Alberto Cavallone - L'uomo, la donna e la bestia (1977)

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Salvatore Baccaro
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Alberto Cavallone - L'uomo, la donna e la bestia (1977)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: L'uomo, la donna e la bestia - Spell (Dolce mattatoio)
Herstellungsjahr: Italien 1977
Regie: Alberto Cavallone
Darsteller: Maria Pia Luzi, Martial Boschero, Mónica Zanchi, Macha Magall, Paola Montenero

Wer schon einmal versucht hat, einen geliebten Menschen zu beschreiben, wird festgestellt haben, wie schwierig sich das gestaltet. Entweder man gleitet in die bestechende Banalität eines Jürgen-Drews-Songtextes ab oder man findet sich in der Abstraktion der Poesie wieder, erkennend, dass keine der beiden Formen der Wirklichkeit, oder dem, was man dafür hält, tatsächlich entspricht. Von daher soll folgender Text einzig und allein eine ungefähre Annäherung sein an Cavallones L’UOMO, LA DONNA E LA BESTIA – SPELL (DOLCE MATTATOIO) – den ich von nun an aus ökonomischen Gründen nur noch SPELL nennen werde, ohne den geringsten Anspruch, sämtliche Aspekte dieses hyperkomplexen Filmes auch bloß gestreift zu haben.

1. Cavallones Oeuvre im Allgemeinen und SPELL im Besonderen mag randvoll mit Szenen sein, die nicht nur mancher Zu-schauer als durchweg kontrovers, wenn nicht sogar als obszön, empfinden wird. An einem Beispiel möchte ich zeigen, wie behutsam Cavallone jedoch im Grunde mit seinen visuellen Shocks umzugehen weiß. Bei ihm regiert die Provokation nämlich nicht um ihrer selbst willen. Anders als in Werken von ebenfalls in den 70ern in Italien operierenden Regisseuren, die einem so manches vor Auge führen, woran man nicht mal im perversesten Traum zu denken gewagt hat, wie beispielweise Joe D’Amato oder Bruno Mattei, erweist Cavallones Subversion sich als eine weitaus weniger plumpe, eben als echte Kunst und nicht ein halb-seidenes Alibi, die niedrigsten Impulse seiner Zuschauer anzusprechen. In einer der wohl ausgefallensten Szenen SPELLs sehen wir Alfonso, dem örtlichen Metzger, dabei zu, wie er sich erst als Voyeur betätigt und sich an den Reizen lasziv gekleideter Schul-mädchen aufgeilt bevor er sich ins Kühlhaus seiner Schlachterei zurückzieht und leidenschaftlichen Sex mit einer der dort herumhängenden Schweinehälften hat. Was sich anhört wie eine an Widerlichkeit kaum zu übertreffende Szene aus einem verbotswürdigen Extrem-Porno, gestaltet sich unter Cavallones Regie indes wesentlich diffiziler, und das hat nicht nur damit zu tun, dass er das Entscheidende, nämlich die Penetration der Schweinehälfte durch Alfonsos Penis in Großaufnahme, unserer Phantasie überlässt. Zum einen ist da die Montage, in SPELL generell eines der wichtigsten Mittel, mit dem Cavallone seine Bilder mit uns kommunizieren lässt, die diese Szene mit einer zusammenbringt, die örtlich und womöglich auch zeitlich ganz woanders spielt, nämlich im Haus des kommunistischen Künstlers Fausto, dessen Frau offenbar unheilbar psychisch erkrankt ist, und dazu tendiert, sich selbst zu verletzen. Während Alfonso nun sein Schwein begattet, schneidet Luciana sich in die Hand. Blut tropft, die Kamera folgt ihm. Es landet auf einem Netz, unter dem wiederum der geschlechtslose, farblose Kopf eines Mannequins steht. Alles in allem kaum decodierbare Symbole, die einen genauso irritieren wie die Tonspur, auf der ein ekstatischer Männerchor wortlos vor sich hin gauzt. Dadurch, dass das kontroverse Bild eines Mannes, der mit einem toten Schwein schläft, in einen Kontext eingebettet wird, der Cavallone als eleganten Symbolisten aufweist und mit einer Musik untermalt ist, die eigentlich überhaupt nicht zum Gesehenen passen will, verliert es zwar nicht die Stacheln seiner Subversion, wird aber über etwas hinausgehoben, das es zu einem bloßen Mittel zum Zweck degradiert hätte.

