Ein Mann und eine Frau sind mit ihren Kindern, Junge und Mädchen, aufs Land gefahren, um den Sonntag im Schatten einer öden Felslandschaft zu verbringen. Der Nachwuchs möchte noch einmal kurz die Felsformationen erklimmen und lässt die Eltern wartend im Auto zurück. Beide nutzen sie die Gunst der Stunde. Schon viel zu lange, beklagt sich Felix, der männliche Part des Paares, bei seiner Angetrauten Sol, liege ihr letzter Intimkontakt zurück. Erst sträubt sich Sol. Sie sei müde, sagt sie, und habe Kopfschmerzen. Doch Felix versteht es, sie mit Geschichten aus seiner Kindheit anzuregen. Er erzählt vom ersten Mal, dass ein Mädchen ihm sein Geschlechtsorgan gezeigt habe, und wie es gerochen, wie es sich angefühlt hat. Dabei schiebt sich seine Hand näher und näher an das seiner Ehefrau. Sol lässt sich betasten, wird feucht, schweift selbst unter Stöhnen ab in ihre Vergangenheit und ihre ersten sexuellen Kontakte mit Jungs. Während dieser langen Dialogszene, in der wir das, worum sie sich dreht, nämlich die Geschlechtsteile unserer Protagonisten, freilich kein bisschen zu Gesicht bekommen, sind immer wieder scheinbar zusammenhanglos Aufnahmen von Sara und Adolfo eingestreut, den Kindern, wie sie zu einer Felshöhle hinaufsteigen. Sara hat übrigens wenige Stunden zuvor ihre erste Periode gehabt. Die Höhle sieht übrigens aus wie eine klaffende Vulva, mit den sie umlagernden Felsbrocken als gespreizten Beinen. Die Schnitte werden schneller, die Kinder verschwinden im Schwarz, Sol und Felix kommen, am Fuße des Hügels, ihrem Höhepunkt entgegen. Anhaltend ist ihr Hochgefühl indes nicht. Bald liegen die Nerven blank: Sara und Adolfo kehren nicht zum Auto zurück, sind spurlos verschwunden. Erst am nächsten Morgen werden sie aufgefunden, verstört und apathisch, nach einer Nacht in der Höhle...
In vielerlei Hinsicht kann man diese großartige, relativ am Anfang des mexikanischen Films AHÍ VA EL DIABLO von 2012 stehende Szene als symptomatisch für die restlichen knapp neunzig Minuten seiner Laufzeit erachten. Nahezu sämtliche Makel und Vorzüge dieses Werks, mit dem der 1980 in Madrid geborene Adrián García Bogliano sich nach einer ansehnlichen Reihe von mir allerdings komplett unbekannten Kurz- und Langfilmen einem breiteren Publikum vorstellt, sind, meine ich, schon in den etwa fünf bis sechs Minuten vereint, mit denen AHÍ VA EL DIABLO beginnt, das vorgebliche Familienidyll seiner Helden zu zersetzen.
Bogliano scheint eine besondere Vorliebe für Allegorien und Symbole zu haben. Die Höhle, die, wie wir später herausfinden werden, das gesamte Unglück in sich birgt, mit dem unsere Helden konfrontiert werden sollen, ist, wie bereits erwähnt, eine nicht im Geringsten verschleierte Vagina. Dass die Kinder – von denen eins kurz zuvor, wie man sagt, zur Frau geworden ist und ein Paar blutbefleckter Unterhosen produziert hat – mit dem Betreten der Höhle im wahrsten Sinne des Wortes ihre Unschuld verlieren und in den Bannkreis der Sexualität geraten, wäre wohl jedem Zuschauer allein durch Schnitt und Aussehen besagter Höhle klargeworden, selbst wenn Bogliano diese Szenen nicht zwischen die der Eltern gemengt hätte, die, nach einer offenkundig abstinenten Phase, relativ abrupt und heftig ihre Leidenschaft füreinander wiederentdecken. Dennoch wirkt diese Synchronisierung von Ereignissen, die im Prinzip die gleiche Aussage treffen, für mich nicht überkomponiert. Im Gegenteil erweckt es bei mir den Eindruck, dass Bogliano trotz der Unmissverständlichkeit seiner Symbolismen mit diesen niemals auf eine allzu übertriebene Weise hausieren geht. Dies liegt, glaube ich, an einer weiteren fundamentalen Stärke von AHÍ VA EL DIABLO.
