auszustaffieren, was man selbst mit ihm gefüllt sehen möchte, und nichts gelten zu lassen als das, was man aus sich selbst heraus als wahr erkennt, und mit dem ironischen Grinsen eines barocken Totenschädels der Vergänglichkeit entgegen zu grinsen, nur ernst zu nehmen, was einen selbst ernstnimmt, sich aus dem herauszuwinden, was einem nicht behagt, sich in der von Maden wimmelnden Fruchthülse aus angeknabberten Kernen und allmählich braun werdendem Fruchtfleisch eine Hütte zu bauen, in der es sich ruhig und ungestört träumen lässt.
5. Was ich liebe, und zwar wirkliche LIEBE, das ist, wie Truffaut es selbst in LA CHAMBRE VERTE nicht lassen kann, seinen Filmenthusiasmus permanent mittels feinster Anspielungen oder der Wahl bestimmter Stilmittel zum Aufblitzen zu bringen. Man denke nur an die Szene nahezu exakt bei der Hälfte der Laufzeit, wenn Davenne bei einem Wachsfigurenkonstrukteur die dort in Auftrag gegebene Puppenimitationen seiner toten Frau in Augenschein nimmt, und mit Schrecken feststellt, dass die Kopie dem Original niemals das Wasser wird reichen können, worauf er sofort anordnet, man möge sie vor seinen Augen vernichten. Gefilmt aus einem Winkel, der mehr erahnen lässt als zeigt, sehen wir nun, wie der Wachsfigurenhersteller nach kurzem Zögern seine Kreation, die wie eine Leiche auf einer Bahre liegt, mit einem Beil regelrecht zerstückelt: eine Szene wie aus einem beliebigen klassischen Horrorfilm, nicht nur, was das Setting betrifft, sondern auch den Umstand, dass da eindeutig zerhackt wird, was jemandem, der nur diese eine Szene zu Gesicht kriegt, unweigerlich wie ein „echter“ Frauenkörper erscheinen muss. Dann hätten wir noch Davennes unfreiwillige Nacht auf dem Friedhof, so unaufgeregt, so mit morbider Romantik eingefangen, dass ein Vergleich zu Jean Rollins Meisterwerk LA ROSE DE FER in meinem Kopf gar nicht ausbleiben kann, oder solche Irritationen wie eine längere Dialogpassage, bei der Davenne und seine Bekannte Cecilia Mandel in dessen Auto sitzen, während er, obwohl er fährt, sie so häufig und penetrant anblickt, dass die Illusion gar nicht erst aufkommt, sie säßen in einem wirklich sich in Bewegung befindlichen Fahrzeug und seien, zumal der Bildhintergrund schwärzestes Schwarz ist, nicht in einem Studio abgefilmt worden, eine fehlende Illusion, die Truffaut kurz darauf indes einlöst, wenn Davenne plötzlich nach einem kleinen Streit anhält, die Perspektive wechselt und die Kamera beweist: natürlich ist das ein echtes Auto und natürlich hat Truffaut hinterm Steuer gesessen, was allerdings freilich noch lange nicht heißt, dass die Szene zuvor nicht doch in einem Studio hätte entstanden sein können. Am augenzwinkerndsten sind aber freilich die Anspielungen, mit denen Truffaut auf sein eigenes Schaffen verweist. Der Beginn von LA CHAMBRE VERTE, aus Originalaufnahmen der Schützengräben des Ersten Weltkriegs bestehend, beispielweise muss jeden, der den Film gesehen hat, freilich sofort an sein frühes Meisterwerk JULES ET JIM erinnern, wo ja ebenfalls die Schrecken des Krieges mittels Archivmaterial verdeutlicht wurden, was damals wiederum , zumindest für mich, eine eindeutige Hommage an Abel Gances J’ACCUSE darstellte. Den taubstummen Sohn von Davennes Haushälterin findet man einerseits schon vor LA CHAMBRE VERTE in den ebenfalls sich ohne Gehör und Sprache ver-ständigenden Kindern in dem Erziehungsheim, das zu Anfang von L’ENFAN TSAUVAGE gezeigt wird, außerdem gemahnt sein Verhalten in einer Szene, als er eine kindliche Revolte startet, indem er ein Schaufenster einschmeißt und daraufhin von einem Wachmann gepackt und erstmal in eine Gefängniszelle gesteckt wird, überdeutlich an das, das der junge Antoine Doinel in LES QUATRE CENTS COUPS an den Tag legt. Ganz großes Kino, sage ich, ein Kino, das einerseits nie unter den Tisch kehrt, dass es Kino ist, und andererseits ein Kino, das so sehr über sich hinaus transzendiert, dass es sich wirklicher anfühlt als die Wirklichkeit.