2. SPELL ist ein Episodenfilm, allerdings einer, bei dem die einzelnen Fragmente fließend ineinander übergehen. Die vielen unterschiedlichen Geschichten haben keine wirklich klaren Konturen. An ihren Rändern sind sie weich und durchlässig für Cavallones virtuose Montage, die oftmals zusammenbringt, was disparater kaum hätte sein können, sich zuweilen kein bisschen um Chronologie oder Kohärenz schert, und gerade dadurch bewirkt, dass der Zuschauer ein nicht bloß ungefähres Gefühl davon bekommt, wie sich diese beiden Tage, von denen der Film handelt, zugetragen haben mögen. Es ist Sommer und ein italienisches Dörfchen bereitet sich auf ein traditionelles Fest vor, das die Monotonie des Landalltags einmal im Jahr nachhaltig durchbricht. Ursprünglich ist dieses Fest wohl einmal religiös motiviert gewesen, immerhin gibt es noch eine obligatorische Kreuzeszeremonie quer durch den Ort, inzwischen haben die Auswüchse des europäischen Spätkapitalismus ihre Ranken auch bis in die entlegensten Gemeinden gestreckt, was zu einer Atmosphäre wie auf dem Rummel führt, inklusive Karussellfahrten, gemeinschaftlichen Besäufnissen, Gewinnspielen, bei denen man sich einen Farbfernsehern sichern kann, einer typischen Par-tykapelle, die zum Tanz aufspielt. Ganz klar wird dabei nie, was nun zeitlich wo anzusiedeln ist und was eine Rückblende sein soll, was eine Traumsequenz oder Halluzination, und soll es wohl auch nicht werden. Cavallone hat sich einen Ort und eine Zeit herausgesucht, ein bestimmtes Ereignis, auf dem er wie ein improvisierender Jazzpianist eine Art stream-of-consciousness loslässt, bei dem er von einem Gedanken zum nächsten, von einer Idee zu einer anderen springt, und somit überall und nirgends zugleich ist. Der Vergleich hinkt aber ein wenig schon deshalb, weil sich Cavallone, das merkt man der Montage schnell an, freilich jede Sekunde bewusst ist, was er da tut. SPELL ist nicht zu vergleichen mit purem kinematographischem Surrealismus wie in Fulcis THE BEYOND oder Argentos INFERNO. Dass da ein Konzept vorhanden ist, wenn auch verdeckt, stellt man spätes-tens bei der zweiten Sichtung fest, bei der SPELL zumindest mir wie ein Film erschienen ist, dessen Ideen, zunächst zwar ungefiltert ausgestoßen, eine nachträgliche Ordnung erfahren haben, die derart subtil ist, dass man sie tatsächlich akribisch suchen muss.