Obwohl der Film nämlich nicht wenig und vor allem mit voranschreitender Laufzeit gerne in gleichnishaften Bildern schwelgt, die bewusst so komponiert sind, dass sie dem Zuschauer, neben ihrer rein inhaltlichen, storyorientierten Komponente, einen visuellen Kommentar, die psychologischen bzw., erneut im wahrsten Sinne des Wortes, okkulten Implikationen der jeweiligen Szenen betreffend, liefern, bleibt er doch in seinem Kern zumeist geerdet und realistisch. Während die Kinder, ähnlich wie weiland die von geheimnisvollen Mächten becircten Schulmädchen in Peter Weirs PICNIC AT HANGING ROCK, willenlos zur Höhle hinaufsteigen und in ihr versinken, und dies in einer entrückten, bedrohlichen, beinahe märchenhaften Stimmung geschieht, ist das verbale wie manuelle Treiben ihrer Eltern unten im Wagen ein Lehrstück darin, wie man Sexualität filmisch ohne falsche Scham und ohne falsche Glorifizierung inszenieren kann. Weder Sol noch Felix wirken, überwältigt von ihrer Geilheit, anders als zwei normale Menschen in zwei normalen Körpern mit normalen Gelüsten, die sich auf recht normale, sprich: ordinäre, Art gegenseitig zu erregen versuchen. Bogliano schneidet zunächst kaum, lässt den Dialog zwischen den Eltern sich entwickeln, ganz dicht bei seinen Charakteren. Sols und Felixs Sex ist nicht erotisch, nicht schmutzig, stattdessen zeigt Bogliano ihn so naturalistisch wie möglich.
Auch im weiteren Verlauf wird AHÍ VA EL DIABLO diesen grundlegenden Realismus ebenso wenig verlieren wie die immer wieder in die unsentimentale und uns daher vertraute Welt hereinbrechende symbolgeladene Phantastik. So bleiben Sols und Felixs Handlungen stets nachvollziehbar. Bogliano filmt sie beim Streiten, beim Duschen, beim Bangen um ihre Kinder, die nach der Höhlennacht mehr und mehr seltsame Verhaltensweisen an den Tag legen, und richtet die Kamera dabei fortwährend mit der gleichen Chronistenpflicht auf sie: er möchte offenbar nicht beschönigen, nichts überdramatisieren. Sol und Felix bleiben zwei ganz normale Menschen, die, ohne eigenes Verschulden, in Konflikt mit einer übersinnlichen Anomalie geraten. Demgegenüber stehen die rätselhaften Momente, die, wie gesagt, schleichend zunehmend bis sie ihren wohl effektivsten und spektakulärsten Ausdruck in einer Art Traum-, Rausch-, Halluzinations-Sequenz finden, die eine von Sol und Felix engagiertes Kindermädchen im Beisein von Alfredo und Sara durchleiden muss. Psychedelische Farben fressen sich durch die Bilder, heftige Schnitte lassen die Grenzen von Raum und Zeit verwischen, dass es eine wahre Lust ist und ein bisschen so wirkt wie die moderne Version von Träumen, Räuschen, Halluzinationen des 70er-Kinos von Italo-Regisseuren wie Sergio Martino oder Renato Polselli.