6. Es ist für uns heute kaum noch vorstellbar, wie still die Welt in früheren Zeiten gewesen sein muss, wie still und, was damit einherzugehen scheint, wie finster. Höchstens kann man das noch nachvollziehen, wenn man das Abenteuer unternimmt, in einer Gegend zu bleiben, wo, nachdem man mal wieder eine bislang versteckte Bombe aus dem Zweiten Weltkrieg entdeckt hat, die gesamte Bevölkerung aus Sicherheitsgründen gebeten wird, ihre Häuser zu verlassen, um solange woanders unterzukommen bis der Fund entschärft worden ist, und dann durch die verwaisten Straßen zu spazieren, sozusagen balancierend auf der Möglichkeit, man könne, wenn alles schiefläuft, gleich mit allem anderen zusammen in die Luft fliegen, oder aber, wozu man weniger Mut und Zufälle braucht, wenn in der Gasse, wo man wohnt, mitten in der Nacht mal wieder die Stromversorgung ausfällt und plötzlich alle Laternenköpfe wie Kerzen ausgeblasen werden, und man hinaustritt und kaum fassen kann, wie schwarz plötzlich alles um einen herum ist. Heidegger schreibt: Die Stille stellt das Sein ins Nichts, und für die Dunkelheit trifft wohl das Gleiche zu, und ein Sein, das ins Nichts gestellt ist, das ist so unheimlich, dass man normalerweise damit nichts zu schaffen haben mag: besser ist es, wenn das Sein einem lauten, lärmendem, bunten Fest gleicht, in dem so viel Ablenkungsmanöver einen umschwirren, dass man kaum dazu kommt, Atem zu schöpfen. So wie die moderne Gesellschaft den Tod immer weiter zum Paria macht, so trifft die gleiche Erfahrung auch Schwesterchen Stille und Brüderchen Finsternis. Überall haben unsere Ohren und Augen etwas zu tun. Meist nichts Anspruchsvolles. Ekligen Muzak in Supermärkten zum Beispiel. Oder einen Fernsehapparat, der als reine Beschallungsmaschine im Hintergrund läuft. Im Film ist es genauso. Da ist ein gewisses Unbehagen, das sich einschleicht, wenn man beispielweise Filme von Stan Brakhage oder Philippe Garrel sieht, die von ihren Regisseuren jegliche Tonspur verweigert bekommen haben. Man ist auf die Bilder angewiesen, und die sind stumm, scheinen vordergründig nichts zu sagen, und das macht ein mulmiges Gefühl. Oder ein Zimmer komplett ohne Licht, sofern das heutzutage überhaupt zu bewerkstelligen ist, deswegen: ein Zimmer mit so wenig Licht wie möglich, dazu Musik. Für viele wirkt das unbefriedigend. Es fehlt etwas. Unsere Sinne sind zu einer Einheit zusammengeschmolzen, die, auseinandergenestelt, krächzend nach dem Weggenommen zu kreischen anfängt. Ich kann es mir sparen, darauf herumzureiten, dass der Tod beides ist, Stille und Schwärze in einem, lieber sattele ich mein Pferd und führe es bei Mitternacht den kahlen Berg hinauf.
