Originaltitel: Die Wildkatzen von St. Pauli
Produktionsland: Deutschland 2008
Regie: Marco Koch
Darsteller: Eva Wagner, Nadine Scholz, Saskia Timm, Beat Wittwer, Fahri Yardim, Martin Reese
Für eine Woche im Januar 2018 durften die Besucher der Manchester Art Gallery dort, wo eigentlich John William Waterhouse’ 1896 vollendetes Gemälde HYLAS AND THE NYMPHS hätte hängen sollen, eine weiße Fläche betrachten. Gemäß der Intention der Galerieverantwortlichen, im Rahmen der #metoo-Debatte eine Diskussion über die Darstellung von Frauen innerhalb der (männlich dominierten) Kunstsphäre anzustoßen, konnte man diese weiße Fläche allerdings mittels Notizzettelchen füllen, auf denen man seine persönliche Meinung zur Debatte und explizit zur kurzfristigen Exilierung des Bildes eines der bedeutenden englischen Präraffaelisten kundtun konnte. Nach einer Woche hingen die Nymphen allerdings wieder an Ort und Stelle. Zu groß war der Protest der Öffentlichkeit gewesen, die offenbar, bis auf einige wenige Ausnahmen, nichts Anstößiges an einem über hundert Jahre alten Gemälde finden konnte, das zudem eine Szene aus der antiken Mythologie behandelt. Welche sexistischen Exzesse sehen wir nämlich auf HYLAS AND THE NYMPHS? Der titelgebende Jüngling, Waffengefährte Herkules‘ und später einer der Argonauten, die Jason auf der Suche nach dem Goldenen Vlies begleiteten, kniet vor einem Tümpel, wo er nicht sein Spiegelbild, sondern eine Gruppe von sieben Najaden erblickt. Lang und feucht fallen diesen ihre rotblonden, mit Blümchen gespickten Haare auf die splitternackten, nur teilweise von Seerosen verdeckten Körper. Sie schauen den Jüngling sehnsüchtig an. Eine hat ihn schon am Arm ergriffen, als wolle sie ihm sagen: Komm nur ein Stückchen näher! Ich möchte Dir etwas zeigen! Ein Argument, über das ich bei der Kontroverse um Waterhouse’ Gemälde Anfang des Jahres ständig gestolpert bin, war, dass die Repräsentation der Nymphen deshalb sexis-tischsei, weil es sich bei ihnen um fleischgewordene Männerphantasien handle. Sie scheinen in ihrer Quelle nur auf junge, starke Heroen zu warten, die vorbeikommen, auf dass sie sich ihnen hingeben können. Eine solche Interpretationen des Gemäldes verfehlt allerdings vollkommen den Kern der zugrundeliegenden Geschichte. Muss ich extra erwähnen, dass Hylas natürlich seinen Tod in besagtem Tümpel findet, und dass die so zuckersüß ausschauenden Nymphen natürlich die Verkörperung eines dämonischen, naturgebundenen Prinzips sind, das von jeher weiblich konnotiert gewesen ist: Die Frau als Hexe, der man, selbst wenn sie einen anlächelt, kein bisschen über den Weg trauen sollte. Wenn überhaupt, wäre HYLAS AND THE NYMPHS sexistisch, weil man in dem Gemälde eine Metapher für die letztlich todbringende, verderbliche, nymphomane weibliche Sexualität erblicken kann.