Überhaupt ist Bogliano diesem Goldenen Zeitalter des Exploitation-Films überaus verpflichtet, nur kehrt er seine Affinitäten niemals derart demonstrativ nach außen wie ein Quentin Tarantino oder das französische Regie-Duo Robin und Gaillard das getan hätten. Grund hierfür ist, meiner Meinung nach, erneut der realistische Ansatz, aus dem heraus Bogliano seine im Grunde unter positivistischer Perspektive kaum glaubhafte Geschichte erzählt. Über weite Strecke wirkt AHÍ VA EL DIABLO wie ein ernstes Drama über eine allmählich in die Dysfunktionalität abdriftende Familie. Wenn Bogliano seine Figuren dann aber in Bildkompositionen anordnet, die in keinem Italo-Western negativ auffallen würden – er mag es zum Beispiel, Gesichter weit im Vordergrund zu platzieren, sodass deren Blicke das Geschehen hinter ihnen kommentieren können, wo wir andere Figuren in etwas Distanz miteinander agieren sehen -, oder wenn er Nebencharaktere auf urbane Legenden anspielen lässt von Teufelserscheinungen und einst in der Gegend meuchelnden Serienkillern, oder wenn er, ohne seine Nüchternheit zu komprimieren, solche Szenen einstreut wie zwei blutüberströmte nackte Körper, die sich unter eine Dusche stellen, dann verhehlt Bogliano zwar kaum, wo seine subjektiven Präferenzen liegen, und dass der Look seines Films nicht zufällig an den irgendwelcher Grindhouse-Features aus den großen Tagen US-amerikanischer Autokinos erinnert – zugleich aber sind all diese Querverweise, Huldigungen oder Adaptionen dem Film mit einer Subtilität inkorporiert, dass man sie genauso leicht übersehen kann wie den manchmal äußerst stillen, feinen Humor, der für mich vor allem in zwei meiner liebsten Szenen zum Ausdruck kommt. Die sind zunächst einmal überhaupt nicht witzig, denn Sol und Felix bekommen Besuch von Sgt. Flores, der sie eines Verbrechens verdächtigt und sich bemüht, sie mittels falscher Aussagen zu überführen. Obwohl Laura Caro und Francisco Barreiro in ihrer Elternrolle eine außerordentlich gute Figur machen, stiehlt ihnen für mich doch Giancarlo Ruiz als ermittelnder Kommissar jedes Mal die Schau, wenn er das Bild betritt. Permanent flüsternd, so, als traue er sich kaum, seine Stimme zu heben, sich auf der Türschwelle immer nochmal Columbo-like umdrehend und eine letzte, entscheidende Nachfrage in den Raum werfend, eine Tasse Kaffee zwar annehmend, dann aber nicht aus ihr trinkend und ständig das, was er eigentlich meint, in ausufernden Monologen um den heißen Brei herum versteckend, ist er an sich alles andere als eine überzeichnete Figur, dadurch aber, dass Bogliano ihm zum einen zahllose Genre-Stereotypen verpasst, ihn dann jedoch ebenso ungekünstelt behandelt wie all seine übrigen Charaktere, explodiert für mich in Sgt. Flores eine unterschwellige Komik, die mir bei jeder seiner beiden großen Szenen ein breites Grinsen ins Gesicht zauberte – und das trotz des wirklich düsteren, harten, tabuthematischen Restfilms, bei dem es so gut wie nichts zum Lachen gibt.
Um meine Begeisterungswellen wenigstens zum Schluss ein bisschen im Sande verlaufen zu lassen, möchte ich doch noch den einen oder anderen Stilgriff Boglianos erwähnen, der mich nicht hat überzeugen können. Seine vielen motivationslosen Zooms beispielweise, die er zwar, wie ich las, in einem Interview als bewusst gewähltes ästhetisches Stilmittel verteidigt, mir aber irgendwann ziemlich auf die Nerven gegangen sind. Oder die Musik bzw. die generelle Tonspurgestaltung, bei der er es mit schaurigen Sounds für meinen Geschmack öfter über- als untertreibt. Oder die einzig nennenswerte, reichlich deplatzierte Splatterszene, die gut und gerne auch mit der Hälfte an Blutfontänen hätte auskommen dürfen, und haarscharf am Rande der Karikatur vorbeispritzt. Oder natürlich die Botschaft, die der Film, zumindest in meiner Interpretation, vermittelt: So kann man, wenn man tief genug gräbt, in AHÍ VA EL DIABLO ein erzkonservatives Herz pochen schlagen sehen, das Sexualität, sei sie nun eine homosexuelle, eine heterosexuelle oder eine frühkindliche, per se dem Satan zuschreibt. Zur Gänze im Einklang mit der christlich-jüdischen Sexualitätsfeindseligkeit, Leibesverachtung und Etablierung des Teufels als Antichrist, dem sämtliche physischen Attribute wie Sinnlichkeit und Ekstase angeheftet werden, zeichnet AHÍ VA EL DIABLO den Sündenfall einer Familie in ungezügelte Lust und Teufelskult. Wen das nicht stört und wer sowieso Mitglied in der örtlichen Freikirche ist, dem sei AHÍ VA EL DIABLO wärmstens als positives Beispiel dafür empfohlen, wie man auf intelligente Weise eine Kunstform der Vergangenheit in die Gegenwart überführen kann, ohne ei5nerseits zu sklavisch an ihr zu kleben und ohne sie andererseits zu sehr den vermeintlichen Bedürfnissen der Jetzt-Zeit zu unterwerfen.