Blue Movie - Alberto Cavallone (1978)
Verfasst: So 6. Apr 2014, 16:16
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Originaltitel: Blue Movie
Regie: Alberto Cavallone
Herstellungsland: Italien 1978
Darsteller: Claude Maran, Dirce Funari, Leda Simonetti, Danielle Dugas, Joseph Dickson
Da Alberto Cavallones BLUE MOVIE zu den Filmen zählt, die mich emotional, intellektuell und ästhetisch in meinem Leben bislang am meisten berührt haben, erneut der Hinweis: dies ist keine Kritik im herkömmlichen Sinne, sondern eine versuchsweise Annäherung an ein Werk, für das es eigentlich gar keine Worte gibt.
1. Auf einer leider inzwischen nicht mehr existenten Seite voller Kritiken zu experimentellen, extremen, subversiven Filmen jeglicher Couleur – sie hieß http://www.mitternachtskino.de – habe ich vor langen Jahren zum ersten Mal über BLUE MOVIE gelesen. Die Geschichte faszinierte mich nicht nur, sie sprach eine Saite in mir an, die seitdem nicht mehr mit dem Klingen aufgehört hat. Ein Mädchen, das sich Silvia nennt, wird von einem Photographen namens Claudio am Rande einer Landstraße aufgegriffen. Sie kommt aus dem nahen Wald, ihre Kleidung ist völlig zerfetzt und verwirrt erzählt sie davon, nur knapp einer Vergewaltigung entronnen zu sein: drei Männer hätten sie ins Dickicht gelockt, um sie sich dort gefügig zu machen. Dieser Bericht indes stimmt nicht mit dem überein, was der Film selbst uns zu Beginn gezeigt hat: da nämlich ist Silvia allein mit einem einzigen Mann in einer verlassenen Felsenlandschaft gewesen, einem Mann im Übrigen, dessen Gesicht wir nicht sehen können, er trägt eine Strumpfhose, und wird von der sich wehrenden Silvia mit einem Stein niedergeschlagen. Nun scheint sie ihr Gedächtnis verloren zu haben, noch unter Schock zu stehen, weshalb Claudio sie bei sich aufnimmt, oder besser: sie zu seiner Gefangenen macht, denn das Schloss des Zimmers versperrt er, in dem er sie unterbringt, und auch sonst ist der ehemalige Kriegsberichterstatter kein besonders angenehmer Zeitgenosse. Er sammelt Coladosen und Marlboroschachteln, um sie mit Urin und Kot zu füllen, er lässt weibliche Models zu sich nach Hause zu kommen, um sie vor seiner Kamera nach allen Regeln der Kunst zu erniedrigen und zu demütigen, er versucht, seine maskuline Macht auf alles und jeden auszudehnen. Nachdem ein weiteres Mädchen mit Namen Leda, das er völlig mittellos und ohne Schlafplatz in einer Bar getroffen hat, zu seinem Gast geworden ist und eine dritte Dame, Daniela, regelmäßig vorbeikommt, um sich vor Claudios Kamera zu einem bloßen Objekt degradieren zu lassen, mit dem er anstellen darf, was er möchte, entwickelt sich vor allem die Beziehung zwischen ihm und Silvia zu einer, in der die Machtverhältnisse ständig wechseln und die für den Zuschauer stetig undurchsichtiger und rätselhafter wird. Das war es in etwa, was ich in jener nunmehr in den Weiten des Netzes verschollenen Kritik über BLUE MOVIE lesen konnte – zusätzlich mit dem einen oder anderen technischen Detail und ein wenig Interpretation seitens des Verfassers -, und das war es, das mich so sehr inspirierte, dass ich meinen ersten Roman, den ich, konfrontiert mit der Leere des Seins und der Sinnlosigkeit alles Tuns und Lassens, in einer wirklich heftigen Phase meines Lebens komplett auf diesem Grundmuster aufbaute und innerhalb weniger Wochen runterschrieb, wohlgemerkt ohne BLUE MOVIE zu diesem Zeitpunkt gesehen zu haben, ein Umstand, dem auch die folgenden Jahre keine Abhilfe schafften, denn selbst dann, als ein Freund ihn mir als verrauschten VHS-Rip zukommen ließ, traute ich mich lange nicht, ihn mir anzuschauen, aus der Angst heraus, alles, was ich mir in meinem Kopf zusammengebaut hatte, könne als Kartenhaus ineinander fallen, weil die Wirklichkeit meist unfassbar weit hinter dem zurückbleibt, wie man sie sich in seiner Phantasie ausmalt.
