Land des Schweigens und der Dunkelheit - Werner Herzog
Verfasst: So 4. Mai 2014, 10:24
Regie: Werner Herzog
Produktionsland: Deutschland 1971
Seit langer Zeit bin ich bei einem Film wieder in Tränen ausgebrochen. Es war diese Szene relativ zu Beginn von Werner Herzogs LAND DES SCHWEIGENS UND DER DUNKELHEIT. Fini Straubinger ist eine Taubblinde Ende 50, die es sich zu ihrer Lebensaufgabe gemacht hat, andere Taubblinden aus ihrer Einsamkeit, eben dem titelgebenden geräusch- und lichtlosen Kosmos, herauszuhelfen oder sie ihnen zumindest dadurch erträglich zu machen, dass sie für sie zu einer Brücke wird, die sie ihnen zur Welt schlägt, indem sie ihnen mit den Fingern ein komplexes Alphabet in die Handteller zeichnet. Mit einer älteren, ebenfalls gehör- und sichtlosen Dame besteigt sie zum ersten Mal in ihrem Leben ein Flugzeug. Bei ihnen ist ein dritter Mann, der wiederum für Fini Straubinger die Außenwelt übersetzt, worauf diese wiederum sie an das alte Mütterchen weitergibt. Zunächst betastet man fasziniert das Flugzeug, dann sitzt man aufgeregt in den Sitzen: die Maschine hebt ab, und unruhig können beide, Fini Straubinger und ihre Schicksalsschwester, kaum die Hände stillhalten, die begierig darauf sind, zu erfahren, was sich draußen vor den Fenstern abspielt, wie der Himmel aussieht und das Land weit, weit unter ihnen. Fast wirkt es wie ein Billardspiel. Der Mann gibt seine Eindrücke, die eines Sehenden, an Fini Straubinger weiter, und dem alten Mütterchen kann es kaum schnell genug gehen, diese daraufhin von ihr zu empfangen. Wie ein junges Mädchen, voller Freude und Begeisterung, klatscht die Alte in die Hände, zappelt auf ihrem Sitz und hat das Gesicht des glücklichsten Menschen auf Erden. Es ist, als sähe ich in diesem Moment das Altvertraute von einer so unschuldigen, so unbelasteten Warte, dass es mich erschüttert.
Fliegen, das ist nicht nur ein uralter Traum der Menschheit, es ist ein Traum Werner Herzogs selbst, der als Junge Skispringer hatte werden wollen, nein, nicht nur das: sogar Skiweltmeister, einen Plan, den er aufgegeben hat, nachdem ein Freund von ihm bei eben diesem Sport schwer verunglückt ist. Deswegen wimmelt es in seinen Filmen von Helden, die wahlweise das Schicksal des Ikarus oder des Dädalus teilen: sei es nun der Bildschnitzer Steiner, der beim Skispringen einem Vogel gleicht, oder Fitzcarraldo, der die Schwerkraft dadurch überwindet, dass er kurzerhand ein ganzes Schiff über einen Berg ziehen lässt, oder Dieter Dengler, der um alles in der Welt Pilot werden möchte und sogar einen Absturz über dem Vietnamesischen Dschungel während der Kriegsjahre überlebt, oder eben Fini Straubinger, die als Neunjährige einen salto mortale das Treppenhaus hinunter versuchte und dabei so unglücklich stürzte, dass ihr Gehirn irreparable Schäden davon getragen hat. Die äußerten sich zunächst schleichend, ihre Augen werden schlechter, nach ein paar Jahren ist sie völlig blind, schließlich versagen ihre Ohren, Jahrzehnte verbringt sie nahezu gelähmt im Bett, abgekapselt von ihrer Umwelt, in kaum vorstellbaren Seelenqualen. Dennoch bringt sie die Kraft auf, wohl auch mit der Hilfe Gottes, wie sie einmal andeutet, aus diesem Schicksal etwas Positives zu gewinnen. Sie erlernt die Sprache der Taubblinden, die, wie gesagt, darin besteht, dass man sämtliche Buchstaben unseres Alphabets in einem menschlichen Handteller verortet hat, nun muss man sie