3. SPELL ist eine halbe Dokumentation und halb ein surrealer Trip. Ersteres kommt dadurch zustande, dass Cavallone, ähnlich wie zum Beispiel Peter Fleischmann in JAGDSZENEN AUS NIEDERBAYERN, als filmische Kulisse etwas gewählt hat, das vollends der Realität entstammt. Das Dorf und seine Bewohner werden von ihm als eine Staffage verwendet, die so wirklich existiert zu haben scheint. Es amüsiert mich sehr, zu sehen, wie einige der unfreiwilligen Statisten vor allem bei den ausgiebigen Feierlichkeitsszenen sich bemühen, nicht direkt in die Kamera zu blicken oder dieser auszuweichen, wenn sie auf sie zufährt. Ein bisschen ist das so wie in Nouvelle-Vague-Werken à la Rivettes OUT 1 oder Rohmers L’AMOUR L’APRÈS-MIDI. Nie versucht Cavallone, ähnlich wie seine französischen Vorgänger, die Illusion so fest und hart werden zu lassen, dass der Zuschauer ihr auf den Leim gehen könnte. Es ist gerade wichtig für ihn, scheint es, herauszustellen, dass das echte Menschen in echten Situationen sind, die er da immer wieder wie zufällig einfängt, und um die herum wiederum seine eigenen Geschichtchen wie zusätzliches Fleisch und Blut gestülpt worden sind. Hinzukommt, dass der Tenor bei Fleischmann und Cavallone sich ebenfalls gleicht. Eine Gesellschaft wird seziert, und der Mikrokosmos, in dem sie sich spiegelt, ein ländliches Dorf voller Figuren, von denen einem keine einzige wirklich sympathisch wird. Man könnte auch an Hanekes DAS WEISSE BAND denken, wobei SPELL freilich seinen unbestreitbaren soziologischen bzw. politischen Ansatz ständig mit dem koppelt, was ich oben schon als Surrealismus identifiziert habe. Keins der beiden Prinzipien gewinnt die Oberhand, beinahe scheint es wie ein Kampf zwischen ihnen, bei dem die Wahrheit entweder auf der Strecke bleibt oder irgendwo dazwischen liegt. Surrealismus, das heißt bei Cavallone, dass, um dem berühmten Zitat Lautréamonts zu folgen, in der menschlichen Realität nicht vereinbare Dinge doch miteinander vereint werden: das zufällige Zusammentreffen eines Regenschirms und einer Nähmaschine auf einem Seziertisch eben, oder das zufällige Zusammentreffen eines Tierauges und einer menschlichen Vulva in einem Schlachthaus, um auf die vielleicht unfassbarste Szene SPELLs zu rekurrieren, die freilich eine überdeutliche Anspielung auf Georges Batailles klassische Kurzgeschichte HISTOIRE DE L’OEIL sein soll. Überhaupt beweist Cavallone unermüdlich, wie bewusst er sich in eine gewisse Traditionslinie der europäischen Subversiv-Kunst und in die des französischen Surrealismus im Speziellen setzen möchte. Nicht nur, dass eine von Batailles, der der surrealen Bewegung immerhin nahestand, heftigsten Sex-Visionen endlich einmal in Bilder gegossen wird, die ihr gerecht werden, auch Cavallone selbst betätigt sich als Meister der surrealen Collagetechnik, wenn er in einer Szene das aus irgendeiner Zeitung ausgeschnittene Portrait Lenins ausgerechnet auf der gespreizten Vagina in Gustave Courbets L’ORIGINE DU MONDE landen lässt. Wenn dann noch Rene Magrittes berühmtes Gemälde mit dem bezeichnenden Titel LE VIOL an einer Wand auftaucht und für das Original-Kinoplakat des Films Max Ernsts nicht minder aufrüttelnde L‘ANGE DU FOYER verwendet worden ist, kann man nicht umhin, Cavallone als einen Künstler zu begreifen, der es liebt, auf die ihm vorausgegangene Ahnenreihe ähnlich gelagerter Geister zurückzublicken und sie in die Aktualität seines Schaffens einzubeziehen.