2. Auf zwei Weisen ist die Photographie mit Tod, Töten, Sterben verbunden. Erst recht spät in Erscheinung getreten - etwa seit den frühen 1880er Jahren, als der französische Physiologe Étienne Jules Marey eine photographische Apparatur baute, die schon von ihrer Optik her an eine Flinte erinnerte - seitdem aber allein etymologisch unseren Umgang mit Photographien konstituierend, die wir schießen und nicht auf andere Art gewinnen, ist die Auffassung der Kamera als Waffe, wie sie philosophisch in den Thesen Paul Virilios auf den Punkt gebracht wird, der die moderne Medienlandschaft nicht bloß als eine versteht, die sich aus dem militärischen Milieu entwickelt habe, sondern in ihr per se noch immer aktive und die menschliche Gesellschaft in ein apokalyptisches Endzeitszenario verwickelnde Kriegstechnologie erblickt, oder künstlerisch kongenial eben im Vorspann von BLUE MOVIE, der als Filmstreifen arrangierte Screenshots auf akustischer Ebene mit dem Geräusch eines feuernden Revolvers zusammenbringt: pro Bild ein Schuss. Sein Protagonist Claudio hat außerdem in Gefilden seine Photos geschossen, in der auch Kugeln die Läufe von Waffen verlassen haben. Er ist in Vietnam gewesen, hat Gräuel festgehalten, von denen er nun nicht mehr loskommt. Sie verfolgen ihn, tauchen über den ganzen Film verteilt auf, blitzen auf wie nicht ganz erstickte Flammen: ein Mönch, der sich selbst in Brand steckt, um für oder gegen irgendetwas zu protestieren, Aufnahmen von Massengräbern in KZs oder Gulags, in unnatürlichen Verkrümmung auf Schlachtfeldern liegende Leichen. Bereits in seinem Debut-Spielfilm, LE SALAMANDRE von 1969, hat Cavallone derartige, reales Leid und Sterben wiedergebende Bilder mondo-montagenhaft reichlich schockierend und überraschend eingebracht, in BLUE MOVIE sind sie nun omnipräsent und zeigen sich immer dann an, wenn man sie am wenigsten erwartet, beispielweise in einer Liebesszene zwischen Claudio und Silvia. Dadurch, dass sie einen Moment aus seinem natürlichen Kontext ausgliedern und in einen neuen, die Sterblichkeit vordergründig verneinenden, tatsächlich aber unwillkürlich Zeugnis von ihr ablegenden versetzen, fungieren Photographien auf der anderen Seite vor allem auch als Särge, in die man das bettet, was man nicht verlieren möchte. „Jede Fotografie ist eine Art memento mori. Fotografieren bedeutet teilnehmen an der Sterb-lichkeit, Verletzlichkeit und Wandelbarkeit anderer Menschen (oder Dinge). Eben dadurch, daß sie diesen einen Moment herausgreifen und erstarren lassen, bezeugen alle Fotografien das unerbittliche Verfließen der Zeit“, schreibt Susan Sontag. Wie jeder Verdrängungsmechanismus schafft es die Photographie letztlich natürlich nicht, das Sterben aufzuheben, kann es noch nicht einmal wirklich erträglich für die noch Lebenden machen, da sie, selbst wenn sie das Vergangene in sich einschließt, doch nichts daran ändert, dass es dadurch nicht zur Gegenwärtigkeit wird, sondern Vergangenes bleibt, von dem lediglich Spuren in der Gegenwart zurückgeblieben sind. Das weiß auch Claudio, nicht nur, weil die Photographien, die er aus den verschiedensten Kriegsgebieten mitgebracht hat, ihm allein schon deshalb nicht aus dem Kopf gehen, weil er sie wie Schätze in Kisten und Kartons hortet und immer mal wieder auf sie zurückgreift, so, als wolle er sie gar nicht vergessen. Seine Modelle nämlich, ähnlich übrigens wie David Hemmings in Antonionis BLOW UP, mit dem BLUE MOVIE viel gemein hat, platziert er gar nicht als echte Subjekte vor seiner Linse, sondern betont vollmundig, dass sie für ihn bloße Objekte seien, nichts anderes als Coladosen, auf denen er herumtrampeln könne, um ihnen eine neue Gestalt zu geben, formbar und ihm völlig ausgeliefert. Manche davon, wie Silvia, bieten ihm dabei durchaus die Stirn, andere, vor allem Daniela, liefern sie sich ihm freiwillig komplett aus: scheinbar unzufrieden mit dem, was sie ist, und unfähig, ein wie auch immer geartetes Werden selbst in Gang zu setzen, unterwirft sie sich vollkommen dem fremden Willen Claudios, indem sie sich von ihm einsperren lässt, von ihm Fast Food und Zigaretten erhält, wenn sie ihm im Gegenzug dafür Kot und Urin abtritt. Ganz nahe ist Cavallone hierbei auch bei der radikalen