Im Indien der 1930er Jahre ist Clive Dawson so etwas wie der Prototyp des britischen Aristokraten. Er unterhält einen weitläufigen Plantagenbesitz, dessen lukrative Erträge ihm einen Lebensstandard himmelhoch über dem des Durchschnittsinders ermöglichen, lebt mit seinem Sohn Rupert in einer luxuriösen Villa keinen Steinwurf vom Dschungel entfernt, und ist den Verlockungen exotischer Schönheit ebenfalls nicht abgeneigt, wie die Beziehung zu Shaheen zeigt, die er jedoch zu Beginn von José Rámon Larrazs LA MUERTE INCIERTA wenig einfühlsam auflöst. Stattdessen wird die Frau, mit der er bislang das Bett geteilt hat, rücksichtslos wie ein Gegenstand, dessen Halbwertzeit abgelaufen ist, des Hauses verwiesen, bevor Clive sich für einen längeren Aufenthalt in seiner Heimat aus den Kolonien zurückzieht, während Halbwaise Rupert, der seine Zeit am liebsten mit Malen und Musizieren verbringt, als alleiniger Herr über das Dawson‘sche Imperium verbleibt. Nicht schlecht staunt dieser indes, als der Vater bei seiner Rückkehr wiederum nicht alleine ist, sondern sich in London mit Brenda eine Ehefrau angelacht hat, deren Alter, deren Frohnatur, deren jugendliche Naivität dem grantigen, grummeligen Wesen ihres Gatten diametral entgegengesetzt sind. Aber auch Clive muss unwillig Notiz von einigen Veränderungen nehmen, die sich in seiner Abwesenheit vollzogen haben: Shaheen hat sich mit ihrem zerbrochenen Herz in den Ganges gestürzt, und ist erst Tage später, zernagt von Krokodilen und aufgeweicht vom Flusswasser, aufgefunden worden. Schlagartig haben daraufhin nahezu sämtliche Hausangestellte der Dawsons ihren Dienst aufgekündigt, und, ähnlich wie ihr Arbeitgeber, regelrecht fluchtartig die Villa verlassen. Der greise Shunda, der bereits bei Clives Vater in Lohn und Brot stand, ist einer der wenigen, die die Stellung gehalten haben, und spielt Shaheens Tod und die offenbar mit diesem in Relation stehende Flucht der Bediensteten zu einer Lappalie herunter. Weniger vom Tisch gewischt werden können allerdings sowohl einige amouröse Verwicklungen, die sich, zunächst subtil, alsbald recht deutlich zwischen der sexuell unbefriedigten Brenda und dem introvertierten Rupert zu knüpfen beginnen. Von denen merkt Clive vor allem deshalb nichts, weil in ihm ein Verdacht keimt, der sich schnell zur fixen Idee auswächst: Was, wenn Shaheen ihren Tod nur vorgetäuscht hat, um bitterliche Rache an ihm für seine Zurückweisung zu nehmen? Ein Indiz für ihn stellt ein Tiger dar, der seit Neustem die Gegend terrorisiert, und dem schließlich auch sein treuer Diener Shunda zum Opfer fällt. Haben die Bewohner des Dorfes, die ebenfalls seit Neustem rätselhafte Feuerzeremonien mitten in der Nacht abzuhalten scheinen, nicht immer mal wieder angedeutet, dass Shaheen mit Raubkatzen eine ganz besonders innige Verbindung unterhalten würde?...
Dem lieben Sergio sei Dank habe ich nun auch endlich dieses Frühwerk Larraz‘ sehen können, bei dem es sich – nach WHIRLPOOL und DEVIATION – um seinen insgesamt dritten Film handelt, der sich bei einem reinen Oberflächenblick bruchlos in den von den beiden Vorgängern eingeschlagenen Weg einreiht, von dem es weiter zu den Meisterwerken SYMPTOMS und VAMPYRES führen wird. Deutlich trägt die Grundkonstellation und -struktur von LA MUERTE INCIERTA die Handschrift des frühen Larraz, der es liebt, eine Bande aus undurchschaubaren Figuren, zu dem der Betrachter stets in eine gewisse Distanz gerückt bleibt, in einem bereits durchschaubareren narrativen Korsett, dessen reine histoire auf zwei, drei Sätze heruntergebrochen werden kann, an einem komplett überschaubaren Ort zu versammeln, dessen topographischen Grenzen wiederum oftmals mit denen der Handlung in eins fallen. Auch LA MUERTE INCIERTA führt Protagonisten ins Feld, von denen im Grunde – einmal abgesehen von der unbedarften Brenda – kein einziger auch nur ansatzweise die Möglichkeit bereithält, dass ich irgendwelche Sympathien für ihn hege, und deren Handlungen bis zum Finale – und teilweise noch weit darüber hinaus – im besten Falle rätselhaft bleiben. Auch LA MUERTE INCIERTA setzt seine langsame, teilweise nahezu elegisch ausgebreitete Story vorrangig aus Versatzstücken klassischer Schauerromantik zusammen – eine geheimnisvolle Familiengeschichte, die sich quasi materiell in einem Herrenhaus niedergeschlagen hat; eine verbotene Tür, die man, wie bei Blaubart oder REBECCA, besser nicht öffnen sollte, wenn einem sein Kopf auf den eigenen Schultern am besten gefällt; ein ominöser Fluch, bei dem über die meisten Laufzeitstrecken nicht eindeutig zu klären ist, ob er nur den Hirngespinsten des vermeintlich Verfluchten entspringt, oder in einer wirklichen Bedrohung außerhalb desselben gründet –, und schöpft seine Innovation primär aus dem kreativen Umgang mit den tradierten Materialien, der Larraz als waschechten Bricoleur ausweist. Auch LA MUERTE INCIERTA verlässt kaum einmal die Mauern des alten, dunklen Hauses, in dem sich etwa fünfundachtzig Prozent seiner Geschichte abspielt, und stellt die menschlichen und unmenschlichen Dramen der Familie Dawson damit in eine unmissverständliche Wechselbeziehung mit der Architektur, die sie umgibt: Ist das Haus mit seinen Geheimtüren, aus gutem Grund verrammelten Kellergewölben und staubverhangenen Ahnengemälden Produzent der sich in ihm vollziehenden Tragödien, oder verformen diese Tragödien während ihres Vollzugs das sie umlagernde Wohnhaus wie ein in ihm rumorender Tumor?