7. Julienne Davenne ist zwar Sammler – er stopft sein Leben mit materiellen Dingen aus, die auf die Personen verweisen, die vor ihm gegangen sind -, gleichzeitig ist er aber mehr als das, nämlich jemand, der sich seiner Sammlung mit einer Obsession widmet, die sie zu seinem, scheint es, einzigen Lebenszweck werden lässt. In einer Dialogpassage zwischen Cecilia und ihm wird das besonders deutlich. Julienne ist ganz verwundert und beinahe schon gekränkt, als Cecila ihm versichert, all ihre Toten seien für sie nur eine einzige Kerzenflamme, sie bräuchte nicht nur für jeden einen eigenen Altar, sondern es reiche ihr einer, an dem sie für sie alle zusammen beten kann. Ganz anders ist da seine Kapelle aufgebaut: jeder seiner Toten hat dort sein Plätzchen, jeder steht für sich, der Raum ist von einer Myriade Kerzenflammen erhellt. So gesehen sitzt Julienne nicht nur passiv trauernd da, er wandelt seine Trauer in Aktivität um, allein, wenn er die Kapelle zum Gebrauch herrichtet, oder wenn er im stillen Gedenken einen Toten nach dem anderen durchgeht, um sie demokratisch mit Andacht zu bedenken. Julienne wirft im Laufe des Films seinen Job hin, zieht sich mehr und mehr aus der Gesellschaft zurück, tritt bald auch physisch ein ins Totenreich. Zuvor hat er, wie bereits erwähnt, für eine Zeitung geschrieben. So wie Truffaut. Der begann ja bekanntlich, wie so ziemlich alle Nouvelle-Vague-Regisseure, als Kritiker. Erst schrieb er über das, was er liebt, dann ließ er diese Liebe zur Obsession, zum Beruf, zur Berufung werden. So einfach das klingt, so weitreichend spinnen sich die Folgen in meinem Kopf. Ich meine, warum schreibe ich diese Zeilen? Weshalb schreibe ich überhaupt? Wieso einen Film nicht nur genießen, innerlich bejubeln, und es dabei gut sein lassen? Wozu die Worte, die das innerliche Erleben mehr schlecht als recht in etwas Äußeres übersetzen? Wozu jemandem, der nicht man selbst ist, von seiner Liebe, wozu auch immer, erzählen? Eben weil das Sammeln allein nicht zureicht. Es befriedigt nicht, nur in sich aufzusaugen, nur zu rezipieren, nur ein Schwamm zu sein. So völlig ohne Wechselseitigkeit funktioniert keine Beziehung. Man kann nicht nur nehmen, man verspürt den natürlichen Drang, zurückgeben zu wollen, in Worten, in Bildern, wie auch immer. Bei Julienne artet das zu einer Art Manie aus, bei Truffaut hat es dazu geführt, dass er zu einem der renommiertesten Regisseure seiner Zeit avancierte, bei mir mündet es in diesem kleinen Text, den ich wiederum schreibe, um weiterzureichen, was ich selbst empfangen habe. In einer Welt ohne Gott sind das die engen Nischen, wo die Katzen der Religion noch ein paar wirklich wohlgenährte Mäuse fangen können. Erst folgt die Kreuzigung, dann gebe ich mich hin, mit den paar Worten, die meine sind. Blut und Wein.