Kapitalismuskritik von Pasolinis SALO. Vordergründig, weil es in BLUE MOVIE ebenso grenzwertige Szenen gibt, in denen nackte Frauenkörper in Scheiße getunkt oder dazu gezwungen werden, sich wie Hunde, kläffend und auf allen Vieren, fortzubewegen, vor allem jedoch, da Pasolini und Cavallone die gleichen Feindbilder zu teilen scheinen: einen über alles, Emotionen und Gedanken, dominierenden Warenkult, der simpel und effektiv in der Metapher von Claudios Coladosen und Zigarettenschachteln zum Ausdruck gebracht wird, von denen einem die Werbung das absolute Heil verspricht, die inwendig jedoch einfach nur voller Exkremente sind. Ein weiterer Film, der in dieses Ensemble gehört und auf den BLUE MOVIE allein schon mittels seines Titels anspielt, wäre in dem Zusammenhang Makavejevs bitterböse Satire auf den Untergang von Kapitalismus und Kommunismus SWEET MOVIE.
3. Ein Freund erklärte mir, BLUE MOVIE sei der misogynste Film, den er jemals gesehen habe. Ich kann dem nur halb zustimmen. Sicher, BLUE MOVIE ist voller frauenfeindlicher Handlungen, ähnlich wie Cavallones direkter Vorgänger SPELL, nichtsdestotrotz werden all diese Machtspiele meiner Meinung nach nie affirmativ in Szene gesetzt. Das Unbehagen, das ich nach wie vor bei BLUE MOVIE empfinde, resultiert nicht daraus, dass es den Anschein erweckt, als würde Cavallone männlicher Dominanz und patriarchaler Unterdrückungsmechanismen irgendetwas Positives abgewinnen. Sein Held Claudio ist ein tragischer, ein gebrochener Mann, der in die Abgründe der Welt geschaut hat, und seine Befriedigung jetzt daraus zieht, gottgleich die Marionettenfäden der ihm ausgelieferten Frauen zu lenken zu versuchen. Wobei Befriedigung wohl das falsche Wort ist, denn wirklich befriedigt scheint mir in BLUE MOVIE niemand zu werden. Anders als die Libertins bei de Sade, denen man durchaus abkauft, dass sie für den Moment einigermaßen beglückt sind, wenn sie Kot verspeisen und halbwüchsige Mädchen zerstückeln, kommt Claudio im wahrsten Sinne der Bedeutung nie zu einem orgiastischen Höhepunkt. BLUE MOVIE - der Titel rührt von Andy Warhols etwa zehn Jahre zuvor entstandenem Film her, in dem, neben angeblich ungestellter Sexszenen, ein Pärchen über allerhand tagespolitische Themen der amerikanischen Sub- und Gegenkultur plaudert, und ist seitdem zum Synonym für das Genre des Porno geworden. BLUE MOVIE - das ist bei Cavallone indes ein Versprechen, das bewusst nicht eingehalten wird. Obwohl es faktisch stimmt. Definiert man einen Porno als einen Film mit pornographischen Bildern, dann ist BLUE MOVIE natürlich einer. Wirklich vorstellen kann ich mir indes nicht, dass irgendwer von den in der ungekürzten Fassung des Films enthaltenen Hardcore-Sequenzen großartig stimuliert werden wird. Nicht nur, dass Cavallone seinen Figuren, wie gesagt, die Ergüsse konsequent verweigert, zudem bestehen die xxx-Einsprengsel hauptsächlich aus uninspirierten Blow Jobs, bei denen die Frauen knechtisch kniend an männlichen Genitalien saugen, das alles so wenig erotisch wie möglich gefilmt, ungeschminkt, schmuddelig, keineswegs erregend. Einzig eine dieser Szenen sticht wegen Cavallones schrägem Humor hervor, wenn er Szenen eines Hand Jobs zu Musik Jacques Offenbachs beinahe schon kindlich verspielt in einem in vier Segmente gesplittetem Bildschirm, teilweise seitenverkehrt und auf dem Kopf stehend, anordnet, wobei einem das Lachen dann schon fast wieder im Halse steckenbleibt, sieht man in Zwischenschnitten, wie die ihn wichsende Frau ihm hündisch Brotkrumen vom nackten Brustkorb lecken muss. Von seiner Metaebene her ist BLUE MOVIE für mich nicht weit entfernt von einem Film wie CANNIBAL HOLOCAUST. Bei beiden suggeriert der Titel etwas, das zwar eingehalten wird – er ist de factio ein Film aus der Blauen Serie so wie sich bei Deodato niemand beschweren dürfte, dass er keinem kannibalischen Holocaust hätte beiwohnen dürfen -, das sich aber andererseits gegen den Betrachter selbst wendet und ihm einen Spiegel vorhält, auf dessen Glas geschrieben steht: ist es wirklich das, was Du wolltest?, wieso möchtest du denn überhaupt einen solchen blue movie sehen?, was reizt dich an einem Werk namens Cannibal Holocaust? Subversion durch Affirmation, könnte man das nennen.