4. SPELL könnte man durchaus als einen Sexfilm bezeichnen, wenn man damit, ohne wertend sein zu wollen, meinen würde, dass in ihm Sex eine Hauptrolle spielt. Allerdings ist das nicht der schmierige Sleaze aus Filmen von Jess Franco und auch nicht die albern daherkommenden Witzel-Fickereien wie sie Filme von Mario Bianchi und Konsorten zelebrieren, viel eher mag ich Cavallone schon mit einem erotischen Großmeister wie Walerian Borowczyk vergleichen, mit dem Unterschied, dass er die schmutzigen, d.h. nicht verklärten Seiten der körperlichen Liebe gar nicht erst zu verschweigen versucht, sondern sie so selbst-verständlich wie das sein sollte in das Geschlechtsleben seiner Figuren integriert. Da wird nichts beschönigt und nichts verstellt, und die Dominanz von Sexszenen in SPELL ist kein Beweis dafür, dass Cavallone hauptsächlich auf die zu versteifenden Schwänze seines männlichen Publikums zielte, sondern wirkt für mich in ihrer Ungezwungenheit eher so, als solle Sex hier als das dargestellt werden, was es in Wirklichkeit ist: ein zwischenmenschliches Kommunikationsmittel unter vielen, wenn auch eine, auf die die meisten immer und immer wieder zurückkommen, da sie mit ihm etwas vermitteln können, was sonst kaum zu verbalisieren oder zu verbildlichen wäre. Ein Beispiel soll klarstellen, wie viele Welten Cavallones Sex und den eines Joe D’Amato trennen. In einer weiteren Doppelmontage führt er uns zwei unterschiedliche Herangehensweise an das Befriedigen der unersättlichen Libido vor, einmal die Selbstbefriedigung Lucianas vor einem Spiegel, den sie narzissenhaft küsst und seine Scheibe mit ihren Brustwarzen liebkost, und zudem das sexuelle Intermezzo zwischen der Dorfprostituierten Sabina und einem Fremden, der am Tage des Fests im Dorf aufschlägt, ohne Geschichte, ohne Namen, einzig mit der Versicherung, er komme von vielen Plätzen, von Plätzen, die sehr schön seien. In satter Beleuchtung, ästhetisch zuweilen gar eines Argento in seinen besten Momenten ebenbürtig, nimmt Cavallone sich alle Zeit, die er findet, die Liebesakte an sich darzustellen. Von der Tonspur tickt zunächst einzig und allein eine Uhr, während Sabina und der Fremde sich entkleiden und dann in Missionarsstellung mitei-nander kopulieren, und Luciana ihr eigenes Spiegelbild küsst und dabei ihre Klitoris bearbeitet. Der Koitus selbst wird dabei nicht gezeigt. Im Falle von Sabina und dem Fremden belässt es Cavallone in effektiver Zurückhaltung dabei, ihre Münder in Groß-aufnahme zu filmen. Seine Zunge stößt in ihren Mundinnenraum vor, wird zum Statthalter des tabuisierten Phallus, ist roh und schnörkellos, und zeitgleich dennoch ungemein erotisch. Schließlich, als sich die Drei mehr und mehr ihren Orgasmen nähern, wird auch der Rhythmus von Cavallones Montage exzessiver. Festszenen werden dazwischen geschnitten, kontextlose Fetzen von lachenden Gesichtern, knallenden Feuerwerkskörpern, Partystimmung. Verspielter ist Cavallone kaum danach jemals wieder gewesen und auch wenig ergreifender, wenn Sabine dem Fremden später in den Armen liegt und mit ihm, allein aufgrund der phantastischen Lichtsetzung, ein lebendes Gemälde abgibt, würdig an meiner Wohnzimmerwand zu prangen, während sie die schlichten Sätze sagt, dass es nie zuvor so schön gewesen sei, fast so, als habe sie Gott gesehen.

5. „Was ist der Surrealismus?“, fragt André Breton, um sich sogleich selbst die Antwort zu geben: „Das ist ein Kuckucksei, das unter Mitwissen von René Magritte ins Nest gelegt wird.“ SPELL, dessen Selbstverständnis durchaus das eines, wie oben her-ausgestellt, surrealistischen Filmes ist, steckt dabei voller Ei-Metaphern, seien es nun echte Vogeleier, die in der befremdlichen Eröffnungsszene von zwei Totengräbern auf einem Friedhof geschält und verspeist werden, oder das bereits erwähnte Rinder- oder Schweineauge, das in eine Vagina wandern darf, oder Billardkugeln, die man in weiblichen Unterleibern einzulochen versucht. Dass die Symbolik weitgehend vage bleibt und Cavallone sein Publikum nicht, wie viele andere Regisseure, da abholt, wo sie stehen, um in der Folge permanent zu erklären und offenzulegen, was er denn eigentlich meine, möchte ich an der gran-diosen Traumszene illustrieren, die mitten in das Streitgespräch zwischen einem Trunkenbold und Schlägers und seiner Frau Rosanna, gespielt von Cavallones damaliger besserer Hälfte Maria Pia Luzi unter dem Pseudonym Jane Avril, geschnitten wird. Eben noch hat Rosanna ihre Verzweiflung in regelrechter Hysterie herausgeschrien, einen Schnitt später verfolgt ihr Gatte sie auf freiem Feld in Zeitlupe, worauf sie sich zum Priester des Orts flüchtet, der zunächst seinen Hut abzieht, um ihn über den Fuß eines scheinbar an einem Baum Gehenkten zu streifen, und es dann als seine Aufgabe sieht, die junge Frau in einen orgiastischen Ausnahmezustand zu versetzen, während ihr Mann von einem Drahtfaden daran gehindert wird, sich den Kopulierenden zu nähern und sie auseinanderzutreiben. Freilich bietet diese Szene reichlich Interpretationsmaterial. Man könnte argumentieren, dass sexuelle Lust und deren Befriedigung alles determiniert, und dass die Macht der Religion letztlich auf einer Sublimation bzw. Vereinnahmung dieser Triebe beruht. Dennoch: ein Symbol wie der Pfaffenhut, der schließlich von dem Schuh des Erhängten, dessen Körper wir, bis auf die im sachten Wind schaukelnden Beine, nie zu sehen kriegen, wird wohl kaum endgültig aufzudröseln sein. Ein bisschen hat Cavallone hierin etwas von Jodorowsky und Lynch, allein deshalb, weil er uns seinen persönlichen Bildkosmos überstülpt ohne danach zu fragen, ob er Sinn in uns stiftet oder uns reichlich ratlos zurücklässt, und dennoch, selbst wenn man kein Wort von SPELL verstanden haben mag und vor ihm stumm wie vor einem Rätsel steht, ändert das nichts daran, dass er so sehr über seine reinen Bilder funktioniert, dass sein nackter Inhalt, obwohl natürlich wichtig und aufsehenerregend, gerne hinter ihnen zurücktreten darf.