8. In einer der ergreifendsten Szenen der Filmgeschichte präsentiert Julien Davenne Cecila Mandel seine zum Totenrefugium hergerichtete Kapelle. Von Photo zu Photo wandert er, stellt der jungen Frau die auf ihnen Festgehaltenen und nun längst zu Staub und Asche Verfallenen vor. Allesamt sind es Freunde von ihm, teilweise seit über einem Jahrzehnt nicht mehr am Leben. Der Ton seiner Stimme ist die eines Mannes, der vergilbte Photoalben durchblättert, in Nostalgie schwelgend, von Erinnerungen durchwühlt, die seinen Worten nur unzureichend oder gar nicht Ausdruck geben können. Hochinteressant wird diese, im Kontext des Filmgeschehens schon höchstemotionale Szene indes erst, wenn man als Zuschauer eine Metaebene nach oben klettert und sich fragt, wer denn die Personen sind, die Truffauts Davenne als angeblich von Krieg und Zeit dahingeraffte Freunde vorstellt. Einige erkennt man vielleicht schon mit bloßem Auge. Oscar Wilde ist darunter. Oskar Werner, einer der Hauptdarsteller aus JULES ET JIM. Jeanne Moreau, Jean Cocteau. Truffauts noch lebende Freunde im wahren Leben, seine Idole, die er nie persönlich gekannt haben kann, da sie lange vor seiner eigenen Geburt verstarben. Dann ist da noch ein Photo, das einen Mann mit Dirigentenstock zeigt. Offenbar leitet er gerade ein ganzes Orchester an. Davenne schwärmt von der himmlischen Musik, die dieser Mann der Welt zu geben imstande war, und das ist das Signal für die Musik auf der Tonspur anzuschwellen und für einen Moment die Bilder regelrecht zu überlagern. Der Soundtrack stammt von Maurice Jaubert, dem Mann auf dem Photo. Zum Zeitpunkt des Entstehens von LA CHAMBRE VERTE ist dieser schon beinahe vierzig Jahre tot gewesen.
9. Photographie und Tod unterhalten eine innige Beziehung, deren Wesen in Truffauts Film schlicht und offensichtlich zutage gefördert wird, und das zwei Jahre bevor Roland Barthes mit LA CHAMBRE CLAIRE wesentlich weniger schlicht, jedoch nicht weniger ergreifend diese Zusammenhänge zwischen Vergänglichkeit des irdischen Lebens und der Aufbewahrungsfunktion im photographischen Medium für mich bis heute am tiefsinnigsten aufdecken wird. Barthes schreibt: „Denn historisch gesehen muss es zwischen der ,Krise des Todes‘, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzt, und der PHOTOGRAPHIE einen Zusammenhang geben; ich für meinen Teil fände es sinnvoller, statt das Auftreten der PHOTOGRAPHIE fortwährend in seinen sozialen und ökonomischen Kontext zu stellen, auch über die anthropologische Beziehung zwischen dem TOD und dem neuen Bild Gedanken machen. Denn in einer Gesellschaft muss der Tod irgendwo zu finden sein; wenn nicht mehr (oder in geringerem Maße) in der religiösen Sphäre, dann anderswo. Die PHOTOGRAPHIE könnte als Erscheinung, die mit dem Schwinden der Riten einhergeht, vielleicht mit dem Vorbringen eines asymbolischen TODES in unserer modernen Gesellschaft korrespondieren, eines TODES außerhalb von Religion und Ritual [...] Mit der PHOTOGRAPHIE betreten wir die Ebene des gewöhnlichen TODES.“ Barthes schreibt weiter: „In gewisser Hinsicht lässt sich die gesellschaftliche Arbeit der Trauer als ein psychosoziales Korrelat des Verwesungsprozesses beschreiben: Was in der Trauerzeit verfällt und schließlich zu wenigen, starren, unveränderlichen Symbolen gerinnt, ist das Bild des Toten selbst – die Erinnerung an sein Leben, sein Aussehen, seine Taten. Während zunächst noch allerlei Assoziationen, ambivalente Empfindungen, verworrenen Schuldgefühle, Tagträume und plötzliche Halluzinationen das Bewusstsein plagen, kommt es langsam zu einer Art von Verknöcherung, zu einer ‚Kristallisierung‘ der Erinnerung, die auch in den Steinen, die für den Toten errichtet werden, entsprechenden Ausdruck findet.