4. Es ist verblüffend, wie sehr Cavallone die Arbeiten eines David Lynchs antizipiert. Zeitschleifen, merkwürdige Charaktere, die merkwürdige Dinge tun, ausgefallene Symbole wie ein von einem homosexuellen Farbigen in einer Sporttasche herumgetragenen Totenschädel, der sich später in einen Stein verwandeln wird, nahezu völliger Verzicht auf Kohärenz: das sind alles Elemente, die man so oder so ähnlich wenige Zeit danach auch im Werk des Amerikaners wiederfinden wird. BLUE MOVIE, angeblich innerhalb einer Woche mit einem Budget entstanden, für das man in gewissen Restaurants nicht mal ein Dessert bekommen würde, ist zudem einer der Filme, die aus dem wenigen, was sie besitzen – keine großartigen Kulissen, eine Handvoll (Laien-)Schauspieler, dürftige technische Ausstattung – das Maximum herausholen. Cavallones Bildkompositionen, seine Beleuchtung, seine Dialoge sind superb. Besonders bewegend empfand ich, als Leda Claudio von ihrer Vergangenheit berichtet: sie sei in einer Stadt großgeworden, die Opfer eines Erdbebens geworden sei, und während die meisten Bewohner nun daran gingen, diese wieder aufzubauen, sei sie in die Fremde geflohen. Noch bewegender: der avantgardistische Schnitt, der einen völlig orientierungslos lässt, was Zeit und Raum betrifft, in denen BLUE MOVIE angesiedelt ist. Weder sieht man das Haus Claudios jemals von außen, sodass es wie ein gigantischer, labyrinthischer Komplex erscheint, bei dem man nie weiß, wo man sich gerade in ihm aufhält, welche Räume miteinander verbunden sind etc., noch gibt es irgendwelche Orientierungspunkte, die einerseits klarmachen würden, wie viel Zeit nun zwischen den einzelnen Szenen vergangen ist, oder andererseits aufzeigten, wo die sogenannte Realität aufhört und die Träume, Visionen, Halluzinationen beginnen. Vor allem Silvias Horror-Visionen von aus Badewannen voller Blut nach ihr greifenden Männerarmen oder das wahrhaft surreale Ende wären Beispiele hierfür. Cavallone versteht es, nicht nur inhaltlich überaus ätzend all das zu attackieren, was er hasst, er stellt die gesamte Ästhetik seines Films in den Dienst dieser aufrührerischen Attitüde. Wer sich beschwert, dass in BLUE MOVIE so gut wie kaum eine Regel des klassischen Erzählkinos beachtet wird, hat seine Intention nicht durchblickt.
5. Am Ende von BLUE MOVIE steht ein Selbstmord. Es ist nicht nur der seine Helden Claudio, es ist auch Cavallones eigener. Vielleicht aus dem Wissen heraus, ein Werk wie dieses an Radikalität niemals mehr überbieten zu können, hat Cavallone sich nach BLUE MOVIE vollends im horizontalen Genre versenkt. Nach dem Motto: ihr bekommt, was ihr wollt!, sind seine wenigen Folgefilme äußerst bizarre Studien sexueller Perversionen, bei denen man einen politischen Kommentar mit der Lupe suchen kann. Somit stellt BLUE MOVIE den Abschluss einer Revolte dar. Photos werden in ein Lagerfeuer geworfen. Was folgt, werden Zwerge mit um die Köpfe geschnallten Dildos und vor laufender Video-Kamera misshandelte Erotikdarstellerinnen sein. Ein letztes Mal aber: ein extrem wütender Schrei, der in mir nachhallt und nachhallt und nachhallt.