Weshalb nun schon wieder eine derart lange und scheinbar kontextferne Einleitung? Weil Regisseur, Drehbuchautor und Produzent Marco Koch in seinem ersten (und bislang einzigen) Kurzspielfilm DIE WILDKATZEN VON ST. PAULI eine originelle, virtuose und letztlich reichlich groteske Variation dieses uralten Topos bietet, der über die Jahrtausende Frauenfiguren wie Undine, Loreley, Sirene, oder die femme fatale des film noir hervorgebracht hat, - und deshalb möglicherweise auch nicht lange überleben würde, würden irgendwelche feministische Aktivisten oder Aktivistinnen ihn in ihre entrüsteten Finger kriegen. Zugegeben, der Vorspann hat mich weniger an Waterhouse, #metoo oder Nymphen, Sirenen, Loreleien, sondern an den wohl mit Abstand grausigsten Hamburg-Film denken lassen, den ich jemals gesehen habe: Timo Roses REEPERBAHN, noch immer ein Tuch so rot für mich, dass man es für ein Gemälde von Barnett Newman ausgeben könnte. Hier wie dort erklingt zum Auftakt ziemlich uninspirierter Muzak aus der Konserve, während die Kamera aus einem fahrenden Auto heraus Kiez-Impressionen einfängt. Zusätzlich werden die Nachtclubfassaden, Straßenlaternen, umherstreifenden Passanten bei Koch von einem reichlich manierierten Effekt entstellt, der sie sich in vertikalen, von rechts nach links den Bildkader entlangwandernden Streifen spiegeln lässt. Schon gleich die erste Szene nach dieser unerfreulichen Exposition hat mich allerdings nicht nur gnädig gestimmt, sondern auch eine der Stärken von Kochs Inszenierung enthüllt: Ein vorlauter Gast wird vom Türsteher einer zwielichtigen Bar (offenbar Koch selbst in einem Cameo-Auftritt) am Kragen auf den Bürgersteig befördert, wo er sich erst einmal mit wüsten Beschimpfungen Luft macht. Eine Gruppe von drei Männern, die auf das schummrige Etablissement zusteuert, findet das weniger witzig als ich, und stopft dem Schreihals im wahrsten Wortsinne den Mund mit energischen Fußtritten. Gewalt ist in DIE WILDKATZEN VON ST. PAULI stets eine jäh aufflammende Umkehr vermeintlicher Ordnungssysteme, so plötzlich wie grundlos. Eben noch kannst Du vor einer schmierigen Theke über Deinem Bier sitzen, im nächsten Moment liegst Du im Reeperbahn-Kehricht, und Schuhspitzen prasseln auf Dich ein. Gerade durch ihre unmotivierte Plötzlichkeit erhält die Gewalt aber eine eindeutig überzeichnete Note. Die eigentliche Agenda ist aber nicht Kochs Vorliebe für surreale Gewaltexplosionen beweisen - (obwohl der Regisseur freilich exzessiv auslebt) -, sondern die schon im Titel zum Ausdruck kommende Dichotomie zwischen fixen und fluiden Geschlechterrollenbildern: Wildkatzen, das sind eine Mischung aus Miezen, mit denen man sich besser nicht anlegt, sowie zutraulichen Schmusetigern, und St. Pauli, das ist ein Sinnbild für den Warencharakter von Sexualität, und Frauen, die diese für Geld an den Mann bringen, und unter Kochs Regie zusammengebracht, entsteht ein Bild wie das, das die Hylas-Nymphen bei Waterhouse abgeben: Einerseits reduziert auf ihre primären und sekundären Geschlechtsteile, und andererseits gerade durch diese taktische Selbst-Reduktion am Ende das bekommend, was sie wollen, nämlich einen hübschen Jüngling, den sie für immer in sein nasses Grab zerren können.
Bei wem handelt es sich denn nun eigentlich bei dem tretfreudigen Trio, das unsere nominellen Hauptdarsteller und Identifikationsfiguren stellt? Der gerne in extravaganten Hemden und unter auffälligen Hüten herumstolzierende Frank ist Wortführer der unheilvollen Trias, und unterhält seine Truppe am liebsten mit Räuberpistolen wie die über einen gewissen Nagel-Ralle, der so heiße, weil er seinen zu Klump geprügelten Feinden mit Vorliebe rostige Nägel in die Harnröhre einführe. Hannes lacht pflichtschuldig zum noch miserabelsten Witz des Leitwolfs, und zeichnet sich ansonsten durch ein eher einfältiges Gemüt aus, dessen runtergeschraubte kognitive Leistung allerdings durch einen gesteigerten Sexualtrieb kompensiert wird. Drittes Rad am Wagen ist schließlich der effeminierte blonde Jüngling Jörn, der sich nicht nur dadurch, dass er, wie ihm Frank und Hannes ständig unter die Nase reiben müssen, auf das eigene Geschlecht steht, sondern auch in seinem sonstigen introvertierten Verhalten deutlich von den Prahler- und Prollereien seiner Bandenbrüder abgrenzt. Was unsere Helden in die Sitzecke einer wenig frequentierten Hamburger Kiez-Bar verschlägt, ist ein McGuffin par excellence in Gestalt eines schwarzen Koffers, zum Empfang bestimmt für Nagel-Ralle. Da der Gangsterboss mit dem Nagel-Fetisch jedoch auf sich warten lässt, vertreiben sich Frank und Hannes die Zeit damit, ihre Augen auf zwei anwesende Frauen zu werfen, die ihnen sogleich suggerieren, dass sie einem unverbindlichen Techtelmechtel nicht abgeneigt sind. Auch der zurückhaltende Jörn bekommt, obwohl er sich an seinem Bier festklammert, alsbald Besuch von einer dritten Raubkatze, die ihm mit ihren Verführungskunststückchen zusetzt.