6. Cavallone mag es, Motive, die von anderen schon beackert worden sind, aus seinem subjektiven Blickwinkel in ein neues Licht zu rücken. In jedem seiner Werke findet man mehr oder weniger offensichtliche Zitate aus der Filmgeschichte, die er, auch hier völlig dem Surrealismus verpflichtet, neu arrangiert oder auf bislang ungewohnte Weise beäugt. In SPELL ist es Pasolinis TEO-REMA, der, wenn man so will, eine Art Remake erfährt. In beiden Filmen scheint ein namenloser Fremder aus dem Nichts zu wachsen und becirct, verzaubert die Personen, mit denen er verkehrt. Freilich gibt es Unterschiede. Bei Pasolini ist es die gutbürgerliche Familie, die von ihrem Gast in ihren Grundfesten erschüttert wird und deren Mitglieder sich nach dieser Eruption in Märtyrer, Revoluzzer oder Katatonische verwandeln. Cavallone steckt ein weiteres Feld ab, die Dorfgemeinschaft, an deren Oberfläche man nur ein bisschen zu kratzen braucht und schon hat man das reine Übel vor Augen. Die Grundkonstellation indes ist dieselbe: ein festgefahrene Menschenmasse wird von einem äußeren, scheinbar göttlichen Einfluss aufgemischt, wobei sowohl Pasolini als auch Cavallone ihren Fremden als eine Christus-Figur inszenieren, und ihren Filmen somit eine überschwere metaphysische Ebene aufsetzen. Interessant ist, dass Pasolinis Jesus, dem der Cavallones nicht nur optisch ähnlich sieht, Menschen jeder Klasse und jedes Geschlechts zu entrücken weiß. Kein Mitglied der Familie, in der er ein paar Tage verbringt, ist vor seinem Einfluss gefeit. Der Cavallone-Messias indes hat indes offensichtlich keinen Einfluss auf Männer. Einzig Frauen und Kinder erliegen seinem Nimbus, letztere, weil er mit ihnen auf Augenhöhe abenteuerliche Spiele treibt und dabei selbst wie ein Kind im Körper eines Erwachsenen wirkt, erstere, weil er es versteht, ihre Libido bis zur höchsten Potenz zum Explodieren zu bringen. Die Männer demgegenüber erwecken den Eindruck, ihn gar nicht bewusst wahrzunehmen. Als er von Rosannas Ehemann brutal verprügelt wird, trägt Fausto ihn zwar von der Straße in sein Wohnhaus und wird damit zu einem modernen Simon von Kymene, in anderen Szenen kann der Fremde die Gespräche der Männer belauschen, ohne dass die auch nur ansatzweise erkennen ließen, ihn als Mitwisser zu bemerken, obwohl er direkt neben ihnen steht oder sitzt. Als Fremdkörper beobachtet er das Treiben im Dorf, um von Zeit zu Zeit in den weiblichen Mitgliedern und den Kindern den Samen der Erlösung zu streuen. Sein Blick verläuft analog zu dem des Hahns, dessen Augen Cavallone dauernd in Großaufnahme einblendet und dessen Krähen den Film wie eine innere Struktur durchzieht. Man braucht gar nicht Theologie studiert zu haben, um die Gemeinsamkeiten zwischen Hahn und Christus zu erkennen. Beide bedeuten das Ende der Nacht: der eine die der wirklich vorhandenen Nacht auf Erden, die er mit seinem morgendlichen Krächzen vertreibt, der andere das Ende einer metaphysischen Nacht, aus der er die Menschheit mit seinem Opfertod errettet wird. Beide erleiden eben diesen Opfertod in SPELL: der Hahn in einer ziemlich unangenehmen Szene, in der er mit bloßer Männerhand erdrosselt wird, der Fremde nicht am Kreuz, sondern indem er von Luciana in einer mutmaßlichen Traumszene Faustos kastriert und gleichzeitig mit ihren Exkrementen erstickt wird. Hoffnungsvoll ist das letzte Bild, wenn ein kleiner Junge, der liebste Spielgefährte des Fremden, schweigsam direkt in die Kamera blickt, und hoffnungsvoll ist auch eine frühere Szene, die Geburt eines Kalbes zu kitschig-sakraler Musik, sodass SPELL, obwohl Cavallone, wie man sieht, auch hier schonungslos auf alle seine Feindbilder einhaut, einen womöglich aufgewühlt und schockiert entlässt, jedoch nicht mit dieser inneren Leere, wie sie sein Folgewerk, der grässliche Abgesang auf alles, woran der Mensch zu glauben pflegt, BLUE MOVIE zu evozieren weiß.