bloß noch mit den Fingerspitzen antippen oder von einer bestimmten Stelle zu einer anderen fahren oder mehrere Finger auf einmal gebrauchen, jeder Buchstabe besitzt sein eigenes Zeichen, durch das er dem, der weder hören noch sehen kann, bewusst wird. Ihr Vorteil ist zudem, dass sie sich an die Welt ihrer Kindheit erinnern kann. Sie spricht davon, einmal beim Skispringen gewesen sein. Ganz aufmerksam habe sie die Gesichter der Männer beobachtet, als sie abhoben. Ihrer Sprache hört man indes ein bisschen an, dass sie sich selbst nicht hören kann. Klar und deutlich ist ihre Aussprache, trotzdem etwas befremdlich, ein wenig so wie die des Bruno S., dem Hauptdarsteller in Herzogs späteren Filmen STROSZEK und vor allem KASPAR HAUSER, für den mir LAND DES SCHWEIGENS UND DER DUNKELHEIT beinahe eine Art Vorläufer zu sein scheint in der Art und Weise wie Herzog, was indes wiederum typisch für ihn ist, eine Figur, die am Rande der Welt steht, zu der Perspektive werden lässt, aus der wir diese unsere Welt neunzig Minuten lang betrachten und damit neu kennenlernen dürfen.
Damit macht Werner Herzog, wie so oft, meine eigene Welt reicher, er füllt sie mit Bildern, die nachhallen, und mit Landschaften, von denen ich träume, und mit Erfahrungen, die wirken, als hätte ich sie an seiner Seite durchlebt. Er ist nicht nur einer der meistgereistesten Regisseure aller Zeiten – ich glaube, auf jedem Kontinent spielen mindestens zwei der bald sechzig Filme von ihm -, sondern auch einer der konsequentesten, mit einer ganz eigenen Poetologie, die sich durch sein komplettes Oeuvre zieht. Wie von weit oben scheint er mir oft seine Figuren, seine tragischen Helden, die größenwahnsinnigen Konquistadoren, die kleinwüchsigen Revolutionäre, die den Tod nicht suchenden, aber in Kauf nehmenden Extrembergsteiger, und von ihnen ausgehend die ganze Menschheit zu beobachten, das alles jedoch mit einer grenzenlosen Liebe und Humanität, von der sich jeder monotheistische Gott eine dicke Scheibe abschneiden könnte, und vor allem mit der Tendenz, die Realität in ihrem Kern zu verleugnen, indem er sie ständig ins Groteske kippen lässt, in ihr Zerrbild, so absurd, dass wir von dieser Absurdität her erst erkennen, was die Welt tatsächlich im Innersten zusammenhält.
Nach langer Reise kehrte ich neulich in meine Wohnung zurück. Wochenlang hatte sie niemand betreten. Als ich die Tür des zweiten Zimmers öffnete, das mir im Grunde nur als Atelier und nicht als Wohnraum dient, traute ich meinen Augen kaum. Sein Boden war übersät von toten Asseln, winzigen, vertrockneten Leibern, allesamt auf dem Rücken liegend, als hätten sie einem intuitiven Gesetz gehorcht, dass es sich auf dem Rücken leichter sterben lässt. Das Geheimnis war schnell gelüftet: ich hatte begonnen, Steinbrocken und Holzstücke überall in der Stadt zu sammeln und in dem Raum aufzuschichten, vielleicht die, ohne das wertend zu meinen, primitivste Aufgabe, die man sich stellen kann – das alles, um ein Monument zu bauen, ein Mausoleum, etwa wie ein Hamster, kurz bevor der Winterschlaf naht, zusammenrafft, was er an Essbarem finden kann, um sofort hineinbeißen zu können, wenn ihn der Frühling weckt. Zwischen manchem dieser Steine müssen Asseln gelebt haben, die ich unwissend in meinem Zimmer einschloss. Sie hatten keine Chance zu entkommen, jedoch offenbar die hedonistische Weisheit, sich, dem Tod ausgeliefert, eifrig zu paaren, denn