Die drei Damen – Lina, Karine und Miranda – stellen die Widerparte unserer Ganoven dar, und verkörpern auf den ersten Blick eine plakativere Variante des Frauentyps, den auch John William Waterhouse so gerne unter seinen Pinsel entstehen ließ. Lasziv-verführerisch hüllen sie sich in eine demonstrativ nach außen getragene Sexualität, die sie zu wandelnden (Männer-)Mythen auf zwei Beinen macht. Im Lager der Bar erliegt zuerst Frank in einer überraschend expliziten Sexszene den Reizen Linas. Just als diese ihre Lust an dem Wüstling gestillt hat, ist schon Miranda zur Stelle, um ihrerseits Frank hinterrücks mit einem Messer zu penetrieren. Nicht nur den Konnex zwischen Sexualität und Tod, der (gefühlt) die Hälfte der Kunst des neunzehnten Jahrhunderts durchweht, wird von Koch intelligent (und erneut sehr explizit) verhandelt, wenn Lina und Frank zeitgleich zum Orgasmus kommen – jene allerdings auf konventionelle Art, während sich bei ihrem männlichen Gegenüber die Lebensenergie in Form von Bluttropfen entlädt, die der ekstatisch hechelnden Wildkatze auf die blanken Brüste rieseln. Mirandas Reaktion indes ist weniger orgiastisch, sondern reserviert, wenn nicht sogar erschüttert über die eigene Tat. Während Waterhouse seine Nymphen allesamt mit dem gleichen unschuldig, kindlich wirkenden Gesichtsausdruck ausstattet, hat Koch für seine Wildkatzen eine wesentlich differenziertere Palette an Emotionen bereitgestellt. In Mirandas Reserviertheit dem verübten Mord gegenüber und Linas Gottesanbeterinnen-Attitüde, die den sein Leben aus-hauchenden Mann als reines Stimulans konsumiert, spiegeln sich letztlich zwei feminin konnotierte Topoi, die in den einschlägigen Diskursen oft und gerne in Hand gehen, und die am pointiertesten vielleicht in dem Begriff der Kindhexe gebündelt sind.
Eine solche Kindhexe, nämlich Undine, die Friedrich de la Motte Fouqué in seiner gleichnamigen Erzählung 1811 als ein Wesen zeichnet, das ständig zwischen den Welten balanciert – derjenigen zwischen christlicher Menschenwelt und heidnischer Elementargeisterwelt, derjenigen zwischen infantiler Naivität und erwachsener Sexualität, derjenigen zwischen kindlich-unschuldigen und dämonisch-teuflischen Zügen –, stand offenbar als mythischer Bezugspol Pate für eine der eigenwilligsten Szenen von Kochs Films. Jörn, dem Karine inzwischen seinen Drink mit bewusstseinsverändernden Substanzen versetzt hat, taumelt wie von Sinnen aufs Männerklo. Während er sich noch die Seele aus dem Leib reihert, findet Linas Stöckelschuhabsatz seinen Hinterkopf, und ertränkt ihn im eigenen Erbrochenen. Sirenen- und Lorelei-Gesang hat sich für den homosexuellen Mann in eine widerwillig zugeführte Droge verwandelt, die ihn zwar in einer ähnlichen Pose wie Waterhouse’ Hylas vor eine Quelle führt – die Pfütze am Grund der Toilettenschüssel -, doch während Hylas von den Nymphen erst sanft, dann mit zunehmender Heftigkeit in die Tiefe gezogen wird, erhält Jörn seinen todbringenden Druck von außen. Dieser wird wohlgemerkt – analog zu dem Messer, das Frank sich kurz zuvor eingefangen hat – von einem Objekt ausgeübt, in dem die Psychoanalyse klassischerweise ein Surrogat des männlichen Penis erkennt. Endgültig entpuppen sich Kochs Najaden als Zwitterwesen, wenn nicht sogar verkappte Mannsbilder, die gängige Gender-Zuschreibungen auf den Kopf stellen, wenn Hannes beim Befummeln von Karine statt einer Vagina einen Penis zwischen ihren Beinen entdeckt. Vor Schreck auf die Toilette fliehend, erwartet ihn dort die dritte Phallus-Waffe aus dem geschlechtertranszendiernden Spektrum der Kiez-Wildkatzen. Nichts anderes als eine Klobürste wird dem armen Mann oral (!) eingeführt, bevor er röchelnd und blutsspuckend zu Füßen der drei Frauen verscheidet.
