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Al-Mummia - Chadi Abdel Salam (1969)

Verfasst: Fr 30. Mai 2014, 11:18
von Salvatore Baccaro
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Originaltitel: Al-Mummia

Regie: Chadi Abdel Salam

Entstehungsland: Ägypten 1969

Darsteller: Ahmed Marei, Ahmad Hegazi, Zouzou Hamdy El-Hakim, Nadia Lutfi, Abdelazim Abdelhack, Abdelmonen Aboulfoutouh, Ahmad Anan, Gaby Karraz, Mohamed Khairi, Mohamed Morshed

Ägypten 1881: Nach dem Tod seines Vaters werden Wannis und sein Bruder, Angehörige des Stamms der Horbat, der sich der Moderne verschließt und ein Leben wie in archaischer Zeit führt, mit der Tatsache konfrontiert, dass ihr Erzeuger sowie die gesamten Stammesältesten in großangelegte Grabschändungen involviert sind, die letztlich dem Stamm sein Überleben sichern. Opfer der Diebstähle sind mit Prunkgegenständen gefüllte, von den westlichen Machthabern noch unentdeckte Pharaonengräber in den Bergen, aus denen man von Zeit zu Zeit, und das schon seit einer Ewigkeit, einzelne Kostbarkeiten entwendet, um sie einem zwielichtigen Händel zu verkaufen, der sie wiederum nach Kairo schafft und dort gewinnbringend weiterverschachert. Für die Stammesältesten hat es den Nimbus einer Initiation, die beiden jungen Männer in dieses Geheimnis einzuweihen: sie gehen davon aus, dass die Geschwister ohne zu murren in die Fußstapfen ihres Vaters und ihrer Großväter treten werden. Die Enttäuschung folgt indes sofort, denn vor allem Wannis ist es, der diese Wahrheit als eine schreckliche empfindet, als ein Sakrileg an den toten Körpern, eine moralisch verwerfliche Ausbeutung der Vergangenheit ihrer Heimat. Das Unheil, das er mit seiner Weigerung, an den Räubereien zu partizipieren, selbst wenn das den Reichtum des Stammes kosten sollte, herbeiruft, ahnt er allerdings nicht. Nachdem er von der eigenen Mutter, schließlich vom Reststamm verstoßen, endlich sein Bruder, der sich auf seine Seite gestellt hat, von Unbekannten ermordet worden ist, wandert Wannis im Halbdelirium durch die Landschaft und wird mit unterschiedlichen Gestalten konfrontiert: einem habgierigen Helfershelfer des Grabbeigabenhändlers, der wittert, dass Wannis den Ort der Schätze kennt und diesen zu seinem eigenen Vorteil aus ihm herauszulocken versucht, einem namenlosen Fremden, der ohne Geschichte, ohne Zukunft in die entlegene Gegend verschlagen worden scheint und nicht zuletzt einem aus Kairo angereisten Archäologen, der die Spur der Reliquien verfolgt, die in der Hauptstadt in letzter Zeit vermehrt aufgetaucht sind, und zu Recht vermutet, irgendwo in diesen Bergen müsse ein gigantisches Arsenal von ihnen versteckt sein…

Schon lange habe ich keinen derart hypnotischen, einlullenden, entrückenden Film mehr gesehen wie AL-MUMMIA des ägyptischen Regisseurs Chadi Abdel Salam, der, bis auf einen späteren Kurzfilm, der Nachwelt tatsächlich nur dieses eine Werk hinterlassen zu haben scheint. Man stelle sich Andrej Tarkowskij oder Carl Theodor Dreyer im ägyptischen Hinterland vor, mit Turban und Wüstensand in den Haaren und bekommt vielleicht schon eine ungefähre Ahnung von technischer Machart und elegischem Tempo des Films, der sich alle Zeit der Welt lässt, seine im Prinzip gar nicht allzu komplexe Geschichte zu entfalten, und sie mittels seiner mystisch angehauchten Inszenierung dann doch erfolgreich zu verrätseln. Ein weiterer Film, zu dem mir sofort Assoziation in den Kopf geschossen sind, wäre Kubricks 2001, was mich selbst umso mehr verwundert, da der eine ja in die ferne Zukunft weist und von dem berichtet, was möglicherweise kommen wird, während AL-MUMMIA sich von einer Vergangenheit in die andere versenkt, vom Kairo des Jahres 1881 in die vorzeitlichen Gebräuche des Horbat-Stammes und von dort aus ins Zeitalter der frühen Hochkulturen. Was beide Werke jedoch eint, das ist einmal mehr die schwer zu fassende, sphärische Atmosphäre, die sie durchzieht, und die vielen Bestandteile, die eine solche hervorrufen wie die eben schon erwähnte unendlich langsame Erzählgeschwindigkeit, manche Szene, die nichts erklärt und als interpretationswürdiger Monolith im Raum stehen bleibt, eine ergreifende Melancholie, die unter den zeitlos wirkenden, majestätischen Bildern pocht, sowie ein eindringliches Soundgewand, das im Fall von AL-MUMMIA – und das erinnert dann wiederum an Filme wie Lynchs ERASERHEAD – aus nichts anderem als bedrohlichen, beklemmenden Ambient-Brummen besteht. Dass der Film augenscheinlich einzig bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang gedreht worden ist, tut sein Übriges für eine schlafwandlerische Stimmung, aus der einen das Ende, bei dem ich an den grandiosen Anfang von Herzogs AGUIRRE denken musste, wie eine wachrüttelnde Hand reißt. Mehr will ich über AL-MUMMIA gar nicht schreiben, ist es doch einer der Filme, bei denen Worte eigentlich versagen müssen, verschwistert mit spirituellen Erlebnissen wie Dreyers ORDET, mit dem er den Eindruck teilt, man wohne einem Hybrid aus Spielfilm und Theaterstück bei, oder Tarkowskijs STALKER, mit dem er den Eindruck teilt, man warte die ganze Zeit auf etwas Schlimmes, das dann doch nie eintrifft, was es umso schlimmer macht.

Es gibt da eine Photographie des französischen Photographen Félix Bonfils (1831-1885), der sich lange Zeit im Mittleren Osten aufgehalten, und mir von dort eins meiner liebsten Bilder mitgebracht hat, die Aufnahme eines Mumienhändlers, der neben seiner feilgebotenen Ware ein Nickerchen hält. AL-MUMMIA, scheint es, und damit verwickelt die Kunst mal wieder alles ineinander und knotet es fest zusammen, liefert mir zu diesem Unbekannten auf einmal eine bewegende, merkwürdige Geschichte…

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