Originaltitel: Blue Movie
Regie: Alberto Cavallone
Herstellungsland: Italien 1978
Darsteller: Claude Maran, Dirce Funari, Leda Simonetti, Danielle Dugas, Joseph Dickson
Da Alberto Cavallones BLUE MOVIE zu den Filmen zählt, die mich emotional, intellektuell und ästhetisch in meinem Leben bislang am meisten berührt haben, erneut der Hinweis: dies ist keine Kritik im herkömmlichen Sinne, sondern eine versuchsweise Annäherung an ein Werk, für das es eigentlich gar keine Worte gibt.
1. Auf einer leider inzwischen nicht mehr existenten Seite voller Kritiken zu experimentellen, extremen, subversiven Filmen jeglicher Couleur – sie hieß http://www.mitternachtskino.de – habe ich vor langen Jahren zum ersten Mal über BLUE MOVIE gelesen. Die Geschichte faszinierte mich nicht nur, sie sprach eine Saite in mir an, die seitdem nicht mehr mit dem Klingen aufgehört hat. Ein Mädchen, das sich Silvia nennt, wird von einem Photographen namens Claudio am Rande einer Landstraße aufgegriffen. Sie kommt aus dem nahen Wald, ihre Kleidung ist völlig zerfetzt und verwirrt erzählt sie davon, nur knapp einer Vergewaltigung entronnen zu sein: drei Männer hätten sie ins Dickicht gelockt, um sie sich dort gefügig zu machen. Dieser Bericht indes stimmt nicht mit dem überein, was der Film selbst uns zu Beginn gezeigt hat: da nämlich ist Silvia allein mit einem einzigen Mann in einer verlassenen Felsenlandschaft gewesen, einem Mann im Übrigen, dessen Gesicht wir nicht sehen können, er trägt eine Strumpfhose, und wird von der sich wehrenden Silvia mit einem Stein niedergeschlagen. Nun scheint sie ihr Gedächtnis verloren zu haben, noch unter Schock zu stehen, weshalb Claudio sie bei sich aufnimmt, oder besser: sie zu seiner Gefangenen macht, denn das Schloss des Zimmers versperrt er, in dem er sie unterbringt, und auch sonst ist der ehemalige Kriegsberichterstatter kein besonders angenehmer Zeitgenosse. Er sammelt Coladosen und Marlboroschachteln, um sie mit Urin und Kot zu füllen, er lässt weibliche Models zu sich nach Hause zu kommen, um sie vor seiner Kamera nach allen Regeln der Kunst zu erniedrigen und zu demütigen, er versucht, seine maskuline Macht auf alles und jeden auszudehnen. Nachdem ein weiteres Mädchen mit Namen Leda, das er völlig mittellos und ohne Schlafplatz in einer Bar getroffen hat, zu seinem Gast geworden ist und eine dritte Dame, Daniela, regelmäßig vorbeikommt, um sich vor Claudios Kamera zu einem bloßen Objekt degradieren zu lassen, mit dem er anstellen darf, was er möchte, entwickelt sich vor allem die Beziehung zwischen ihm und Silvia zu einer, in der die Machtverhältnisse ständig wechseln und die für den Zuschauer stetig undurchsichtiger und rätselhafter wird. Das war es in etwa, was ich in jener nunmehr in den Weiten des Netzes verschollenen Kritik über BLUE MOVIE lesen konnte – zusätzlich mit dem einen oder anderen technischen Detail und ein wenig Interpretation seitens des Verfassers -, und das war es, das mich so sehr inspirierte, dass ich meinen ersten Roman, den ich, konfrontiert mit der Leere des Seins und der Sinnlosigkeit alles Tuns und Lassens, in einer wirklich heftigen Phase meines Lebens komplett auf diesem Grundmuster aufbaute und innerhalb weniger Wochen runterschrieb, wohlgemerkt ohne BLUE MOVIE zu diesem Zeitpunkt gesehen zu haben, ein Umstand, dem auch die folgenden Jahre keine Abhilfe schafften, denn selbst dann, als ein Freund ihn mir als verrauschten VHS-Rip zukommen ließ, traute ich mich lange nicht, ihn mir anzuschauen, aus der Angst heraus, alles, was ich mir in meinem Kopf zusammengebaut hatte, könne als Kartenhaus ineinander fallen, weil die Wirklichkeit meist unfassbar weit hinter dem zurückbleibt, wie man sie sich in seiner Phantasie ausmalt.