Ins Auge springt mir vorliegender Film auf der Folie von Larraz‘ Frühwerk eigentlich nur wegen zwei Dingen: a) Seinem Schauplatz bzw. den damit verbundenen kulturellen Implikationen, und b) seiner ausgemachten Züchtigkeit sowohl in Belangen der (weiblichen) Nacktheit als auch etwaiger Gewaltspitzen. Was ich mit letzterem meine, ist nicht die von mir bereits wiederholt konstatierte Zurückhaltung Larraz‘ in Bezug auf selbstzweckhafte Blut- und Spermaorgien: VAMPYRES einmal ausgenommen – (dessen teilweise beinahe groteskes Baden in Körperflüssigkeiten Larraz in Interviews aber gerne den britischen Produzenten ankreidet) –, zeichnen sich die Filme des Spaniers nun nicht unbedingt dadurch aus, für die Fraktion der GoreHunde besonderes geeignetes Fressen abzugeben: Wenn gerade in Larraz‘ frühen Filmen die Hüllen fallen – seien es nun Klamotten oder die des Fleisches –, dann meist narrativ motiviert, und wenn Larraz mir das Fürchten lehren will, tut er es nicht mit plakativem Suhlen in Eingeweiden, sondern durch das Schaffen einer melancholischen, manchmal gar tieftraurigen, verstörenden Atmosphäre für die sein Cannes-Beitrag SYMPTOMS wohl das Paradebeispiel darstellt. Trotzdem lässt sich aber nicht von der Hand weisen: Transgressiven Szenen ist Larraz durchaus nicht abgeneigt – seien es nun Balzakte mit Ziegenböcken in LOS RITOS SEXUALES DEL DIABLO, seien es splitternackte Frauen, die in den Bäuchen goldener Pferdestatuen knien in LA VISTIA DEL VÍCIO, oder sexualisierte Slasher-Morde in SCREAM…AND DIE! Von alldem ist in LA MUERTE INCIERTA nun wirklich nicht die Spur einer Haarspitze zu finden. Todesfälle geschehen, wenn überhaupt, im Off oder gleich gänzlich außerhalb der Handlung, und obwohl der Film durchaus einige verzwickte sexuelle Verbindungen aufs Plot-Tableau setzt, wendet sich die Kamera eher verschämt von diesen ab. Symptomatisch hierfür mag die Rolle stehen, die Rosalba Neri, immerhin 1973 bereits umschwärmte Sex-Ikone des europäischen Genrekinos, in vorliegendem Film bekleidet – wobei ich „bekleidet“ in dem Zusammenhang durchaus doppeldeutig verstanden wissen möchte, einmal ohne Anführungszeichen, denn tatsächlich agiert ihre Figur der Shaheen zugeknöpft bis zum Kinn, und einmal mit Anführungszeichen, denn, selbst sämtliche Rückblenden miteingerechnet, nimmt Neris Leinwandpräsenz insgesamt vielleicht ein Zeitfenster von unter drei Minuten ein. Das soll nun nicht klingen, als ob ich mich nur bei einem Film unterhalten fühlen könnte, wenn die weiblichen Akteure ihre primären und sekundären Geschlechtsteile präsentieren, und wenn reichlich roter Lebenssaft sudelt. LA MUERTE INCIERTA indes hätte etwas mehr „Mut“ der Inszenierung – (in was auch immer sich dieser dann konkret manifestiert hätte) – sicherlich gutgetan. Über weite Strecken wirkt Larraz‘ Film – nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass nahezu der gesamte Film in geschlossenen Räumen abgedreht worden ist – nicht anders als so, wie ich mir eine betuchte britische Seifenoper der frühen 70er in Spielfilmlänge vorstelle.