“ Damit steht die Photographie, wie sie von Barthes und Truffaut verstanden wird, was ihren Umgang mit dem oder den Toten betrifft, in direktem Gegensatz zu den prä-photographischen Zeitaltern, als Fürsten, die ihre eigene Vergänglichkeit fürchteten, noch wochen- und stundenlang vor den Pinseln ihrer Hofmalern sitzen mussten, um irgendwann einmal EIN einziges Bild besitzen zu können, das sie ihrem Sterben entgegenzuhalten vermochten. In der psychoanalytischen Theorie der Trauer hinterlässt der Verlust eines geliebten Objekts zwar eine tiefe Wunde, die schließt sich früher oder späte aber auf natürliche Weise, sofern der Heilungsprozess nicht gestört wird. Der Trauernde muss sich an die Abwesenheit dessen gewöhnen, was ihm fehlt, muss seine noch am Lebenden fixierte Libido vom toten Objekt abziehen. So definiert Sigmund Freud Trauer. Barthes nun schreibt der Photographie zu, besonders prädestiniert eben nicht für mehr oder weniger geglückte Trauerarbeit zu sein, sondern es eher mit der sogenannten Melancholie zu halten. Eben weil vom geliebten und verlorenen Objekt eine Spur bewahrt blieb, eine Spur aus Licht auf einem Photo, wird das, was in der Wirklichkeit nichts weiter als eine Leerstelle bedeutet, dennoch über diese Spur mit der Gegenwart verbunden. Das geliebte Objekt kann demnach mittels der Photographie aufgegeben werden, ohne dass man die Liebe zu ihm lassen müsste. Truffaut veranschaulicht das an Davenne auf, wie gesagt, einfache, aber prägnante Weise. Sich in einem Zustand der konstanten Melancholie befindend, ganz für seine Toten lebend, hat er überhaupt kein Verständnis dafür, als er erfährt, dass sein Schwager sich innerhalb kürzester Zeit über den Verlust seiner Gattin hat hinwegtrösten und eine andere ehelichen können. Während dieser eben die Trauer zulässt und sie damit überwindet, um schlussendlich zurück ins Leben zu treten, verharrt Davenne in seiner Lethargie, die von den vielen Photographien, die er beispielweise von seiner toten Frau besitzt, unablässig, wie ein nie wirklich hochaufschlagendes, aber auch niemals in sich zusammenbrechendes Feuer, genährt wird. Er ist sozusagen der Prototyp des photographischen Melancholikers, wie ihn zwei Jahre später Roland Barthes beschreiben sollte.
10. Aber um zum Abschluss noch einmal auf meine geliebte Metaebene zurückzukehren: LA CHAMBRE VERTE ist ein Film, und damit eine recht kuriose Melange aus Fiktion und Realität. Was ist Film? Diese Frage hat vor Jahren ein Dozent in einem Seminar zu transkulturellem Kino gestellt. Ich habe ihm geantwortet: Es ist die einzige uns bekannte Möglichkeit, unsere Toten in ihrer Körperlichkeit zu bewahren. Ein Photo bewegt sich nicht. Es ist wie gefroren. Eine Momentaufnahme, ein Fragment. Ich hatte klingen wollen wie der Regisseur in Zulawskis LA FEMME PUBLIQUE, als der erklärt, Filme seien für ihn so etwas wie Schreine, in denen die verrinnende Zeit konserviert wird, und die Menschen, die sie ohne Gnade mit sich führt. Er zählt die auf, die bereits vor Vergessen und Verfall bewahrt wurden: Gabin, James Dean, Marilyn. Nur wenige Jahre nach LA CHAMBRE VERTE ist Truffaut übrigens selbst verstorben. Knapp über fünfzig ist er geworden. Früh für uns. Ist dann LA CHAMBRE VERTE nicht ebenfalls so etwas wie ein Schrein, aus dem er heraus er vier Dekaden später zu mir spricht und mich ihm nahefühlen lässt, als säße er wirklich dicht neben mir. Ein Gespensterbesuch, eine Erscheinung. Mit einem Photo hätte er mir all das nicht auf diese Weise sagen können. Ich begreife zum hundertsten Mal, weshalb ich nicht Gott, sondern Cineast geworden bin.