2. Auf zwei Weisen ist die Photographie mit Tod, Töten, Sterben verbunden. Erst recht spät in Erscheinung getreten - etwa seit den frühen 1880er Jahren, als der französische Physiologe Étienne Jules Marey eine photographische Apparatur baute, die schon von ihrer Optik her an eine Flinte erinnerte - seitdem aber allein etymologisch unseren Umgang mit Photographien konstituierend, die wir schießen und nicht auf andere Art gewinnen, ist die Auffassung der Kamera als Waffe, wie sie philosophisch in den Thesen Paul Virilios auf den Punkt gebracht wird, der die moderne Medienlandschaft nicht bloß als eine versteht, die sich aus dem militärischen Milieu entwickelt habe, sondern in ihr per se noch immer aktive und die menschliche Gesellschaft in ein apokalyptisches Endzeitszenario verwickelnde Kriegstechnologie erblickt, oder künstlerisch kongenial eben im Vorspann von BLUE MOVIE, der als Filmstreifen arrangierte Screenshots auf akustischer Ebene mit dem Geräusch eines feuernden Revolvers zusammenbringt: pro Bild ein Schuss. Sein Protagonist Claudio hat außerdem in Gefilden seine Photos geschossen, in der auch Kugeln die Läufe von Waffen verlassen haben. Er ist in Vietnam gewesen, hat Gräuel festgehalten, von denen er nun nicht mehr loskommt. Sie verfolgen ihn, tauchen über den ganzen Film verteilt auf, blitzen auf wie nicht ganz erstickte Flammen: ein Mönch, der sich selbst in Brand steckt, um für oder gegen irgendetwas zu protestieren, Aufnahmen von Massengräbern in KZs oder Gulags, in unnatürlichen Verkrümmung auf Schlachtfeldern liegende Leichen. Bereits in seinem Debut-Spielfilm, LE SALAMANDRE von 1969, hat Cavallone derartige, reales Leid und Sterben wiedergebende Bilder mondo-montagenhaft reichlich schockierend und überraschend eingebracht, in BLUE MOVIE sind sie nun omnipräsent und zeigen sich immer dann an, wenn man sie am wenigsten erwartet, beispielweise in einer Liebesszene zwischen Claudio und Silvia. Dadurch, dass sie einen Moment aus seinem natürlichen Kontext ausgliedern und in einen neuen, die Sterblichkeit vordergründig verneinenden, tatsächlich aber unwillkürlich Zeugnis von ihr ablegenden versetzen, fungieren Photographien auf der anderen Seite vor allem auch als Särge, in die man das bettet, was man nicht verlieren möchte. „Jede Fotografie ist eine Art memento mori. Fotografieren bedeutet teilnehmen an der Sterb-lichkeit, Verletzlichkeit und Wandelbarkeit anderer Menschen (oder Dinge). Eben dadurch, daß sie diesen einen Moment herausgreifen und erstarren lassen, bezeugen alle Fotografien das unerbittliche Verfließen der Zeit“, schreibt Susan Sontag. Wie jeder Verdrängungsmechanismus schafft es die Photographie letztlich natürlich nicht, das Sterben aufzuheben, kann es noch nicht einmal wirklich erträglich für die noch Lebenden machen, da sie, selbst wenn sie das Vergangene in sich einschließt, doch nichts daran ändert, dass es dadurch nicht zur Gegenwärtigkeit wird, sondern Vergangenes bleibt, von dem lediglich Spuren in der Gegenwart zurückgeblieben sind. Das weiß auch Claudio, nicht nur, weil die Photographien, die er aus den verschiedensten Kriegsgebieten mitgebracht hat, ihm allein schon deshalb nicht aus dem Kopf gehen, weil er sie wie Schätze in Kisten und Kartons hortet und immer mal wieder auf sie zurückgreift, so, als wolle er sie gar nicht vergessen. Seine Modelle nämlich, ähnlich übrigens wie David Hemmings in Antonionis BLOW UP, mit dem BLUE MOVIE viel gemein hat, platziert er gar nicht als echte Subjekte vor seiner Linse, sondern betont vollmundig, dass sie für ihn bloße Objekte seien, nichts anderes als Coladosen, auf denen er herumtrampeln könne, um ihnen eine neue Gestalt zu geben, formbar und ihm völlig ausgeliefert. Manche davon, wie Silvia, bieten ihm dabei durchaus die Stirn, andere, vor allem Daniela, liefern sie sich ihm freiwillig komplett aus: scheinbar unzufrieden mit dem, was sie ist, und unfähig, ein wie auch immer geartetes Werden selbst in Gang zu setzen, unterwirft sie sich vollkommen dem fremden Willen Claudios, indem sie sich von ihm einsperren lässt, von ihm Fast Food und Zigaretten erhält, wenn sie ihm im Gegenzug dafür Kot und Urin abtritt. Ganz nahe ist Cavallone hierbei auch bei der radikalen