anders kann ich mir die mindestens vierzig Leichen, von denen viele noch ganz jung gewesen sein müssen, nicht erklären. In meiner Abwesenheit also Szenen höchster Tragik: Asseln, kopulierend in Agonie, Geburt und Tod so nahe beieinander wie noch nie. Ich wurde traurig, ich machte mir Vorwürfe, ich hielt mich, wahrscheinlich zu recht, für den Urheber dieses Leichenfeldes. Als ich den Kühlschrank öffnete, wehte mir Trost in Form einer Schimmelwolke entgegen. Ich hatte ihn abgeschaltet, jedoch einen Salatkopf vergessen, und man kann sich vorstellen, was mit ihm geschah. Der Schimmel griff außerdem auf den Kühlschrank selbst über, setzte sich in jedem Fach fest, kleine, grünlich-weiße Flechten, Pünktchen manchmal nur, schwarz-blau, eine nie gesehene Landschaft. Der Trost bestand darin, dass er mir sagte, beides habe sich quasi gegenseitig aufgehoben: das Sterben nebenan, das blühende Leben hier, die Asseln verhungern, dafür erzeugt dieser Salatkopf eine neue Existenz, keine Kerze wird ausgeblasen, ohne dass irgendwo eine andere entzündet wird, unser Universum verfügt nur über eine bestimmte Menge Energie, und von der verschwindet niemals etwas, sie wechselt nur die Form, die Aggregatszustände. Tröstlich zu denken: meine Asseln, unschuldig verendet, wiedergeboren in einem Schimmel-pelz, der sich weich und flauschig anfühlt wie der eines Kätzchens. Vielleicht ist ein solcher Blick auf die Welt – es gibt keine Sinnlosigkeit, solange ich selbst einen Sinn setze, der nicht absolut, aber heilsam, weil er eben letztlich sinnlos ist – etwas, das man von Herrn Herzog lernen kann. Wenn man sie nur lässt, denke ich mir, verzaubert die Welt sich schon von alleine. Lasst sie nur, und vergesst dann nicht, den richtigen Blickwinkel einzunehmen, damit der Zauber nicht aus dem Sichtfeld rutscht.
Wie fühlt sich das an, zum ersten Mal einen zweijährigen Schimpansen im Schoß zu halten, oder wie ist das, wenn ein kleiner Junge, taub, blind und, abgesehen von einigen für uns undefinierbaren Laute, stumm, die Angst vor Wasser überwindet und zum ersten Mal in einen Swimming-Pool steigt, und wie mag es sein, wenn die Hand eines Menschen, für den die Welt eine reine Abstraktion bleiben muss, zum ersten Mal einen Kaktus berührt? Wie jede Dokumentation Herzogs – ein weiterer Grund, ihn zu lieben – geht es in LAND DES SCHWEIGENS UND DER DUNKELHEIT nur sekundär um die sozialen Probleme Taubblinder - oder generell: „Behinderter“ - in unserer Gesellschaft, sondern primär um die Frage: was kann ich persönlich hiervon lernen? Herzog ist indes alles andere als ein Oberschullehrer. Seinen erhobenen Zeigefinger sehe ich so gut wie nie. Was er tut, ist Bilder zu liefern. Die werden zum Ausgangspunkt von Gedanken. Diese Gedanken können dazu beitragen, Leben zu verändern. In seiner sensationellen Reinhold-Messner-Dokumentation GASHERBRUM sagt er das gleich zu Beginn ganz deutlich: das soll kein Film sein über bestimmte Bergsteigtechniken, sondern ein Film über innere Landschaften, über etwas, das in uns allen schlummert. Herzogs Filme sind, als ob sie einem einen guten Freund vorstellen, den man bisher nicht gekannt hat, der aber dennoch dagewesen ist, irgendwo in einem. Selbst das Unglück wird zu einer Seins-Erfahrung, aus der man schöpfen kann, was einem vielleicht das Leben in einer sinnentleerten, durchtechnisierten, oberflächlichen Gesellschaft rettet: ein drohender Vulkanausbruch, brennende