Nachdem klargeworden ist, dass die Grazien es auf den Koffer (voller Geld) abgesehen haben, und dass sie offenbar schon seit Längerem ihren Lebenssinn darin sehen, Nagel-Ralle seine Geschäfte zu vermiesen, filmt Koch sie auf dem Rücksitz eines Taxis. Lina schnüffelt an den Scheinen. Karine freut sich darüber, von den ergaunerten Kohlen nun endlich ihre Geschlechts-OP finanzieren zu können. Miranda wirkt noch immer etwas zerknirscht, nahezu schockiert von den eigenen freigesetzten destruktiven Energien. In einem Bild fasst Koch also noch einmal sämtliche drei Gender-Konzepte zusammen, die seine (Anti-)Heldinnen psychologisch strukturieren: Miranda mit ihren Gewissensbissen, ihrer Verzagtheit, ihrer Reue über die begangenen Untaten als Ausdruck eines Geschlechts, das zu schwach ist, die fixen Gesetze des Patriarchats ohne schlechtes Gewissen zu überschreiten. Lina mit ihrer unverfrorenen Begeisterung, ihrer Selbstbeweihräucherung, ihrer diabolischen Feier-laune als Ausdruck eines Weiblichen, in dessen Schambereich ein satanisches Prinzip nistet, zu dessen Bändigung überhaupt erst jene fixen Gesetze aufgestellt worden sind. Karine mit ihrer stillen Freude darüber, ihr biologisches Geschlecht mit ihrem sozialen Geschlecht in Übereinstimmung bringen zu können, als Schnittstelle zwischen beiden. In einem Bild kommt synchron zusammen, was bei Waterhouse noch diachron gedacht ist. Jemand, der die Geschichte um Hylas nicht kennt - und offenbar sind das nicht wenige Kommentatoren der damaligen Kontroverse gewesen -, könnte das Gemälde wirklich wie ein wahr- und feuchtgewordener Männertraum erscheinen: Ein Harem voller Teichnixen, die sich im nächsten Moment, nur einen Pinselstrich später, mit dem Knaben in einer Gruppensexorgie vergnügen werden. Wer die Geschichte indes kennt - und bei Waterhouse' zeitgenössischen Rezipienten aus der kulturellen Elite dürfte dies vorausgesetzt sein -, der weiß, dass sich bei besagter Gruppensexorgie nur eine Partei wirklich verlustieren, und dass für Hylas sein Orgasmus mit dem eigenen Tod zusammenfallen wird. Bei Koch indes existieren in paralleler Heterogenität nebeneinander: Frauen mit Penis, Frauen mit Perücken, Frauen, die widerwillig Männer töten, Frauen, in die sich sterbende Männer ergießen, Frauen, die ihre Reize einsetzen, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Aber auch: Männer, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung stigmatisiert sind, Männer, die ihre Geilheit in den Tod führt, Männer, die andere Männer im Genitalbereich verstümmeln, um ihre Macht zu demonstrieren, Männer, die Frauen als reine Lustobjekte betrachten. DIE WILDKATZEN VON ST. PAULI ist ein Panorama an Klischees und deren Unterminierungen, und zwar betrachtet durch eine Nostalgie-Brille, der bei Waterhouse der Rückbezug auf die antike Mythologie entspricht, und bei Koch ein exploitatives, juveniles, grindhousiges Kino der Vergangenheit.
Für eine kleine Independent-Produktion, deren Budget überschaubar gewesen sein dürfte, sind die schauspielerischen Leistungen, die Kameraführung, die an Griffith geschulte Parallelmontage, die zugleich farbenfrohe und doch düstere Optik, die Spezialeffekte auf einem ordentlichen Niveau. Für eine kleine Independent-Produktion, die an der Oberfläche so tut, als sei sie eine bloße Hommage an das Bahnhofskino der 70er Jahre, vollgestopft mit Genre-Zitaten und -Versatzstücken, ist die Bandbreite an Gender-Thematiken, und die Art und Weise, wie sie angerissen, problematisiert, ausdiskutiert werden, schlicht brillant.