Kapitalismuskritik von Pasolinis SALO. Vordergründig, weil es in BLUE MOVIE ebenso grenzwertige Szenen gibt, in denen nackte Frauenkörper in Scheiße getunkt oder dazu gezwungen werden, sich wie Hunde, kläffend und auf allen Vieren, fortzubewegen, vor allem jedoch, da Pasolini und Cavallone die gleichen Feindbilder zu teilen scheinen: einen über alles, Emotionen und Gedanken, dominierenden Warenkult, der simpel und effektiv in der Metapher von Claudios Coladosen und Zigarettenschachteln zum Ausdruck gebracht wird, von denen einem die Werbung das absolute Heil verspricht, die inwendig jedoch einfach nur voller Exkremente sind. Ein weiterer Film, der in dieses Ensemble gehört und auf den BLUE MOVIE allein schon mittels seines Titels anspielt, wäre in dem Zusammenhang Makavejevs bitterböse Satire auf den Untergang von Kapitalismus und Kommunismus SWEET MOVIE.
3. Ein Freund erklärte mir, BLUE MOVIE sei der misogynste Film, den er jemals gesehen habe. Ich kann dem nur halb zustimmen. Sicher, BLUE MOVIE ist voller frauenfeindlicher Handlungen, ähnlich wie Cavallones direkter Vorgänger SPELL, nichtsdestotrotz werden all diese Machtspiele meiner Meinung nach nie affirmativ in Szene gesetzt. Das Unbehagen, das ich nach wie vor bei BLUE MOVIE empfinde, resultiert nicht daraus, dass es den Anschein erweckt, als würde Cavallone männlicher Dominanz und patriarchaler Unterdrückungsmechanismen irgendetwas Positives abgewinnen. Sein Held Claudio ist ein tragischer, ein gebrochener Mann, der in die Abgründe der Welt geschaut hat, und seine Befriedigung jetzt daraus zieht, gottgleich die Marionettenfäden der ihm ausgelieferten Frauen zu lenken zu versuchen. Wobei Befriedigung wohl das falsche Wort ist, denn wirklich befriedigt scheint mir in BLUE MOVIE niemand zu werden. Anders als die Libertins bei de Sade, denen man durchaus abkauft, dass sie für den Moment einigermaßen beglückt sind, wenn sie Kot verspeisen und halbwüchsige Mädchen zerstückeln, kommt Claudio im wahrsten Sinne der Bedeutung nie zu einem orgiastischen Höhepunkt. BLUE MOVIE - der Titel rührt von Andy Warhols etwa zehn Jahre zuvor entstandenem Film her, in dem, neben angeblich ungestellter Sexszenen, ein Pärchen über allerhand tagespolitische Themen der amerikanischen Sub- und Gegenkultur plaudert, und ist seitdem zum Synonym für das Genre des Porno geworden. BLUE MOVIE - das ist bei Cavallone indes ein Versprechen, das bewusst nicht eingehalten wird. Obwohl es faktisch stimmt. Definiert man einen Porno als einen Film mit pornographischen Bildern, dann ist BLUE MOVIE natürlich einer. Wirklich vorstellen kann ich mir indes nicht, dass irgendwer von den in der ungekürzten Fassung des Films enthaltenen Hardcore-Sequenzen großartig stimuliert werden wird. Nicht nur, dass Cavallone seinen Figuren, wie gesagt, die Ergüsse konsequent verweigert, zudem bestehen die xxx-Einsprengsel hauptsächlich aus uninspirierten Blow Jobs, bei denen die Frauen knechtisch kniend an männlichen Genitalien saugen, das alles so wenig erotisch wie möglich gefilmt, ungeschminkt, schmuddelig, keineswegs erregend. Einzig eine dieser Szenen sticht wegen Cavallones schrägem Humor hervor, wenn er Szenen eines Hand Jobs zu Musik Jacques Offenbachs beinahe schon kindlich verspielt in einem in vier Segmente gesplittetem Bildschirm, teilweise seitenverkehrt und auf dem Kopf stehend, anordnet, wobei einem das Lachen dann schon fast wieder im Halse steckenbleibt, sieht man in Zwischenschnitten, wie die ihn wichsende Frau ihm hündisch Brotkrumen vom nackten Brustkorb lecken muss. Von seiner Metaebene her ist BLUE MOVIE für mich nicht weit entfernt von einem Film wie CANNIBAL HOLOCAUST. Bei beiden suggeriert der Titel etwas, das zwar eingehalten wird – er ist de factio ein Film aus der Blauen Serie so wie sich bei Deodato niemand beschweren dürfte, dass er keinem kannibalischen Holocaust hätte beiwohnen dürfen -, das sich aber andererseits gegen den Betrachter selbst wendet und ihm einen Spiegel vorhält, auf dessen Glas geschrieben steht: ist es wirklich das, was Du wolltest?, wieso möchtest du denn überhaupt einen solchen blue movie sehen?, was reizt dich an einem Werk namens Cannibal Holocaust? Subversion durch Affirmation, könnte man das nennen.