Ölfelder im Nahen Osten, Unfälle, die entstehen, weil Autofahrer am Steuer belanglose SMS schreiben. Das Unglück bleibt bestehen, Herzog relativiert da nichts, doch für die, die wir nicht direkt betroffen sind, die wir in Kinosesseln oder Fernsehsesseln sitzen und es aus der Distanz beäugen können, scheint da auf einmal die Möglichkeit zu sein, im Anblick solcher Katastrophen mehr über uns selbst zu erfahren, und das ganz ohne Betroffenheitslyrik und tragisch-suggestive Musik und die Aufforderung, so und so viele Euro für Opfer, die uns völlig fremd sind, zu spenden und uns zu winden unter der natürlich nach wie vor richtigen Gewissheit, dass die Schöpfung und die Menschheit eigentlich ein ganz großer Murks sind. Wahre Kunst tröstet, sie hat tausend Taschentücher bereit, wenn man sie am dringendsten braucht, und sie flüstert dir zu: du bist, trotz allem, nicht allein. Manchmal erkenne ich mich so sehr in Texten, in Filmen, in Gemälden, in Musikstücken wieder, die lange vor meiner Geburt entstanden sind, deren Verantwortliche schon gar nicht mehr am Leben sind, dass mir die Sinne vor der zum Glück unlösbaren Frage schwirren – bspw. als ich Huysmans EN RADE las: wie kann dieser Franzose aus dem vorletzten Jahrhundert so viel über die Bilder wissen, die ich selbst wie ungeborene Kinder in mir trage? – und was das Schönste ist: wie bei dem Priester in Achim von Arnims GRÄFIN DOLORES genügt ein solcher Blick und schon beginne ich unablässig zu gebären, eine Vielzitzenmaus gleich, zehn bis zwanzig Jungen mit einem Wurf.
Seit langer Zeit bin ich bei einem Film wieder in Tränen ausgebrochen. Es war diese Szene ganz am Ende von Werner Herzogs LAND DES SCHWEIGENS UND DER DUNKELHEIT. Fini Straubinger besucht einen Mann, taub und blind wie sie, der seit Jahren kein Wort mehr gesprochen hat und in einem Pflegeheim lebt. Er zeigt keinerlei Wille, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Seine alte Mutter erklärt, dass er nicht mal mehr mit seinen Geschwistern kommuniziere, so sehr habe er sich in sich selbst zurückgezogen. Während Fini Straubinger und die Mutter, natürlich mit Anwesenheit einer Dolmetscherin, die Fini in die Hand tippt, was die Mutter ihr zu berichten hat, auf einer Bank des Pflegeheimparks sitzen, stiehlt sich der Mann davon. Herzogs Kamera folgt ihm bis er auf seinem unsicheren Weg mit einem Ast zusammenstößt. Er bleibt stehen, betastet ihn, lässt sich von ihm zu dem dazugehörigen Baum führen. Er umfasst seinen Stamm, streichelt ihn neugierig und irgendwie zärtlich, umarmt ihn, kann nicht genug von den Blättern, den Ästen, den Zweigen, den Furchen in der Rinde kriegen. Es ist, als berührte ich selbst in diesem Moment zum ersten Mal in meinem Leben einen Baum. Der Baum wird zu einem nie gekannten Wunder, das wir zu einer Selbstverständlichkeit degradiert haben. Was dieser Mann, trotz seiner Seelenqualen, mir voraushat mag genau das sein: für ihn ist der Zauber der Welt in jenem Augenblick intakt, nichts stellt sich zwischen seinen Körper und den des Baumes, und der Baum wird zu einer Welt für sich, zu einem ganzen Universum, zu einem Lebenssinn, so wie man sagen könnte: meine Aufgabe, wenn ich denn unbedingt eine haben soll, sei es, Steine und Holz zu sammeln und in meiner Wohnung zu einem Monument aufzuhäufen: nicht weil mir das irgendwer oder irgendwas so vorgibt, nein, weil ich diesen Sinn autonom und aus mir selbst heraus setze.