Etwas aus der inszenatorischen Mittelmäßigkeit gerissen wird der Film immerhin durch seine originelle Schauplatzwahl. Während die ihn umlagernden Larraz-Filmen den nebelverseuchten, moosig-morastigen Landschaften Englands ein Denkmal setzen, hat es ihn und sein Team für LA MUERTE INCIERTA in fernes Indien verschlagen – oder, besser gesagt: Zumindest die Diegese seines Films, denn das indische Curry, das beim Catering für die Drehpausen verwendet worden ist, dürfte noch das engste Band zwischen dem südasiatischen Staat und dem englischen Filmteam gewesen sein. Stattdessen bestreitet das Lokalkolorit vor allem zu Beginn exzessiv eingesetztes stock footage von Elefanten, Reisbauern, Palmenwäldern, das mal mehr und mal weniger geschickt zwischen die augenscheinlich ausschließlich in britischen Studios entstandenen Spielszenen eingestreut worden ist: Wenn Dawson seine Frischangetraute erstmals mit auf die Plantagen nimmt, und man dorthin auf dem Rücken von Rüsselträgern reist, dann dekonstruiert zumindest mein geübtes Auges schnell die filmische Illusion, und stellt fest, dass die Lastelefanten und die Last, die sie angeblich schleppen, nie und nimmer einander in die Nähe gekommen sind. Innerhalb der Diegese des Films funktioniert die Szene aber trotzdem, da sie routiniert genug montiert ist, um jemandem, der komplett in der Handlung versunken ist, nicht aus dieser heraus zu schubsen. Genauso liefert LE MUERTE INCIERTA aber auch Momente, die wirken, als seien all die Szenen aus irgendwelchen Naturdokumentationen eher zufällig mit den Spielszenen aneinandergeraten. Unbeholfen ist zum Beispiel eine Folge dreier Aufnahmen etwa in Filmmitte, als wir zunächst Rupert beim Malen seiner Gemälde sehen, dazwischen plötzlich einen räumlich-zeitlich völlig zusammenhanglosen Kameraschwenk über indische Plantagenarbeiter, und daraufhin weiter der eigentlichen Handlung folgen, die damit beginnt, dass Clive Dawson sein Arbeitszimmer betritt.
Allerdings verhilft die Idee, die Story vor dem Hintergrund eines kolonialistischen Indiens anzusiedeln, auch zu einigen Impulsen, die immerhin interessant genug waren, mich während meiner Sichtung, obwohl ich todmüde gewesen bin, nicht vorzeitig einnicken zu lassen. Das britische Kolonialsystem erfasst Larraz‘ Film beispielweise ausgenommen treffend, ohne zu irgendeinem Zeitpunkt in plakative Kritik oder gar verklärende Romantisierung zu verfallen: Wenn die Dawsons bei der Einnahme ihres Abendmahls eine Hausangestellte dazu verdingen, ihnen pausenlos mit einem übergroßen Vorhang frische Luft zuzufächern, und Clive sie wüst ermahnt, sie solle ja nicht einschlafen dabei, oder der Schwäche ihrer lahmen Arme nachgeben, dann sagt das in einer beiläufigen Szene bereits viel aus über Interdependenzen zwischen Kolonialherren und kolonisiertem Volk, ohne dass das Drehbuch diese noch einmal ausführlicher thematisieren müsste. Wichtig für mich aber ist der landesspezifische Zug, den Larraz seiner Gespenstergeschichte verpasst: Shaheen geistert nicht nur in Clives Phantasie und/oder dem Dawson-Anwesen umher, sondern hat offenkundig die Partei der Raubkatzen auf ihrer Seite, wobei der Film bis zuletzt offenlässt, worin dieser Konnex zwischen Frau und Tigerin im Aberglaube der indigenen Bevölkerung nun eigentlich besteht: Soll Shaheen in einer Tigerin reinkarniert worden sein, führt die Tigerin ihrer Rache als Stellvertreterin aus, oder hat sie sich selbst in eine Tigerin verwandelt? Natürlich ist auch die exotische, verführerische, mit der Rationalität der westlichen Welt zuwiderhandelnden Mächten im Bund stehende und mit der Flora und Fauna in innigstem Kontakt stehende Frau ein althergebrachter Topos. Wie ihn Larraz jedoch aufgreift und variiert – nämlich, wie oben angedeutet, so, dass er völlig ambivalent und ambigue bleibt –, das verleitet mich beinahe dazu, LA MUERTE INCIERTA dann doch in einem Atemzug mit thematisch verschwisterten und verbrüderten Filmen wie Jacques Tourneurs CAT PEOPLE oder der Prosper-Mérimée-Verfilmung LOKIS von 1970 zu nennen. Unterstrichen werden sollte dabei aber das „fast“, denn spätestens jetzt kommt es mir so vor, als würde mir LA MUERTE INCIERTEA in der Retrospektive wesentlich spannender scheinen als er sich mir bei der eigentlichen Sichtung offenbart hat, und wenn ich mich am Riemen reiße, und einmal versuche, nicht über Gebühr an diesem dahinplätschernden Film herumzuinterpretieren, muss ich doch zugegeben: Von allen Filmen, die Larraz bis VAMPYRES inszeniert hat, wird das dann doch der eintönigste sein.