7. SPELL ist vor allem aber auch ein politischer Film. Cavallone seziert Italiens Gesellschaft der späten 70ern an einem Beispiel mit Sinnbildcharakter. Ich denke an Peter Fleischmanns DAS UNHEIL, wenn Cavallone sich nach und nach die gesellschaftli-chen Autoritäten vornimmt, um sie teilweise ordentlich zynisch zu dekonstruieren. Da treibt der Priester seine Zöglinge dazu an, Lotterielose zu verkaufen, und der, der den meisten Absatz hat, bekommt wiederum Heiligenbildchen überreicht, mit denen er letztlich bei besagter Lotterie einen tollen Preis gewinnen kann: es ist egal, sagt er, wem ihr die Lose gebt, Hauptsache, ihr verkauft sie, und der, der die meisten Heiligen hat, ist der Beste von euch. Da schläft der Polizeichef regelmäßig mit der Dorfdirne und ist darum bestrebt, den Fremden als mutmaßlichen Landstreicher und definitiven Eindringling in die dörfliche Hermetik sofort des Ortes zu verweisen. Da ist der kommunistische Künstler völlig überfordert mit seiner Lebenssituation, redet ohne zu handeln, und fristet seine Tage in seiner Künstlerwerkstatt, wo er Modemagazine und Werbeanzeigen zerschneidet und mit Studien aus Anatomielehrbüchern zu simplen, aber effektiven Collagen zusammentut. Vor allem das Patriarchat bekommt sein Fett weg, da die Frauen in SPELL fast ausschließlich wenn nicht Unterdrückte und Leibeigene sind, der Gesellschaft, die Männer um sie herum errichteten, hilflos ausgeliefert, so doch zumindest genauso unfähig, aus den tradierten Konventionsmustern auszubrechen und sich, wie es heißt, selbst zu befreien. Dass sie Cavallone indes empfänglicher scheinen für jedwede Art von urchristlicher Revolution zeigt sich allein schon daran, dass sein Messias de facto bloß ihnen erscheint, den Ausgestoßenen der maskulinen Gesellschaft, den unzufriedenen Ehefrauen mit Veilchen im Gesicht, den Töchtern, die von ihren eigenen Vätern geschwängert und dann, um die Familienehre zu wahren, zu Verwandten aufs Land verbannt wurden, den naiven Schulmädchen, die glauben, was man ihnen sagt, so erzogen, dass sie nicht zu viele, sondern zu wenig Fragen stellen. Das übernimmt dann ein Film wie SPELL, der zwar viele Wunden zeigt und seine Finger regelrecht hineinbohrt, indes seinem Zuschauer nie eine bestimmte Meinung oder Wahrnehmungsweise aufzwängt. Cavallone ist da nahe bei Godard, dem vielleicht demokratischsten Filmemacher überhaupt, der in seinen Werken unterschiedlichste Meinungen gleichberechtigt gegenüberstellt ohne einer von ihnen den Vorrang zu geben. SPELL regt zum Denken an, er stimuliert ästhetisch, intellektuell und emotional, und ist zu allem Überfluss auch noch, wenn man sich einmal auf ihn eingelassen hat, extrem kurzweilig, unterhaltsam und faszinierend. Ein Juwel des italienischen Kinos der 70er, meine ich, und spreche eine unbedingte Empfehlung aus.
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supervillain
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Re: Alberto Cavallone - L'uomo, la donna e la bestia (1977)