4. Es ist verblüffend, wie sehr Cavallone die Arbeiten eines David Lynchs antizipiert. Zeitschleifen, merkwürdige Charaktere, die merkwürdige Dinge tun, ausgefallene Symbole wie ein von einem homosexuellen Farbigen in einer Sporttasche herumgetragenen Totenschädel, der sich später in einen Stein verwandeln wird, nahezu völliger Verzicht auf Kohärenz: das sind alles Elemente, die man so oder so ähnlich wenige Zeit danach auch im Werk des Amerikaners wiederfinden wird. BLUE MOVIE, angeblich innerhalb einer Woche mit einem Budget entstanden, für das man in gewissen Restaurants nicht mal ein Dessert bekommen würde, ist zudem einer der Filme, die aus dem wenigen, was sie besitzen – keine großartigen Kulissen, eine Handvoll (Laien-)Schauspieler, dürftige technische Ausstattung – das Maximum herausholen. Cavallones Bildkompositionen, seine Beleuchtung, seine Dialoge sind superb. Besonders bewegend empfand ich, als Leda Claudio von ihrer Vergangenheit berichtet: sie sei in einer Stadt großgeworden, die Opfer eines Erdbebens geworden sei, und während die meisten Bewohner nun daran gingen, diese wieder aufzubauen, sei sie in die Fremde geflohen. Noch bewegender: der avantgardistische Schnitt, der einen völlig orientierungslos lässt, was Zeit und Raum betrifft, in denen BLUE MOVIE angesiedelt ist. Weder sieht man das Haus Claudios jemals von außen, sodass es wie ein gigantischer, labyrinthischer Komplex erscheint, bei dem man nie weiß, wo man sich gerade in ihm aufhält, welche Räume miteinander verbunden sind etc., noch gibt es irgendwelche Orientierungspunkte, die einerseits klarmachen würden, wie viel Zeit nun zwischen den einzelnen Szenen vergangen ist, oder andererseits aufzeigten, wo die sogenannte Realität aufhört und die Träume, Visionen, Halluzinationen beginnen. Vor allem Silvias Horror-Visionen von aus Badewannen voller Blut nach ihr greifenden Männerarmen oder das wahrhaft surreale Ende wären Beispiele hierfür. Cavallone versteht es, nicht nur inhaltlich überaus ätzend all das zu attackieren, was er hasst, er stellt die gesamte Ästhetik seines Films in den Dienst dieser aufrührerischen Attitüde. Wer sich beschwert, dass in BLUE MOVIE so gut wie kaum eine Regel des klassischen Erzählkinos beachtet wird, hat seine Intention nicht durchblickt.
5. Am Ende von BLUE MOVIE steht ein Selbstmord. Es ist nicht nur der seine Helden Claudio, es ist auch Cavallones eigener. Vielleicht aus dem Wissen heraus, ein Werk wie dieses an Radikalität niemals mehr überbieten zu können, hat Cavallone sich nach BLUE MOVIE vollends im horizontalen Genre versenkt. Nach dem Motto: ihr bekommt, was ihr wollt!, sind seine wenigen Folgefilme äußerst bizarre Studien sexueller Perversionen, bei denen man einen politischen Kommentar mit der Lupe suchen kann. Somit stellt BLUE MOVIE den Abschluss einer Revolte dar. Photos werden in ein Lagerfeuer geworfen. Was folgt, werden Zwerge mit um die Köpfe geschnallten Dildos und vor laufender Video-Kamera misshandelte Erotikdarstellerinnen sein. Ein letztes Mal aber: ein extrem wütender Schrei, der in mir nachhallt und nachhallt und nachhallt.