Beitrag von supervillain »

Sehr, sehr interessanter Text. Werde ich mir noch mal gründlich durchlesen. Den Film kenne ich noch nicht.
dr. freudstein
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Re: Alberto Cavallone - L'uomo, la donna e la bestia (1977)

Beitrag von dr. freudstein »

so auf die Schnelle hab ich was von Klitoris bearbeiten gelesen....das reicht eigentlich schon :kicher:
Hammer, wieviele Gedanken man zu einem Film raushauen kann :shock: ich fang auch an zu studieren. stell die Kritiken mal in die ofdb, lieber potentieller neuer Reviewkönig :D
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Salvatore Baccaro
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Re: Alberto Cavallone - L'uomo, la donna e la bestia (1977)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Abt. Terza-Visione-Festival des italienischen Genrefilms 2019

Seit ich als junger Mann unvorbereitet seinen BLUE MOVIE (in einem furchtbaren VHS-Digitalisat) gesehen hatte, predige ich unaufhörlich Menschen, die es hören oder nicht hören wollen: Alberto Cavallone ist einer der heftigsten Ikonoklasten nicht nur des italienischen Kinos, dessen Verortung unterhalb des Radars bzw. seine Degradierung zum Dwarf-Pornographen fast schon ein Verbrechen darstellt. Nun endlich scheint Cavallone allmählich in der breiten Masse anzukommen – oder zumindest bei den paar Leuten, die Zeit und Muße haben, sich auf einem Festival des italienischen Genrefilms einzufinden. Dass ich jedenfalls jemals Cavallones magnum opus SPELL als 35mm-Kopie auf der großen Leinwand sehen würde, hätte ich mir bis vor Kurzem nicht denken lassen – und, oh!, was für ein intensives Erlebnis das war: Mein Herz schlug noch zehn Minuten, nachdem der Vorhang fiel, und wenn das passiert, heißt das, dass ein Film die Hexenprobe bestanden hat, und tatsächlich ein Meisterwerk sein muss, nicht bloß in meiner Imagination, sondern wahrhaft in meinem Herzen.

Ich kann deshalb nur loben, was ich schon zuvor so oft an dem in Cavallones damaligem Wohnort, einem frommen Dörfchen nahe Rom, gedrehten Anti-Heimatfilm gelobt habe: Seine Konventionen sprengende und verspielt neu erfindende, vom Maestro höchstselbst besorgte Montage; seine wahnwitzige Musik zwischen Griegs BERGKÖNIG, Blaskapellen und Männerchören; sein keineswegs zynischer, sondern durchaus einfühlsamer Blick auf Leben und Leiden unterschiedlicher Dorfbewohner von der örtlichen Prostituierten über den Gemeindesheriff bis hin zu einem kommunistischen Künstler, dessen geisteskranker Ehefrau und einem Mädchen, das vom eigenen Vater geschwängert worden ist; seine locker aus dem Ärmel geschüttelten, niemals prätentiös wirkenden Hommagen an so unterschiedliche Meilensteine wie Pasolinis TEOREMA, Bunuels andalusisches Hündchen oder, vor allem, die Schriften des Transgressionstheoretikers Georges Batailles, denen SPELL wie kein zweiter Film ein ewiges Denkmal setzt; seine wohldosierten, niemals selbstzweckhaften Schockszenen: Die Erdrosselung eines Hahns; Ströme aus Scheiße in Männermünder; ein Auge, das uns – was für ein Bataille-Moment für die Ewigkeit! – aus dem Klammergriff einer Vulva entgegenstarrt. Ich liebe diesen Film!
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